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Inzidenzen über 1000, massenhaft infizierte Kinder – und ignorante Politiker: Den Schulen droht ein zweiter Krisen-Winter

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BERLIN. Der Freistaat Thüringen hat vor vier Wochen praktisch sämtliche Corona-Schutzmaßnahmen in Schulen gestrichen – und erlebt seitdem, wie sich massenhaft Kinder und Jugendliche anstecken und das Infektionsgeschehen antreiben. Im benachbarten Bayern, wo vor drei Wochen die Maskenpflicht im Unterricht aufgehoben wurde, entwickelt sich die Situation ähnlich dynamisch. Baden-Württemberg scheint nachziehen zu wollen. Am Montag startet in zahlreichen Bundesländern, darunter auch dem bevölkerungsreichsten, NRW, wieder der Schulbetrieb nach den Herbstferien – beginnt damit jetzt ein Krisen-Winter für die Schulen, der dem letzten nicht nachsteht?  

Volle Fahrt voraus? Illustration: Shutterstock

Die Corona-Infektionszahlen bei Thüringer Schülern sind kurz vor den Herbstferien, die dort gestern begonnen haben, auf den höchsten Stand seit Beginn des Jahres geschossen. Das geht aus einem Bericht des Thüringer Landesamts für Verbraucherschutz mit Stand vom Mittwoch hervor, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Demnach stiegen die Sieben-Tage-Inzidenzen bei den 6-bis 17-Jährigen zuletzt auf jeweils klar über 300 und lagen damit weit höher als in anderen Altersgruppen, obwohl in Thüringen – anders als in allen anderen Bundesländern – Schülerinnen und Schüler seit einem Monat nicht mehr regelmäßig in der Schule getestet werden.

Die Eltern sollen mit ihnen zum Arzt gehen, wenn sie Symptome zeigen. Das allerdings geschieht offenbar massenhaft: Der Thüringer Kyffhäuserkreis weist einen Inzidenzwert von 1269 unter den Kindern und Jugendlichen auf – und liegt damit bundesweit an der traurigen Spitze.

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Die Durchseuchung der Schülerschaft hat augenscheinlich weitreichende Folgen: Das Corona-Infektionsgeschehen in Thüringen nimmt auch in den übrigen Altersgruppen weiter zu, sogar bei den Über-80-Jährigen. Das Robert Koch-Institut (RKI) wies die Gesamtinzidenz für den Freistaat am Freitag mit 192,7 aus – die höchste unter allen Bundesländern. Am Donnerstag hatte die Ansteckungsrate noch bei 172,2 gelegen.

Die Landesregierung von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) reagiert mit kosmetischen Maßnahmen – nach den jetzt begonnenen Herbstferien soll doch wieder in Schulen getestet werden, allerdings nur freiwillig – und versucht es darüber hinaus mit Leugnen des Offensichtlichen: Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (ebenfalls Linke) sprach sich wiederholt gegen eine Testpflicht an den Schulen des Freistaats aus und befand noch vor wenigen Tagen, dass aus den Schulen heraus die Infektionen nicht in die Bevölkerung getragen würden. Der MDR zitiert ihn mit den Worten: „Das zeigten wissenschaftliche Erkenntnisse. Wer anderes behauptet, verbreitet Hysterie.“

Wie diese Weltsicht vor Ort ankommt, illustriert das Beispiel der Stadt Jena. Dort sind nach Angaben der Verwaltung fast alle Schulen seit den Sommerferien von Corona-Infektionen betroffen gewesen. Derzeit müsse davon ausgegangen werden, dass in der Stadt 500 Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte in Quarantäne sind, hieß es bei einer Pressekonferenz der kommunalen Spitze in dieser Woche. Die Rede war dabei von „gigantischen Infektionswellen an den Schulen“.

“Das Pandemiemanagement wird von der Landesregierung durch stetige Realitätsverweigerungen ersetzt“

Die kommunalen Verantwortlichen zeigen sich nach eigenem Bekunden über Holters Aussagen schockiert. „Hinweise des Robert-Koch-Instituts zu Häufungen von Ausbruchsgeschehen in Schulen werden nicht nur negiert, die Expertise wird sogar als unwissenschaftlich herabgestuft. Darüber hinaus wird das Pandemiemanagement der Landesregierung weiter durch stetige Realitätsverweigerungen ersetzt“, so heißt es in einer Pressemitteilung der Stadt. Die Bemühungen Jenas um die freiwillige Weiterführung von Schultests sei vom Bildungsministerium sogar untersagt worden. „Noch vor wenigen Wochen wurde in Jena noch nicht einmal zugelassen, dass wir mit eigenen Mitteln ein flächendeckendes freiwilliges Testangebot in den Schulen sicherstellen, obwohl auch da schon ein großer Teil der Jenaer Schulen von Infektionsfällen betroffen war“, so empört sich Jenas Bürgermeister Christian Gerlitz (SPD).

Thüringen habe es „dank des massiv kritisierten Verzichts auf Tests in Schulen wieder auf Platz 1 geschafft“, schreibt Landtagsvizepräsidentin Dorothea Marx (SPD) auf Twitter. Sie greift Holter direkt an, in dem sie ein „Danke für Nichts“ sowie ein bitterböses Emoji hinterherschiebt und fragt, ob 3G in Thüringen für „Geimpft, genesen, gestorben“ stehe. Hintergrund: Schon jetzt verzeichnet Thüringen mit aktuell 210 Corona-Toten auf 100.000 Einwohner – nach Sachsen mit 253 – die zweithöchste Quote in Deutschland.

Droht ein solches Szenario jetzt bundesweit? In den Bundesländern, die sich trotz der prekären Infektionslage in Kitas und Schulen von Schutzmaßnahmen verabschieden, offenbar schon. In Baden-Württemberg wurde Anfang dieser Woche die Maskenpflicht im Unterricht gestrichen – trotz bereits jetzt hoher Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen.

Noch nie waren in Baden-Württemberg nach offiziellen Angaben mehr Zehn- bis 14-Jährige infiziert. Die Zahl der bestätigten Corona-Neuinfektionen unter Schülern hat einen neuen Höchstwert erreicht, so hieß es bereits vor zwei Wochen. Aktuell – Stand heute – liegen in zwei baden-württembergischen Kommunen die Inzidenzen unter Schülern (Fünf- bis 14-Jährige) bei Werten über 500, nämlich Baden-Baden (600) sowie der Landkreis Heidenheim (523).

„Corona in Bayern: Mutter fordert Wiedereinführung der Maskenpflicht im Unterricht“

Gab es bundesweit Anfang der Woche erst 13 Städte und Landkreise mit Horrorwerten über 500 unter Kindern und Jugendlichen, sind es nun, am Ende der Woche, 38. Hotspot ist neben Thüringen der Freistaat Bayern, wo die Maskenpflicht im Unterricht vor drei Wochen gestrichen wurde. Im Landkreis Straubing-Bogen wird aktuell eine Inzidenz von 1003 unter Fünf- bis 14-Jährigen registriert. Konsequenzen? Praktisch keine. „Corona in Bayern: Mutter fordert Wiedereinführung der Maskenpflicht im Unterricht“, so titelt allen Ernstes der „Merkur“ – eine Mutter allein.

Das bayerische Kultusministerium lässt die Forderung entsprechend kühl an sich abperlen. Ja, es gebe derzeit eine steigende Anzahl von Fällen an den Schulen, räumt es laut Bericht ein. Ob die Ansteckung aber wirklich im Unterricht passiere oder in der Freizeit und nur durch die stetigen Testungen in der Schule offenkundig würden, sei unklar, so heißt es. Die Durchseuchung der Kinder scheint kaum jemanden mehr zu stören.

Die Warnungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) auch nicht. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland hat heute erstmals seit Mitte Mai den Wert von 100 erreicht. Das RKI gab die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche am Samstagmorgen mit exakt 100,0 an. Zum Vergleich: Am Vortag hatte der Wert bei 95,1 gelegen, vor einer Woche bei 70,8. Die Zahl der vom RKI registrierten Schul-Ausbrüche ist sogar hoch wie nie – 243 pro Woche registrierte die Behörde bundesweit im September, für Oktober liegen noch nicht alle Zahlen vor.

Welches Chaos im Schulbetrieb mit einem Corona-Ausbruch verbunden ist, zeigt das Beispiel der Kooperativen Gesamtschule Herzog Ernst (KGS) in Gotha. Vergangene Woche teilte der Landkreis mit, dass sich das Infektionsgeschehen rasant an der Schule ausbreite – „seit heute auch mit dem Segen des Bildungsministeriums“, wie es bitter hieß. Minister Holter habe dem Landkreis das Einverständnis für die als zweckmäßig erachtete einwöchige Schließung der Schule verweigert. „Bis zu den Herbstferien hätten die Kinder und Jugendlichen per Distanzunterricht weiterlernen können; die KGS verfügt dafür über ausreichend mobile Endgeräte. In Kombination mit den Ferien wäre der Hotspot so ausgetrocknet worden, schätzt das Gesundheitsamt ein. Eine entsprechende Allgemeinverfügung wurde den Krisenstäben der beteiligten Ministerien am Donnerstag zur Abstimmung vorgelegt.“ Ergebnis: Abgelehnt.

Am Montagmorgen waren 43 Schülerinnen und Schüler sowie sieben Lehrkräfte der Einrichtung per PCR-Verfahren positiv auf den Erreger getestet worden. Wie der Gothaer Landrat Onno Eckert (SPD) dann am Montagnachmittag mitteilte, waren mittlerweile 85 positive Fälle an der Schule registriert worden. Knapp 500 Schüler und Lehrer waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Quarantäne. Der Landrat appellierte angesichts des Infektionsgeschehens an Schüler und Eltern zu Hause zu bleiben. Anweisen könne er das jedoch nicht. Wie Eckert mitteilte, waren am Montag ohnehin nur noch 200 der insgesamt 890 Schüler zum Unterricht in der Schule anwesend. Chaos im Schulbetrieb – statt dem politisch gewünschten Regelbetrieb.

„Wir stehen nicht viel besser da als 2020 um diese Zeit. Die Schulen werden wieder mit allem alleingelassen”

Dass Normalität in einer Pandemie nicht per ministerieller Verordnung herzustellen ist, schwant unterdessen dem Thüringer Lehrerverband. Er sieht einen Krisen-Winter heraufziehen. „Wir stehen nicht viel besser da als 2020 um diese Zeit. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler ist ungeimpft. Zu viele Erwachsene sind nach wie vor ungeimpft. Und die Schulen werden wieder mit allem alleingelassen“, so erklärt Verbandsvorsitzender Rolf Busch in einer Pressemitteilung.

Schlimmer noch, so betont er: „Uns beschleicht der Verdacht, dass die Landesregierung bewusst auf eine schnelle Durchseuchung der Schulen setzt, in der Hoffnung, dass dann Ruhe herrscht. Aber das ist fatal. Abgesehen davon, dass dabei die Gesundheit vieler Menschen vorsätzlich aufs Spiel gesetzt wird, entsteht ja auch durch die immer wieder notwendigen Quarantänemaßnahmen eine enorme Belastung für alle Beteiligten.“

Übrigens nicht nur das Coronavirus: „Die Infektwelle rollt, die Viren haben leichtes Spiel. Bedingt durch den Lockdown und die damit verbundene Isolation der Kinder von Gleichaltrigen hat das Immunsystem einen Teil seiner Abwehrkompetenz verloren. Zur Zeit drängeln sich daher in den Kinder- und Jugendarztpraxen Patienten mit Atemwegsinfekten“, so heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte. Winter is coming. News4teachers / mit Material der dpa

Schoppers Entscheidung, ein Fanal: Nie war deutlicher, wie egal Kinder sind

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