Autismus-Kongress: Verbriefter Nachteilsausgleich für betroffene Schüler gefordert

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GERA. Schulen müssen sich nach Ansicht von Fachleuten besser auf Lernprobleme von Kindern und Jugendlichen mit Autismus einstellen. Beispielsweise sollten mündliche Arbeiten wie Vorträge weniger stark zur Leistungsbeurteilung der Betroffenen herangezogen werden, da diesen das Reden vor Publikum aufgrund der Entwicklungsstörung schwerfalle, sagte die Autismusberaterin und Autorin Franca Peinel.

Kinder und Jugenliche mit Autismus zeigen Verhaltensweisen, die nicht immer verstanden werden. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Stattdessen sollten schriftliche Leistungen stärker ins Gewicht fallen. «Da braucht es einen Nachteilsausgleich – und das muss für die Schulen verpflichtend sein», erklärte Peinel. Bisher regele jede Schule das anders.

Peinel ist Leiterin eines am Freitag beginnenden Autismuskongresses in Gera mit mehr als 300 erwarteten Teilnehmenden. Von Autismus, einer angeborenen und nicht heilbaren Entwicklungsstörung, sind nach ihren Angaben etwa drei Prozent der Bevölkerung betroffen. Formen sind zum Beispiel der frühkindliche Autismus und der Asperger-Autismus. Betroffenen fällt es oft schwer, mit anderen Menschen zu kommunizieren, Beziehungen zu ihnen aufzubauen und eigene Gefühle in Worten auszudrücken.

Zudem könnten sie äußere Reize wie Geräusche, Farben oder Geräusche nicht oder nur schwer ausblenden, was im Schulalltag ein Problem sei, sagte Peinel. «Dabei sind diese Kinder meist normal oder sogar hoch begabt.»

Die 57-Jährige, selbst Asperger-Autistin, plädierte für einen individuelleren Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen an Schulen. «Für manche ist Frontalunterricht besser geeignet, andere sprechen gut auf Homeschooling in ihrem gewohnten Umfeld an.» Ungeeignet für Autisten sei aus ihrer Sicht das freie Lernen in Kleingruppen. «Da fehlt die klare Struktur, die Autisten brauchen.»

Kritisch sieht Peinel die Inklusion an Schulen, also das gemeinsame Lernen von nichtbehinderten Kindern und Kindern mit Handicap. Für die bessere Lösung halte sie Förderzentren mit kleineren Klassen oder sogenannte Diagnoseförderklassen in der Grundschule, in der Kinder mit Handicap mehr Zeit für den Unterrichtsstoff haben. «Leider wurden die mit der Inklusion oft abgeschafft.»

Der zweitägige Kongress in Gera beschäftigt sich mit Autismus in Kindergärten und Schulen. Unter den Teilnehmenden sind neben Lehrkräften und Medizinern auch Betroffenenvertreter. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zum Programm.

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12 Kommentare
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vhh
1 Jahr zuvor

Wie sieht die Realität aus? Beispiel (ja, nur eine persönliche Erfahrung): Information an den Lehrer ‚Kind fällt ins Spektrum‘ – meine Reaktion ‚hä?‘. Ok, aber da zeigt sich das erste Problem, Experten (Förderkollegen und Psychologen) reden in Expertenslang mit Laien (Lehrkräften). Empfehlung für den gemeinsamen Klassenunterricht: keine unerwarteten Ereignisse (aha, wie war das mit dem kognitiven Konflikt, forschendem Unterricht?), ruhiges Arbeitsklima (gerne, 30x Jahrgang 7 mit 2 ESE-Kindern mit Lernbegleiterin), viele wiederkehrende Routinen (finden alle ganz toll), möglichst Abschirmung zu den Nachbarn durch Seitenwände (gerne, im Fachraum), Präsenzunterricht nur in den Hauptfächern, Aufgaben in anderen Fächern digital erhalten und bearbeiten (in 4 Monaten auf freundliche Nachfragen freundliche Antworten, nur keine Ergebnisse erhalten), mit einem Zeugnis ’nicht bewertbar‘ in den meisten Fächern in die nächste Jahrgangsstufe versetzt aus pädagogischen Gründen (um in der Gruppe zu bleiben, die seit 9 Monaten nicht mehr besucht wurde).
Alles sehr schön im Artikel, aber wie soll für jedes dieser Kinder mit extrem unterschiedlichen Symptomen ein Nachteilsausgleich ‚mehr schriftlich‘ die Lösung sein? Schon einmal versucht, 13jährigen zu erklären, dass Erna zu ruhig ist, Paula zwar auch, aber bei ihr schriftlich mehr zählt? Oder den Eltern?
Egal ob man prinzipiell für oder gegen die derzeitige Form der Inklusion ist, der praktisch mögliche Umgang mit Förderkindern im realen Unterricht ist nicht besser als in ‚Sonderschulen‘. Nur dass es nicht mehr so klar nach Abschieben aussieht. An diesen Zustand haben wir uns bei ‚Lernen‘ und ‚ESE‘ gewöhnt, jetzt also Autismus. Nach ‚Rain Man‘ und Diskussionen um Hochbegabung wird es etwas länger dauern, aber in fünf Jahren haben sich alle daran gewöhnt, dass Autisten ebenso nebenher laufen (müssen), der Nachteilsausgleich wird es richten.
Es ist langsam absurd, auf welche widersprüchlichen Anforderungen sich der Unterricht einstellen soll. Eine einzelne Idee für eine spezielle ‚Problemlage‘ mag sinnvoll sein, aber was ist, wenn man wirklich alle einzeln sinnvollen Anpassungen gleichzeitig durchführt? Wenn das so einfach geht, warum gibt es dann die eierlegende Wollmilchsau noch nicht? Fachleute können leicht fordern, aber sie sollten mal eine einzige Stunde entwerfen, die in einer realen Klasse jeder Theorie und jedem Kind gerecht wird. Unter Berücksichtigung eines zu recht erwarteten Lernzuwachses.
Konferiert ruhig, redet über eine Schule mit Ressourcen, die es nicht gibt, Personal, das eher weniger als mehr wird, Klassen mit 30 wissbegierigen Kindern, von denen nur eines spezielle Förderung braucht. Anschließend gehen alle unangekündigt für einen Tag in verschiedene Schulen und konferieren dann noch einmal, vermutlich länger als beim ersten Versuch.
Glückwunsch an alle, die bis hier gelesen haben und sorry für den genervten Ton, aber ich kann inzwischen niemand mehr gerecht werden, weil ich allen gerecht werden soll -mehr oder weniger begabt, Förderbedarf, LSE, ADHS, Dyskalkulie, Essstörung, soziale Verhältnisse- und möchte die Experten am liebsten etwas schütteln, damit sie in der echten Welt der begrenzten Möglichkeiten ankommen.
Leider haben wir keine Förderzentren mit kleineren Klassen – sehr konsequent, dann lieber noch ein wenig an den überforderten Schulen herumzubasteln.

Canishine
1 Jahr zuvor
Antwortet  vhh

„Glückwunsch an alle, die bis hier gelesen haben“
Vielleicht wäre es einfacher, die Suche nach dem Heiligen Gral wieder aufzunehmen.

Bla
1 Jahr zuvor
Antwortet  vhh

Warum sorry für den genervten Ton?
Ne, das ist halt einfach so.

Es fehlen an vielen Stellen grundlegende Ressourcen. Vor allem die Zeit/SuS. Die Rahmenbedingungen sind einfach nicht gegeben. Für die (Umsetzung der) Traumvorstellungen einiger Fachleute fehlen an den meisten Schulen die Möglichkeiten.

Der „Otto-Normallehrer“ ist kein Experte für jeden Fachbereich und allen Problemen der Welt.
Wenn man eine so genaue Differenzierung und Zeitzuwendung für jeden einzelnen SuS fordert und erwartet, dann bitte gleich mit durchführbaren Konzept und Planbeispielen (natürlich realistisch, umsetzbar und umgesetzt), welche dann eben auch auf andere Schulen übergeht. Mit den gebrauchten bzw. (be)nötig(t)en Ressourcen/Rahmenbedingungen.

Ansonsten: „Ich will aber …“ Blabla. Wunschkonzert.
„Sorry“ – ist halt so.
Ich würde mir auch so einiges wünschen … Bleibt halt dann doch oft beim Wunsch. Tja … So ist das (im) Leben.
Ein „immer mehr“ zu immer schlechteren Bedingungen ist nicht (mehr) drin. „Sorry“ an alle Fachexperten, die es zwar gut meinen, aber von der Realität gerne mal abweichen.

Freiya
1 Jahr zuvor
Antwortet  vhh

Sehr richtig. Nur noch nicht realitätsnah genug! „Wissbegierige“ Kinder? Und davon 30? Das stimmt so schon mal nicht. Von den 27 Siebtklässler*Innen sind genau 3 überhaupt intrinsisch motiviert. Dann sind da: 1x FAS (fetales Alkoholsyndrom) ohne Schulbegleitung aber mit hohem Sendungsbewusstsein, ohne Therapie, 1xADHS mit Schulbegleitung, 1x Lese-Rechtschreibstörung (das Kind KANN weder richtig lesen noch schreiben), 1x geistige Behinderung (ohne Schulbegleitung und auch nicht erst seit gestern! Wieso wurde diesem Kind nicht schon in der Grundschule geholfen?), 2x Leghasthenie, 1x sozial-emotional reifeverzögert (ohne Schulbegleitung), 2 ohne Deutschkenntnisse, davon 1 auch ohne jeden Willen dies zu ändern, 3 Kinder deren Schrift nicht zu entziffern ist (Was macht ihr da in den Grundschulen???) und dann noch die übliche Anzahl an Kinder, denen es einfach an häuslichem positiv-verstärkenden Background fehlt… Wie, die eierlegende Wollmilchsau gibt es nicht? Ich BIN die eierlegende Wollmilchsau. Aber nicht mehr lange!

vhh
1 Jahr zuvor
Antwortet  Freiya

Bei den ’30 wissbegierigen Kindern‘ fehlten die Anführungszeichen oder die Ironiewarnung… 🙂

Dil Uhlenspiegel
1 Jahr zuvor

Nichts, was man nicht – wie üblich – mit 5,78% Zeitzugabe versehen könnte, höchstindividuell zugeschnitten natürlich im Vollgas-Chaos der Alltagsrealität … ah, wie fortschrittlich das duftet!

Last edited 1 Jahr zuvor by Dil Uhlenspiegel
ginny92
1 Jahr zuvor

Erstmal gibt es verschieden Formen, die hier fast schon Pauschal in einen Topf geworfen werden. Und das soll kein Vorwurf sein, allerdings zeigt das schon an warum es speziell geschultes Personal für sowas gibt. Nein, damit ist nicht gemeint das die Kinder pauschal nicht intelligent sind, sie sind schlicht manchmal anders. Und ich fände es sinnvoller für allgemein bessere Bedingungen zu kämpfen/ zu schaffen, denn da profitieren alle Kinder von. Zum Beispiel kleinere Klassen da Profitieren alle von nicht nur Autismus Betroffene.

Mika
1 Jahr zuvor
Antwortet  ginny92

Wissen Sie, wenn Sie hier schon eine Weile mitlesen würden, hätten Sie festgestellt, dass die allermeisten Lehrer für kleinere Klassen und Zeit für individuelle Zuwendung kämpfen oder lange gekämpft haben. Und Sie hätten festgestellt, dass dies genau NICHTS geändert hat und ändert: die Erfahrungen und Hinweise der Lehrkräfte an die Politik, was in Schule nötig wäre, um den Schulerfolg der Kinder und ein gesundes Arbeiten der Lehrer zu ermöglichen, interessieren einfach genau NIEMANDEN. Also bleibt uns Lehrkräften nur, uns selbst und die Kinder zu schützen (auch die Kinder mit besonderen Herausforderungen). Das bedeutet dann eben auch, auf die Probleme der Beschulung dieser Kinder in den Regelklassen drastisch hinzuweisen und diese ggf. eben auch zu verweigern.

Lisa
1 Jahr zuvor

Wichtigster Satz “ Mit der Inklusion leider abgeschafft“ Viele Autisten drehen bei der Unruhe und dem Lärmpegel schlicht durch. Das ist gar kein Hexenwerk.

Charlotte
1 Jahr zuvor

Als Mutter eines autistischen Kindes gehe ich bei einigen Punkten mit. Reizarme Umgebung, kleine Klassen wären super. Ganz schwierig wird es für Autisten, wenn z. B. Kinder mit ADHS in der gleichen Klasse unterrichtet werden. Dem Vorschlag, dass schriftliche Leistungen mehr ins Gewicht fallen, kann ich gar nicht folgen. Jeder Autist ist individuell, man kann sie nicht alle in eine Schublade stecken. Mein Kind ist mündlich viel stäker als schriftlich, weil er große Probleme mit der Schreibgeschwindigkeit hat und dies für ihn ein absoluter Stressauslöser ist.

TaMu
1 Jahr zuvor

Allmählich finde ich es immer schwieriger für ganz normal begabte Kinder und Jugendliche in Schulklassen, die keine Diagnosen, Nachteilsausgleiche und spezielle Rücksichten haben und bekommeni. Die müssen einfach Leistung bringen, obwohl auch sie vielleicht nicht gerne und gut vor anderen reden, nicht gut in Mathe oder in Sprachen sind, sich ebenfalls durch die Pubertät mühen und nirgends ein Extrapünktchen erwarten dürfen. Sie werden als „ruhiger Puffer“ zwischen ADHS auf der einen und Autismus auf der anderen Seite gesetzt, während knapp dahinter die Inklusionskraft dem betreuten Kind halblaut die Aufgabe erklärt.
Kein Wunder, dass immer mehr Kinder diagnostiziert werden.

Freiya
1 Jahr zuvor
Antwortet  TaMu

Genau so ist es!