HANNOVER. Was bedeutet Gymnasiale Bildung für eine digitalisierte Welt? Der Philologenverband Niedersachsen hat sich mit der Grundsatzfrage beschäftigt – und eine Resolution verabschiedet, die zum Fazit kommt: Die Digitalisierung der Bildung darf kein Selbstzweck sein. Sie sei nur mit einer begleitenden Didaktisierung sinnvoll.
„Die letzten beiden Jahre der Pandemie durch Covid-19 haben gezeigt, dass die Digitalisierung voranschreiten muss und wir in Zeiten von Distanz- und Wechselunterricht auf digitale Medien und digitale Bildung angewiesen sind“, so stellen die Philologen fest. Dabei hat die Corona-Pandemie erheblich zur Beschleunigung des Einführungsprozesses in Schulen beigetragen. Ergebnis: „Die Digitalisierung hat und wird weiterhin einen großen Einfluss auf Unterricht und Schule nehmen. Das ist weder aufzuhalten noch wäre dies wünschenswert, da unsere Schülerinnen und Schüler sich später in einer immer stärker digitalisierten Welt zurechtfinden müssen. Es ist aber mitnichten so, dass die Welt eine digitale ist. Das war sie nie und das wird sie auch nicht sein.“ Stattdessen fordern die Philologen, „die Welt als Ganzes zusehen“.
Erst der Mensch habe angefangen die Welt zu digitalisieren. „Das auf Gottfried Wilhelm Leibniz beruhende Dualsystem ist Grundlage für die Digitalisierung der Welt. Wer allerdings meint, die Welt könne lediglich durch Nullen und Einsen abgebildet werden, der irrt. Leibniz´ fundamentaler Gedanke bestand im Einklang der Welt, ein ganzheitlicher Ansatz war für ihn selbstverständlich.‘„Die beste aller möglichen Welten ist nicht der derzeitige Zustand, sondern eine Welt mit Entwicklungspotenzial.‘ Und genau darum ging und geht es in der gymnasialen Bildung stets“, so erklären die Philologen. Diese sei ganzheitlich angelegt.
„Wem nützt eine digitalisierte Welt, wenn er keinen Blick auf die Kunst, Musik und Kultur entwickelt? Wem nützt eine Welt aus Nullen und Einsen, wenn er sich ohne Google-Translator in anderen Sprachen nicht ausdrücken und in anderen Kulturen nicht kommunizieren kann? Wem nützen digitale Medien, wenn die Orientierung im Zahlenraum bis 1000 nicht gelingt oder tradierte mathematische Sätze nicht mehr beherrscht werden? Wem nützt die Digitalisierung, wenn das menschliche Miteinander wie die Hilfestellung im Sportunterricht, die Freude am Experimentieren im naturwissenschaftlichen Unterricht oder die unteilbaren Erfahrungen, die mit Literatur und im Darstellenden Spiel nicht gemacht werden? Die Digitalisierung wird die Welt verändern. Sie ist aber weder das Nonplusultra, als das sie momentan gesehen wird, noch das Allheilmittel für fehlende Kompetenzen, Fertigkeiten und Fähigkeiten.“
Gymnasiale Bildung bleibe wissenschaftspropädeutisch und erkenntnistheoretisch geleitet. „Das wissenschaftspropädeutische Vorgehen ist das Kriterium für den gymnasialen Unterricht, denn dieser besteht aus so viel mehr als Null und Eins. Die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung müssen wir nutzen, denn wir unterrichten unsere Schülerinnen und Schüler ja nicht in einer Parallel-gesellschaft ohne Medien. Medienkompetenz von Lehrkräften und Lernenden wird in Zukunft eine erheblich größere Rolle als bisher spielen. Der Philologenverband hat sich der Digitalisierung nie verschlossen, ganz im Gegenteil: Unsere zahlreichen Stellungnahmen zum Informatikunterricht, zum Einsatz von Computer-Algebra-Systemen im MINT-Unterricht, zu den neugestalteten Kerncurricula in den naturwissenschaftlichen Fächern zeigen dies beeindruckend. Der Philologenverband Niedersachsen hat Stellung bezogen und mit konstruktiver Kritik an den vorgestellten Konzepten nicht gespart. Hier sind wir Korrektiv für Entwicklungen, die die Digitalisierung zu oft nur als Selbstzweck begreift.“
Die Digitalisierung, so stellt der Verband fest, könne nur mit sinnvoller Didaktisierung erfolgreich sein. „Die Digitalisierung ist Mittel zum Zweck, sie ist vor allem Medium und folglich Methode. Damit sie sich als echter Mehrwert für Unterricht, Bildung und Ausbildung erweist, muss sie sich dem Primat der Didaktik unterordnen. Die ersten Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Schulen unzureichend auf digitale Lehr- und Lernprozesse vorbereitet waren. Eine Übertragung analoger Unterrichtsaufgaben ins Netz stellt keine Verbesserung des Lernens und Verstehens dar. Der bloße Einsatz digitaler Medien als methodisches Equipment ist nicht hinreichend, um Lehr- und Lernprozesse zu gestalten und eine Lernprogression zu erzielen. Wie die Studie von John Hattie aufgezeigt hat, ist die Lernwirksamkeit digitaler Medien ohne didaktischen Zugriff äußerst gering. Außerdem verdeutlicht die von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK vorgelegte Stellungnahme, dass Lehrkräfte mehrheitlich kritisch gegenüber dem Einsatz digitaler Medien eingestellt sind.“
Um die Akzeptanz in der Lehrerschaft zu erhöhen, müssten digital unterstützte Unterrichtskonzepte eine hohe Lernwirksamkeit entfalten. „Die Didaktik des Lerninhalts muss – wie bei jedem anderen eingesetzten Medium auch – Vorrang haben, damit digitale Medien nicht zu einem weiteren Element des Methodenkarussells degradiert werden. Der Einsatz von digitalen Medien muss hinsichtlich der Lern-wirksamkeit evaluiert werden“, so heißt es.
Die Forderungen lauten: die Fort- und Weiterbildung für Lehrkräfte ausbauen – und: junge Lehrkräfte als Multiplikatoren digitaler Kompetenzen einzusetzen. „Die Basis für die Digitalisierung ist ein schneller Auf- und Ausbau einer digitalen Infrastruktur mit Breitbandanschlüssen. Eine demokratische Teilhabe aller gebietet, dies auf dem Land ebenso wie im städtischen Umfeld vorzuhalten. Neben der Ausstattung von Lehrkräften mit Dienstgeräten und einem gesetzlich einwandfreien geregelten Einsatz nach DSGVO müssen die Lehrkräfte auch befähigt werden, digitale Medien in Schule adäquat und im Unterricht didaktisch begründet einzusetzen. Diese Kompetenzen müssen ausgebildet werden. Dazu muss das Land ein Konzept „digitale Bildung – digitaler Unterricht“ entwickeln und Lehrkräfte danach fort- und weiterbilden.“
Weiter heißt es: „Um die Digitalisierung an den Schulen zu beschleunigen, werden Multiplikatoren für digitale Kompetenzen benötigt. Dies sind ohne Frage alle Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst, die in einer zunehmend digitalisierten Welt aufgewachsen sind. Die Kompetenzen dieser Lehrergeneration müssen jetzt in die Schulen, da dies einen wichtigen Digitalisierungsschub bedeuten würde. Daher sind alle Lehrkräfte nach einem erfolgreichen Vorbereitungsdienst in den niedersächsischen Schuldienst einzustellen.“ News4teachers
Die Vertreterversammlung des niedersächsischen Philologenverbands fordert im Wortlaut:
1. Landesweiter Ausbau einer digitalen Breitband-Infrastruktur (auch in der Fläche)
2. Unverzügliche Ausstattung der Lehrkräfte mit digitalen Endgeräten als Dienstrechner
3. Didaktische Konzepte für die Nutzung digitaler Medien entwickeln, prüfen und umsetzen
4. Den Einsatz digitaler Medien im Unterricht hinsichtlich der Lernwirksamkeit auswerten
5. Professionelle Fortbildungskonzepte und -angebote niederschwellig bereitstellen
6. Alle Lehrkräfte aus dem Vorbereitungsdienst als Multiplikatoren für eine gymnasiale Bil-dung in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft einstellen
