BERLIN. Vor der Bundestagswahl trommelt eine Mediziner-Lobby lautstark gegen Corona-Schutzmaßnahmen: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) will einen „Freedom Day“, die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) fordern in einer gemeinsamen Stellungnahme, Kitas und Schulen «uneingeschränkt und unabhängig von der regionalen Inzidenz im Regelbetrieb» offen zu halten. Selbst mobile Luftfilter in Bildungseinrichtungen – in Praxen und Krankenhäusern zu Tausenden im Einsatz – werden von den Ärzte-Sprechern für unnötig erklärt.
Stets im Vorfeld wichtiger Entscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise machen Ärzteverbände mobil, ob vor den Ministerpräsidentenkonferenzen oder – wie unlängst – vor der Gesundheitsministerkonferenz, als über weichere Quarantänemaßnahmen für Schüler entschieden wurde: Sie fordern eine Lockerung des Gesundheitsschutzes. Auch jetzt, im Vorfeld der Bundestagswahl, machen die Lobby-Organisationen mit öffentlichkeitswirksamen Vorstößen von sich reden.
„Also braucht es jetzt eine klare Ansage der Politik: In sechs Wochen ist auch bei uns Freedom Day!”
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Andreas Gassen, hat gefordert, Ende Oktober alle Corona-Beschränkungen aufzuheben. „Nach den Erfahrungen aus Großbritannien sollten wir auch den Mut haben zu machen, was auf der Insel geklappt hat“, sagte er der der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Also braucht es jetzt eine klare Ansage der Politik: In sechs Wochen ist auch bei uns Freedom Day! Am 30. Oktober werden alle Beschränkungen aufgehoben!“
Das Datum gebe jedem, der wolle, genug Zeit, sich noch impfen zu lassen. Gassen berief sich bei seinem Vorstoß auf die Erfahrungen in Großbritannien, wo Premier Boris Johnson schon Mitte Juli die Pandemie-Eindämmung weitestgehend für beendet erklärt hatte. „Dort ist das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Das muss Mut machen, zumal das deutsche Gesundheitssystem deutlich leistungsfähiger als das britische ist und deutlich mehr Schwerkranke, die wir hoffentlich auch nicht haben werden, behandeln könnte“, erläuterte der KBV-Vorsitzende. Ohne die Ankündigung eines „Freiheitstages“ würde sich Deutschland endlos weiter durch die Pandemie schleppen.
Neue Stellungnahme von @DGPIeV und DGKH:
❌ Keine Luftfilter
❌ Keine regelmäßigen Tests
❌ Keine Masken in KlassenräumenTendenziös und im Widerspruch zu den Positionen von anderen Wissenschaftler:innen. 🧵 1/https://t.co/17GXPxLed8
— Michael Oberst (@miob1781) September 19, 2021
Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) sekundieren den Vorstoß mit Veröffentlichung einer 30-seitigen Stellungnahme, in der gefordert wird, dass Kitas und Schulen „unter der Beachtung von Basishygienemaßnahmen uneingeschränkt und unabhängig von der regionalen Inzidenz im Regelbetrieb geöffnet bleiben“. Dies gelte auch für alle anderen Bereiche des sozialen Lebens wie Jugendarbeit, Sportvereine, Musikschule und Schwimmkurse.
Auf Masken im Unterricht könne verzichtet werden. „Eine regelmäßige Testung asymptomatischer Kinder und Jugendlicher mittels Antigen- oder PCR-Tests oder Gruppentests mit der Lolly-Methode soll nicht erfolgen.“ Kinder, die sich solchen Tests unterziehen müssten, würden dadurch auch psychologisch grundsätzlich als „potenzielle Gefährder“ eingestuft, heißt es zur Begründung. „Falsch positive Antigen-Testergebnisse lösten eine Kaskade schwerwiegender Interventionen aus, die sich im Nachhinein als nutzlos erweisen.“
Warum sehen die Autoren keinen Nutzen von Tests? Werden dadurch nicht Infektionsketten unterbrochen? Verstehen lässt sich die Ablehnung von Tests wohl nur, wenn man bedenkt, dass die Autoren das Virus eh nicht für besonders gefährlich halten. 8/
— Michael Oberst (@miob1781) September 19, 2021
Auch mobile Luftfilter erklären die Mediziner-Verbände für unnötig. Zur Begründung heißt es: „Epidemiologische Studien, die einen tatsächlichen Reduktionseffekt von SARS-CoV-2-Infektionen durch den Einsatz mobiler Luftreinigungsgeräte belegen, liegen in der Literatur nicht vor.“ Wie auch? Es gibt ja kaum Studien in Deutschland, die seriös das Infektionsgeschehen beleuchten – geschweige denn Studien, die die Wirkung von nach wie vor kaum verbreiteten Luftfiltern bei Ausbrüchen in Schulen belegen. Es gibt allerdings sehr wohl Studien, die belegen, dass mobile Luftfilter wirkungsvoll möglicherweise Corona-belastete Aerosole aus der Atemluft filtern, wie News4teachers berichtet.
Dass Aerosole überhaupt eine Rolle bei Ansteckungen spielen, bezweifeln die Ärzteverbände allerdings – und stellen sich damit (auch) gegen das Robert-Koch-Institut. Das schreibt in seinem Corona-Steckbrief: „Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehen. Je nach Partikelgröße bzw. den physikalischen Eigenschaften unterscheidet man zwischen den größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend ist. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen.“ Die Ärzte glauben das besser zu wissen: „Die epidemiologischen Daten zum Infektionsgeschehen an Schulen lassen nicht erkennen, dass es zusätzlich zu der ohnehin sehr niedrigen Rate möglicher innerschulischer Übertragungen ein relevantes Risiko von Aerosolbasierten Fernübertragungen gibt.“
Dass es nur wenige „innerschulische Übertragungen“ gibt, wissen die Ärzte natürlich auch – im Gegensatz zu den Gesundheitsämtern, die die Kontakte bei einem stärkeren Infektionsgeschehen gar nicht mehr nachvollziehen. Die Medizinerverbände offenbar schon. Sie behaupten: „Die Mehrzahl aller Übertragungen von SARS-CoV-2 auf nicht geimpfte Kinder und Jugendliche findet im privaten Umfeld und nicht in Schulen oder Kitas statt, und Erwachsene übertragen das Virus häufiger auf Kinder als umgekehrt.“ Fazit der Ärzte: „Gemeinschaftseinrichtungen tragen in der jetzigen Situation (keine Lockdown-Maßnahmen mehr im öffentlichen und privaten Bereich) nicht wesentlich zur Gesamtausbreitung des Erregers in der Gruppe der nicht geimpften Kinder und Jugendlichen bei.“ Wissenschaftler kamen auch im Auftrag der Kultusministerkonferenz zu anderen Ergebnissen, wie News4teachers berichtete.
„Das Papier ist ein Plädoyer für unmittelbare Durchseuchung der Kinder (Erstmals, dass ich diese Begrifflichkeit wählen muss)”
Die Forderung eines „Freedom Days“ sowie die Stellungnahme von DGKH und DGPI hat scharfe Kritik hervorgerufen – auf Twitter werden auch Kinderärzte deutlich: „Ich kann diese Empfehlung der DGPI absolut nicht nachvollziehen! Es ist unsere kinderärztliche Pflicht, Kinder zu schützen vor einem Virus, das auch Kinder sehr krank machen kann! Kinderdurchseuchung ist eine ethische Bankrotterklärung“, schreibt etwa „Kinderdoc Nina“. „Ich hätte mir gewünscht, dass etwas anderes in dieser Stellungnahme steht! Ich habe nicht das Gefühl, dass die Fachgesellschaften mich derzeit in meinem tgl. Praxisalltag unterstützen“, so postet „Kinderdoktorin“.
Prof. Martin Kriegel, Aerosolforscher und Leiter des Leiter Hermann-Rietschel-Institut der TU Berlin, schreibt: „Das Papier ist ein Plädoyer für unmittelbare Durchseuchung der Kinder (Erstmals, dass ich diese Begrifflichkeit wählen muss). Ist man sich in der Medizin so sicher, was die Folgen sein werden?“
Die Virologin Prof. Dr. med. Isabella Eckerle, Leiterin der Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf, bezieht ebenfalls Stellung – spitz: „Ich liebe es, wenn Menschen, die sicher keine U12 Kinder haben, einem von oben herab erklären, dass man sich doch jetzt mal nicht so anstellen soll wegen dem bisschen PIMS, LongCovid & so. Sonst ist die Frage nach eigenen Kindern ja schon immer das Experten-Kriterium…“ Zum „Freedom Day“ schreibt sie: „Vollkommener Unsinn. Man kann das Ende einer Pandemie nicht terminieren, nur weil man die Eindämmung & Durchimpfung nicht schafft. Im Übrigen gibt es eine ganze Bevölkerungsgruppe, für die es noch gar keinen Impfschutz gibt: Alle Kinder U12. Ein Armutszeugnis.“
Nur fehlt mir in dieser Stellungnahme die wissenschaftliche Unvoreingenommenheit. Manches ist interessant und bedenkenswert, doch insgesamt ist die Argumentation tendenziös. Die Medien sollten das entsprechend einordnen und nicht unkritisch übernehmen. 31/
— Michael Oberst (@miob1781) September 19, 2021
Mittlerweile haben auch Verbände Stellung bezogen. Insbesondere der Vorschlag eines “Freedom Days” am 30. Oktober, bei dem alle Corona-Beschränkungen fallen sollen, stößt dabei auf Kritik. „Ich finde es nicht kollegial, solche zusätzlichen Belastungen einfach zu ignorieren, weil man das Maskentragen leid ist“, sagt die Vorsitzende des Marburger Bunds (ebenfalls eine Ärzte-Organisation), Dr. med. Susanne Johna, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Die Impfquote ist viel zu niedrig, um beispielsweise Maßnahmen wie die Maskenpflicht in Innenräumen aufzuheben.“
„In dieser Lage jetzt alle Gesundheitsschutzmaßnahmen an Schulen einzustellen, wäre nicht nur fahrlässig und verantwortungslos…”
Auch der Deutsche Lehrerverband lehnt ein Ende der Corona-Beschränkungen im Oktober deutlich ab – insbesondere in den Bildungseinrichtungen. „In dieser Lage jetzt alle Gesundheitsschutzmaßnahmen an Schulen einzustellen, wäre nicht nur fahrlässig und verantwortungslos, es würde angesichts der geringen Impfquote in dieser Alterskohorte und der hohen Infektiosität der Deltavariante der schnellen Durchseuchung der Schulen Tür und Tor öffnen“, sagt Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger ebenfalls dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Er gab zu bedenken, dass ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen bisher keine Möglichkeit hatte, sich impfen zu lassen. Für die 12- bis 17-Jährigen sei dies außerdem erst seit wenigen Wochen möglich. Meidinger erklärt, die Schulen hätten „mit einer heftigen vierten Welle mit Inzidenzen in dieser Altersgruppe von bis zu 800 zu kämpfen“. Es würde aktuell deutlich mehr Corona-Ausbrüche geben als bei den Infektionswellen zuvor. News4teachers / mit Material der dpa
Hier lässt sich die vollständige Stellungnahme von DPGI und DGKH herunterladen.
Infektiologe (gegen Kinderärzte-Verband): Corona an Schulen nicht einfach laufen lassen
