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KMK-Präsidentin Prien zur Demokratiebildung: “Es lohnt sich jeden Tag, die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen”

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BERLIN. Demokratiebildung? Ist in den Schulgesetzen aller Bundesländer verankert. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Haben Schulen angesichts des Lehrkräftemangels einerseits, Herausforderungen wie der Inklusion und der Integration andererseits, überhaupt noch Kapazitäten, um sich über den Fachunterricht hinaus mit der Demokratie zu beschäftigen? Wir haben dazu die KMK-Präsidentin, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) befragt.

“Ich bin mit elf Jahren zur Klassensprecherin gewählt worden”: KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU). Foto: Frank Peter / Land Schleswig-Holstein

News4teachers: Sie sind bereits als Schülerin der CDU beigetreten. Was hat Sie damals dazu bewogen, sich politisch zu engagieren und gab es in Ihrer Schulzeit bereits so etwas wie Demokratiebildung?

Karin Prien: Ich bin mit elf Jahren zur Klassensprecherin gewählt worden und ich war stolz darauf, mitgestalten und entscheiden zu können. Aber mir war sehr früh klar, dass man Mitstreiter braucht, um Dinge im Kleinen und Großen zu verbessern. Von Anfang an waren mir politisch Extreme rechts wie links suspekt. Ein pragmatisches, pro europäisches, antitotalitäres Politikangebot wie es die CDU seit den 80er Jahren vertritt, war für mich überzeugend. Und Demokratiebildung gab es durchaus in meiner Schule. Die Arbeit in der SV wurde schon gefördert.

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News4teachers: Studien zeigen, dass die Demokratiebildung in der Schule zu kurz kommt. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Demokratiekosmos Schule

Hier gibt es Materialien und Informationen zum Thema Demokratie: Das Projekt “Demokratiekosmos Schule” (DEKOS) soll Lehrkräfte insbesondere im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Situationen unterstützen – und zeigt dabei auch auf, wie den Phänomenen Antisemitimus und Rechtsextemismus in der pädagogischen Praxis begegnet werden kann.

Mit unterschiedlichen Formaten erhalten Lehrkräfte anwendungsorientiertes Know-how. DEKOS zeigt Wege auf, wie sie sich diesen Herausforderungen stellen und angemessen handeln können.

DEKOS, ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Bertelsmann Stiftung, wendet sich an Schulleitungen, Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen. Adressiert werden die siebte bis zur 13. Jahrgangsstufe. Da Diskriminierungen in allen Schulsituationen auftreten, betrifft das Thema alle Unterrichtsfächer. DEKOS ist auch geeignet, in Aus- und Fortbildungsbereichen eingesetzt zu werden.

Hier geht es zu den kostenlosen Materialien.

Karin Prien: „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss“, sagte der Sozialphilosoph Oskar Negt. Ich stimme ihm zu, Demokratie muss immer gelernt werden und will gelernt sein. Deshalb ist Demokratiebildung in der Schule unerlässlich. So können wir das demokratische Bewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern stärken, weiterentwickeln und festigen. Dies ist auch innerhalb der Länder unumstritten und deshalb hat die Demokratiebildung sehr wohl ihren Platz in den Schulen. Die Länder haben sich innerhalb der KMK auf eine noch stärkere Verankerung der Demokratie- und Menschenrechtsbildung in Unterricht und Schulalltag verständigt. Ausdruck dessen sind die Empfehlungen „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ und „Menschenrechtsbildung in der Schule.

In meinem Bundesland Schleswig-Holstein beispielsweise haben wir 2019 zum „Jahr der politischen Bildung“ an den Schulen gemacht, um Demokratie und Partizipation für Schülerinnen und Schüler in Angeboten und Projekten erlebbar zu machen. Auch politische Wettbewerbe wie Jugend debattiert, der im letzten Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feierte und bundesweit sowie in 34 anderen Ländern stattfindet, stärkt die Demokratiebildung, indem er Schülerinnen und Schülern ermöglicht, multiperspektivisch und sachlich zu debattieren und die eigene Meinung zu vertreten (vgl. Jugend debattiert – weil Kontroversen lohnen (jugend-debattiert.de)). Zudem ist Demokratiebildung eine Querschnittsaufgabe aller Fächer und wird auch als diese wahrgenommen.

News4teachers: Welche politischen Kompetenzen muss ein junger Mensch in der Schule mitbekommen?

Karin Prien: Die Schülerinnen und Schüler müssen in ihrem Engagement für den demokratischen Rechtsstaat und ihrem entschiedenen Eintreten gegen antidemokratische und menschenfeindliche Haltungen und Entwicklungen gestärkt werden. Das ist Aufgabe von Schul- und Unterrichtsentwicklung und Aufgabe aller Fächer sowie von außerschulischen Angeboten. Eine demokratische Schul- und Unterrichtsentwicklung manifestiert sich ebenfalls in der Schul- und Unterrichtskultur einer Schule sowie einer wertschätzenden und diversitätsbewussten Kommunikation innerhalb der Schule.

Dazu gehört beispielsweise, dass die Schülerinnen und Schüler die Funktion und die Arbeit von parlamentarischen Vertretungen kennen oder dass sie mittels bestimmter Projekte erfahren, welchen Wert es für sie persönlich hat, sich zu engagieren, sich vor Ort einzusetzen und so die eigene Umwelt mitzugestalten und wie wichtig die Stimme eines jeden Einzelnen bei einer Wahl ist.

All das konkretisiert sich in Schleswig-Holstein in den Fachanforderungen Wirtschaft/Politik. Zum Beispiel werden in der Sekundarstufe I im Themenbereich 3 „Politik betrifft uns“ thematische Schwerpunkte wie politische Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten, Wahlen sowie der politische Prozess behandelt. Diese und andere Themen werden in der Oberstufe weiter vertieft und mit Projekten wie z. B. der Juniorwahl praktisch unterstützt.

News4teachers:
Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem. Was können Schulen leisten, um dem entgegenzuwirken?

Karin Prien: In vielen unterschiedlichen Formaten erzählen und vermitteln, was jüdisches Leben bedeutet und wie vielfältig jüdisches Leben ist. Es ist ein Dreiklang aus Wissen vermitteln, Prävention und Erinnerungsarbeit. Hierzu gibt es eine entsprechende Empfehlung der KMK aus dem Jahr 2021 (hier geht es hin, d. Red.). Sie basiert auf dem Beschluss des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und der KMK und enthält Konkretisierungen und Leitlinien für den Umgang mit Antisemitismus im Unterricht wie im schulischen Alltag.

Beispiel: Antisemitische Vorfälle im schulischen Umfeld als solche benennen, aufklären und bekämpfen; gegenwärtiges jüdisches Leben im schulischen Rahmen zu thematisieren und Begegnungen mit Jüdinnen und Juden zu ermöglichen; eine intensivere Vermittlung von Kenntnissen zu Antisemitismus, Judentum und jüdischer Geschichte und Gegenwart in der Lehrerbildung oder ein Pilotprojekt zum Antisemitismus als Thema in der Lehrerbildung an Hochschulen als Modell entwickeln.

In Schleswig-Holstein gibt es seit dem Schuljahr 2018/19 die GEMON(Gewaltmonitoring)-Datenbank. Sie erhebt Gewaltvorkommnisse von Menschen gegenüber Menschen an den öffentlichen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen in SH, wertet diese aus und erfasst auch antisemitische Vorfälle.

Wir haben deshalb in Schleswig-Holstein die Antisemitismusprävention in den Fachanforderungen verankert, zum Beispiel in den Fachanforderungen Geschichte. Bereits in der Sekundarstufe I wird als verpflichtendes Thema „Deutschland 1918 – 1945: Zwischen Demokratie und Diktatur, internationaler Verständigung und Verbrechen“ behandelt. Weiter vertieft werden die erlangten Kompetenzen im zweiten Jahr der Qualifikationsphase. Hier wird unter dem Thema „Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme“ durch problematisierende Fragestellungen der Holocaust thematisiert. In Kürze erscheint auch ein neuer Leitfaden Judentum / Antisemitismus für die Sekundarstufe I und II, es gibt ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte, die in Yad Vashem ausgebildet werden – viele Länder haben bereits hierzu eine Kooperationsvereinbarung –, es gibt Zeitzeugenbesuche an Schulen und Angebote von jüdischen Gemeinden, die in Schulen gehen oder Klassen in die Synagogen und Gemeindezentren einladen.

News4teachers: Für wie gravierend halten Sie den Rechtsextremismus unter jungen Menschen?

“Rechtsextreme Einstellungen sind bei den Jugendlichen verbreiteter als linksextreme oder islamistische Einstellungen”

Karin Prien: Im Rahmen der Jugendstudie „Jugendliche Perspektiven auf Politik, Religion und Gemeinschaft“, die vom BMBF gefördert worden ist, wurden die gesellschaftlich relevanten Einstellungen und Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern der 9. Klassen erforscht. Danach sind rechtsextreme Einstellungen bei den Jugendlichen verbreiteter als linksextreme oder islamistische Einstellungen. Auch in der Schule lassen sich rassistische, antisemitische, salafistische, populistische Äußerungen und Verhaltensweisen, aber auch jede andere Form von Diskriminierungen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen immer wieder beobachten. Deshalb sind Programme und Angebote zur Extremismusprävention unverzichtbar. Sie wirken demokratiefeindlichen Haltungen entgegen und machen ein soziales Miteinander möglich. Auch hier hat die KMK bereits im März 2009 und erneut im Oktober 2018 die „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ aufgenommen. Außerdem wurden Maßnahmen hinsichtlich der „Interkulturelle(n) Bildung und Erziehung in der Schule“ im Dezember 2013 beschlossen.

Wir brauchen Konzepte zur Stärkung der Lehrkräftebildung zu den Themen Extremismus, Demokratiebildung und Prävention, die in allen drei Phasen der Lehrkräftebildung ansetzen und die Festigung der Handlungskompetenz von (angehenden) Lehrkräften durch konzeptionell vorausschauendes Agieren als wesentliches Ziel haben, sodass die (angehenden) Lehrkräfte ihre erworbenen Kompetenzen an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben können.

Ein solches Konzept wird gerade durch das MBWFK gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung, dem IQSH und zahlreichen Beratungsinstitutionen aus Schleswig-Holstein (ZEBRA, LIDA, PROvention, KAST) sowie der CAU Kiel (Prof. Simon) unter dem Titel „Rahmenkonzept Extremismusprävention“ entwickelt. Es geht im kommenden Schulhalbjahr in Form eines Zertifikatskurses Extremismusprävention in die erste Umsetzungsphase.

“Ich unterstütze nachdrücklich das Ziel, dass möglichst alle Jugendlichen in ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte mit Bezug zu NS-Verbrechen besuchen”

News4teachers: Sollten Gedenkstättenbesuche von Schülerinnen und Schülern für Schulen verpflichtend sein?

Karin Prien: Ich unterstütze nachdrücklich das Ziel, dass möglichst alle Jugendlichen in ihrer Schulzeit eine Gedenkstätte mit Bezug zu NS-Verbrechen besuchen, dies aber eingebettet in das Unterrichtsgeschehen, qualitativ betreut mit Vor- und Nachbereitung. Wir brauchen eine kritische Aufarbeitung der Geschichte. Wir brauchen eine Reflexion der Vergangenheit, der Mechanismen, mit denen Hitler und die Nationalsozialisten gearbeitet haben, und mit denen Diktatoren und Ideologen in aller Welt arbeiten und heute noch Erfolg haben. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Genau deshalb ist das so wichtig, was in der „2. Blick“ genannt wird: Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die nicht nur in die Vergangenheit schaut, sondern sehr klar die Gegenwart und Zukunft unserer Demokratie im Blick hat.

News4teachers: Viele Lehrerinnen und Lehrer klagen über eine hohe Arbeitsbelastung. Brauchen Lehrerinnen und Lehrer mehr Freiräume, um sich für das Thema Demokratie zusätzlich zu engagieren?

Karin Prien: Demokratiebildung ist und bleibt ein Zukunftsthema. Die Beschäftigung damit könnte über neue, mutige Formate in die Schulen hereingetragen werden. Hier setzen wir u. a. auf die Experimentierklausel, die die Schulen in die Lage versetzen, neue Wege in der Gestaltung von Schule und Unterricht zu gehen. Hierfür soll über die bestehenden Möglichkeiten hinaus Flexibilisierung geschaffen werden. Ich möchte die Schulen ausdrücklich dazu ermuntern, die Freiräume, die die Kontingentstundentafel ihnen bereits jetzt bietet, innovativ zu gestalten und neue interdisziplinäre, fächerübergreifende Formate auszuprobieren.

Die Implementierung und Weiterentwicklung von Demokratiebildung im schulischen Kontext ist äußerst wichtig. Die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte und Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung kann auch an außerschulischen Lernorten erfolgen, weshalb wir diese stärken werden. Im Klassenzimmer soll das Konzept der Klassenräte gestärkt und die Bedeutung der historisch-politischen Bildung im Unterricht ausgebaut werden.

Lernenden in Schulen soll unmissverständlich klargemacht werden, dass ihre Meinung, ihre Beobachtung und ihre Rückmeldungen eine Bedeutung haben, dass sie wahrgenommen werden, dass sie sich nicht in einer passiven Rolle befinden, sondern zu aktiven Gestaltern des Schulalltages werden können. Ein wirkungsvolles Instrument ist in diesem Zusammenhang das Schülerfeedback, das in Schleswig-Holstein flächendeckend eingeführt wird.

News4teachers: Die Demokratie, das sehen wir vielfach heutzutage, leidet auch unter der fehlenden Medienkompetenz vieler Menschen. Fake News machen seriöse Diskussionen unmöglich. Wie kann Schule da gegensteuern?

Karin Prien: Fake News sind in aller Munde – zu Recht. Durch die sozialen Medien können Falschaussagen so schnell wie noch nie verbreitet werden. Sie erreichen viele Menschen in kurzer Zeit und sind sehr schwer wieder zu löschen oder zu korrigieren. Es ist also sehr wichtig, die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, Fake News zu erkennen bzw. sie zu kritischem und multiperspektivischem Denken zu erziehen und beispielsweise gegenüber Verschwörungserzählungen ihre Resilienz zu erhöhen.

Hinsichtlich der Medienkompetenz gibt es bereits mehrere Ansätze, diese in den Schulen nachhaltig zu verankern und die Schülerinnen und Schüler im Umgang mit den neuen Medien zu schulen. Auf KMK-Ebene wurde bereits durch einen Beschluss am 8.12. 2016 eine Strategie zur „Bildung in der digitalen Welt“ festgelegt. In Schleswig-Holstein gibt es seit 2018 bereits „Ergänzungen zu den Fachanforderungen Medienkompetenz – Lernen mit digitalen Medien“ für allgemeinbildende Schulen.

Aber nicht nur der Umgang mit der Hardware und das Wissen um Fake News ist wichtig, sondern auch die eigene vertiefende Meinungsbildung. Das Fach Wirtschaft/Politik übernimmt in diesem Zusammenhang inhaltlich im Bereich der Urteilsbildung eine zentrale Rolle, da u.a. Multiperspektivität und das Heranziehen verschiedener Quellen hohe Relevanz in Bezug auf die Entwicklung eines Sach- und Werturteils haben. Aber auch alle anderen Fächer sind gefordert. Das ist eine Querschnittsaufgabe. Auch hierzu brauchen wir und gibt es in den Ländern Fortbildungsveranstaltungen, die den Umgang mit Fake News und Verschwörungserzählungen thematisieren sowie Strategien im Umgang mit ihnen aufzeigen.

News4teachers:
Wie würden Sie junge Menschen dazu ermutigen, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten oder sich gar politisch zu engagieren?

Karin Prien: Es lohnt sich im Kleinen und Großen jeden Tag, die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen. Und Demokratie ist kein Selbstgänger, sondern lebt in jeder Generation von engagierten Demokratinnen und Demokraten. Nehmen Sie die vielen Angebote zur politischen Partizipation an – gestalten Sie mit, sammeln Sie Erfahrungen, entscheiden Sie mit. So können Sie die Gesellschaft auch in Ihrem Sinne verändern und mithelfen, unser Leben in Freiheit zu bewahren. Nina Odenius und Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führten das Interview

Zentralrats-Präsident Schuster über Antisemitismus unter Schülern und Lehrkräften: „Das gesamte System Schule muss auf den Prüfstand“

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