MÜNCHEN. Die Wirtschaft lechzt nach qualifizierten Arbeitskräften, gleichzeitig bricht rund jeder Vierte seine Ausbildung oder sein Studium ab. Wie man das ändern könnte, haben Bildungswissenschaftler nun untersucht – und eine ganz konkrete Forderung aufgestellt: nämlich die Berufsorientierung im Bildungssystem zu stärken. Und zwar schon in Kitas und Grundschulen.
Zur Bekämpfung des zunehmenden Fachkräftemangels fordert der aus renommierten Bildungswissenschaftlern bestehende Aktionsrat Bildung, Berufsorientierung konsequent im Bildungssystem zu etablieren. Zwar sei die freie Berufswahl im Grundgesetz garantiert, sagte Gutachten-Autorin Prof. Bettina Hannover von der Freien Universität Berlin. Doch sei die Berufswahl in Wirklichkeit oftmals gerade keine freie Entscheidung: Studien zeigten, dass schon Kindergartenkinder bestimmte Berufsgruppen aufgrund von Geschlechterstereotypen für sich ausschlössen. Auch der sozioökonomische Status des Elternhauses, das berufliche Umfeld der Familie und das (mangelnde) Prestige bestimmter Berufe engten – oftmals unbewusst – die Optionen ein, aus denen der Nachwuchs seine Wahl treffe.
„Ganze Berufsgruppen werden kategorisch ausgeschlossen und kommen nie wieder auf’s Tableau“, sagt Prof. Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund. Schülerinnen und Schüler müssten deshalb befähigt werden, die Berufswahl selbstbestimmt und kompetent zu treffen, fordern die Autorinnen und Autoren des Gutachtens „Bildung und berufliche Souveränität“. Nur so lasse sich die hohe Abbrecherquote senken und der Fachkräftemangel mildern. Laut Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die das Gutachten des Aktionsrats Bildung in Auftrag gegeben hat, wird jede vierte berufliche Ausbildung abgebrochen, von den Bachelorstudierenden hören 28 Prozent ohne Abschluss wieder auf.
Um das zu verhindern, müssten Jugendliche nicht nur ihre eigenen Talente und Interessen kennen. Sie müssten auch über die Vielfalt der Möglichkeiten und die Anforderungen des Arbeitsmarktes informiert werden, heißt es im Gutachten – und in gut begleiteten Praktika ausprobieren dürfen, was sie interessieren könnte. Bildungseinrichtungen sollten Berufsorientierung auf jeden Fall frühzeitig, breit und flächendeckend im Unterricht verankern, fordert das Expertengremium. Dazu sollte in allen Bildungseinrichtungen eine für die Förderung der beruflichen Souveränität zuständige Fachkraft ernannt werden. Und nicht zuletzt benötige es mit Blick auf die lebenslangen Berufsbiografien modularisierte, standardisierte Weiterbildungsmöglichkeiten und lebensbegleitende Beratungsangebote.
„Die Geschlechterrolle, soziale Herkunft, Intelligenz, aber auch Interessen, Kompetenzen und Wertvorstellungen beeinflussen die Berufsvorstellungen von Kindern bereits im Grundschulalter“
„Möglichst frühzeitig“ – das meint eben: Auch schon in der Grundschule, wie McElvany betont. Oft werde übersehen, dass „schon in der Grundschule Entwicklungsprozesse stattfinden, die die spätere Berufsorientierung maßgeblich mit beeinflussen können und die Grundlagen für eine erfolgreiche berufliche Zukunft legen. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Arbeits- und Berufsbezügen und eine gezielte Förderung personaler Kompetenzen können dazu beitragen, dass Grundschüler*innen eine realistische Vorstellung von der Berufs- und Arbeitswelt entwickeln und sich aktiv mit ihrer eigenen beruflichen Zukunft auseinandersetzen“, so heißt es in einer Pressemitteilung des IFS.
Und weiter: „Die Geschlechterrolle, soziale Herkunft, Intelligenz, aber auch Interessen, Kompetenzen und Wertvorstellungen beeinflussen die Berufsvorstellungen von Kindern bereits im Grundschulalter. Schon früh bevorzugen Mädchen oft Berufe im sozialen und künstlerischen Bereich, während Jungen eher technisch-wissenschaftliche Berufe in Betracht ziehen. Die Berufe der Eltern spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung beruflicher Präferenzen, da sie oft als Vorbild gesehen werden. Das führt dazu, dass viele Berufe und Berufsgruppen schon früh kategorisch ausgeschlossen werden.“ Stattdessen müssten, so Nele McElvany, „diese Einschränkungen aufgebrochen werden. Lehrkräfte und pädagogisches Personal können geeignete Anknüpfungspunkte nutzen, um personale Kompetenzen wie die Informationskompetenz, die Selbsteinschätzungskompetenz sowie personale und motivationale Merkmale zu fördern.“ Damit werde eine Grundlage gebildet, die die altersgemäße Entwicklung von Berufsvorstellungen durch zunehmende Informiertheit sowie der Entwicklung beruflicher Interessen und eines beruflichen Selbstkonzeptes unterstützt.
„Kinder haben bereits im Grundschulalter eine Vorstellung von der Berufs- und Arbeitswelt sowie ihrer eigenen beruflichen Zukunft im Zusammenspiel der Eigenwahrnehmung und Vorstellungen der externen Welt. Eine gezielte Förderung personaler Kompetenzen kann dazu beitragen, dass Kinder ihre Berufswahlmöglichkeiten erweitern und sich souverän für eine berufliche Zukunft entscheiden“, sagt die Bildungsforscherin.
Die Grundschule als Lernort und Sozialisationskontext könne dabei wichtige Beiträge leisten: „Sie kann Informationen über berufliche Optionen über das im familiären Kontext Bekannte hinaus vermitteln. Damit kommt ihr eine zentrale Rolle bei der systematischen Ermöglichung von Denkoptionen für geschlechts- und sozialuntypische Berufswahlen zu, indem sie gezielt das Spektrum der beruflichen Optionen, die Kinder für sich selbst als möglich zuschreiben, erweitert. Zudem müssen in der Grundschule die grundlegenden Qualifikationen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, die für den weiteren Bildungs- und Berufsweg elementar notwendig sind, frühzeitig gefördert werden, damit Kinder ihre individuellen Potenziale nutzen können. Eine systematische Förderung in der Grundschulzeit kann somit einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der beruflichen Souveränität von Kindern und späteren Jugendlichen leisten und die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt fördern.“ News4teachers / mit Material der dpa
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