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Ausbruch trotz eingehaltener Sicherheitsregeln: Wie die Öffentlichkeit über das Corona-Risiko in Schulen getäuscht wurde

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HAMBURG. Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat – mit fast einem Jahr Verspätung – eine Studie über einen großen Corona-Ausbruch in einer Schule veröffentlich. Obwohl alle damaligen Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden, steckten sich dabei 31 Schüler und zwei Mitglieder des pädagogischen Personals an. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD), als Sprecher der SPD-geführten Bildungsministerien bundesweit mit großem Einfluss, hielt die Ergebnisse der Untersuchung zurück – und behauptete weiter, die Schulen seien sicher. Die Affäre macht anschaulich, wie die Öffentlichkeit über das Infektionsrisiko in Bildungseinrichtungen getäuscht wurde. Und: In der aktuellen Debatte um die Maskenpflicht im Unterricht ergibt sich aus der Studie eine klare Empfehlung.

Vertuschungsaffäre: Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland. Foto: Michael Zapf / BSB

Am 19. November 2020 – sechs Tage vor dem Bund-Länder-Gipfel, bei dem über Wechselunterricht entschieden werden sollte – veranstaltete Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, Sprecher der SPD-geführten Bildungsministerien in Deutschland, eine denkwürdige Pressekonferenz. „Die Infektionsgefahr ist in den Schulen erheblich geringer als in der Freizeit“, so behauptete er darin und präsentierte angebliche Daten der Hamburger Bildungsbehörde, denen zufolge sich in den acht Wochen zwischen den Sommer- und Herbstferien 372 Mädchen und Jungen infiziert hätten. „Von ihnen haben 292 sich vermutlich gar nicht in der Schule infiziert“, meinte Rabe dazu. Das habe die genaue Prüfung eines jeden Falles ergeben.

Wissenschaftler waren nicht in die Erhebung einbezogen. Bei der Pressekonferenz (Tagesspiegel: Hamburger Zahlenspiele, um die Schulen offen zu halten“) verlor Rabe kein Wort über eine Studie, die von der Hamburger Gesundheitsbehörde zu einem Ausbruch an der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule in Auftrag gegeben hatte – und die die Infektionsgefahr an Schulen sehr wohl deutlich macht.

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Bei dem Ausbruch handelt es sich um das erste dokumentierte Superspreader-Event in einer deutschen Schule

Wie die Hamburger Gesundheitsbehörde am 22. Dezember mitteilte (genauer: auf die Anfrage eines Bürgers unter Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz mitteilen musste), geht aus der Studie hervor, dass die „Infektionen/Übertragungen in der Schule stattgefunden“ haben. Weiter heißt es: “Von den untersuchten und verwertbaren Proben ist eine hohe Anzahl von identischen Genomsequenzen identifiziert worden. Daher ist die überwiegende Mehrzahl der Übertragungen höchstwahrscheinlich auf eine einzige Infektionsquelle zurückzuführen. Die Möglichkeit, dass der Ausbruch aus unabhängigen Einträgen resultiert, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.“ Bedeutet also: Bei dem Ausbruch handelt es sich um das erste dokumentierte Superspreader-Event in einer deutschen Schule. Die Studie wurde nach Angaben der Autoren bereits Ende Oktober 2020 fertiggestellt.

Schon um weitere solcher Ausbrüche zu vermeiden, hätten Konsequenzen für den Schulbetrieb erfolgen müssen. Passiert ist aber – nichts. Rabe hielt die Studie, deren Ergebnisse ihm, wie er später zugab, bereits vor dem 19. November (also vor seiner Pressekonferenz) bekannt waren, zurück. Bis jetzt. In dieser Woche veröffentlichte die Gesundheitsbehörde den Abschlussbericht, ohne auf die fast einjährige Verspätung einzugehen. Offensichtlich sollte die Öffentlichkeit nicht über die Risiken informiert werden, die sich aus einem offenen Schulbetrieb ergeben. News4teachers berichtete mehrfach über die Affäre – hier etwa.

Und die Risiken werden in dem Bericht nur allzu deutlich. Darin ist von gleich zwei aufeinanderfolgenden „Super-Spreading-Ereignissen“ an der Heinrich-Hertz-Schule im September 2020 die Rede. „In dem Zeitfenster von vier Schultagen vor der verhängten Quarantäne steckten sich vermutlich 31 Schüler*innen und 2 pädagogische Mitarbeiter*innen innerhalb der Schule mit dem SARS-CoV-2 Virus des Ausbruchsclusters an. Drei Familienmitglieder betroffener Schüler*innen wurden in der Folge ebenfalls infiziert, wobei ein weiterer positiv getesteter Fall nicht eindeutig dem Ausbruch zugeordnet werden konnte und ausgeschlossen wurde. Es ließ sich ein Mitglied des pädagogischen Personals epidemiologisch durch genaue Fallrecherche und Ausschluss anderer potenzieller Indexpatienten als Primärfall ermitteln.“

Wie kann das sein? Alle verhängten Schutzmaßnahmen – von denen Rabe noch im November behauptete, sie seien ausreichend – waren in der Schule eingehalten worden. „Die Schulleitung, Personal und Schüler*innen haben sich an die damals geltenden Hygienevorschriften der Schule und der Stadt Hamburg gehalten. Auch der Primärfall hat alle geltenden Regeln eingehalten“, so heißt es ausdrücklich in dem Bericht.

Aber: Beim Ausbruch „begünstigte das zeitliche Zusammentreffen mehrerer negativer Einflussfaktoren die anfänglich überproportionale Übertragung des SARS-CoV-2 Virus: eine ansteckende sozial exponierte Person (A) vor Symptombeginn, fehlender Mundschutz bei den Schüler*innen und einer Lehrkraft (B) sowie beim Referieren des Primärfalles, lange Expositionszeiten, die Anwesenheit vieler Personen im Klassenraum mit partieller Unterschreitung der Mindestabstände bei z. T. nicht ausreichender Belüftung.“

“Eine Masken-Pflicht sollte aufrechterhalten werden, solange die Inzidenz und die Durchimpfungsrate keine Entspannung zulassen”

Eine Maskenpflicht im Unterricht gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht. Die halten die Autorinnen der Studie, Dr. med. Kirsten Bollongino, Leiterin des Gesundheitsamtes Nord, sowie die Virologin Dr. med. Sigrid Baumgarte, allerdings für notwendig – auch jetzt noch.

Sie schreiben in ihrem Fazit: „Eine Masken-Pflicht für alle innerhalb der Gebäude sollte aufrechterhalten werden, solange die Inzidenz und die Durchimpfungsrate keine Entspannung der Gesamtlage zulassen. Detaillierte Belüftungskonzepte mit kontrollierter Belüftung, entweder durch moderne raumlufttechnische Anlagen (RLT) oder bei Fensterbelüftung mit Festlegung von Belüftungsarten und -zeiten sowie Benennung von Zuständigen, sind erforderlich. Räume, in denen eine ausreichende Belüftung trotzdem nicht gewährleistet werden kann, sollten vorerst mit weniger Personen und/oder zeitlich begrenzt genutzt werden.“ Mittlerweile hat Rabe mobile Luftfilter – deren Sinn er noch im Sommer bestritt – für alle Hamburger Klassenräume bestellt.

Der Bildungssenator veranstaltete seine damalige Pressekonferenz sechs Tage vor der Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der Verdacht liegt nahe, dass Rabe damit den Ausgang beeinflussen wollte. Tatsächlich lehnten die Ministerpräsidenten dann auch den Wunsch von Merkel ab, den Schulbetrieb entsprechend der Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts einzuschränken und die Abstandsregel in den Klassenräumen beim Überschreiten eines Inzidenzwertes von 50 einzuführen. Wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am Tag danach erklärte, spielte beim Beschluss, die Kitas und Schulen weit offen zu lassen, das vermeintliche „Beispiel Hamburg“ eine wesentliche Rolle.

Der Hamburger Bildungssenator trat unmittelbar nach dem Bund-Länder-Gipfel als Architekt des Beschlusses in den ARD-Tagesthemen auf. Moderatorin Caren Miosga sagte: „Es gibt diverse Studien, die besagen, dass Kinder in den Schulen sehr infektiös sind, dass sie sich dort anstecken, und dass deswegen viel für Hybridunterricht spräche…“ Rabe entgegnete: „Wenn das so wäre, macht das schon Sinn. Wer aber genau hinguckt, der stellt fest, wir haben das in Hamburg gemacht, in anderen Bundesländern beginnt das jetzt auch, von fünf infizierten Schülerinnen und Schülern haben sich vier außerhalb der Schule infiziert. Offensichtlich ist es doch so, dass Schule ein Stück weit überschätzt wird in Bezug auf die Gefahren.“ „Wenn das so wäre…“ Die Studie, die genau das belegt und die ihm vorliegt, erwähnt er mit keinem Wort (hier geht es zu einer Aufzeichnung des Interviews).

Damit ist er in guter Gesellschaft: Auch die Kultusministerkonferenz hat Zwischenergebnisse einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie, die die hohe Wirksamkeit von Schulschließungen beschreibt, monatelang zurückgehalten, wie News4teachers berichtete. News4teachers

Hier geht es zum Abschlussbericht zum Ausbruch in der Hamburger Heinrich-Hertz-Schule.

Die KMK schweigt zum Skandal um vertuschte Studienergebnisse – und erklärt stattdessen die Schulen für sicher

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