Kinder in Not: Höchststand bei Vernachlässigung und Gewalt – Kinderschutzhäuser maximal ausgelastet

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WIESBADEN. Aktuelle Daten zeigen einen Höchststand der festgestellten Fälle von Vernachlässigung sowie körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt gegen Kinder. Experten sehen zwar mehr Sensibilisierung für das Thema – aber auch eine maximale Belastung der Kinderschutzhäuser.

Immer mehr Kinder müssen vor Gewalt und Vernachlässigung in ihrer Familie geschützt werden. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die deutschen Jugendämter haben im vergangenen Jahr bei fast 62.300 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren rund 2.300 Fälle oder vier Prozent mehr als im Jahr zuvor und damit so viele wie nie zuvor, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch mitteilte. Gezählt wurden Kinder und Jugendliche, die vernachlässigt wurden oder psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt waren.

Die Zahl der sogenannten latenten Fälle, bei denen eine gegenwärtig vorliegende Gefahr nicht eindeutig bestätigt werden konnte, aber ein ernster Verdacht blieb, ging 2022 zwar um zwei Prozent auf 28.900 zurück. Gleichzeitig stiegen aber die akuten Fälle, bei denen eindeutig eine Kindeswohlgefährdung vorlag, um zehn Prozent auf 33.400 Fälle.

Etwa vier von fünf der betroffenen Kinder waren jünger als 14 Jahre, etwa jedes zweite sogar jünger als acht Jahre, hieß es. Knapp die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen (47 Prozent) nahm zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch, stand also schon in Kontakt zum Hilfesystem.

In 59 Prozent der Fälle stellten die Behörden im vergangenen Jahr Anzeichen von Vernachlässigung fest. In über einem Drittel, nämlich 35 Prozent der Fälle, gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 27 Prozent der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gefunden. In 22 Prozent der festgestellten Kindeswohlgefährdungen hatten die Kinder und Jugendlichen mehrere dieser Formen von Gewalt oder Vernachlässigung erleben müssen. Dieser Anteil ist seit 2015 kontinuierlich gewachsen, damals hatte er noch bei 16 Prozent gelegen.

Dass die Statistik hohe Zahlen ausweist, sehen Julia Wahnschaffe und Barbara Becker, die Geschäftsführerinnen des Kinderschutzbund Baden-Württemberg, nicht ausschließlich negativ, denn: «Jeder Fall, der aufgedeckt wird, ist gut.» Angesichts der vermutlich großen Dunkelziffer stehen die Zahlen auch für Menschen, die hinschauen und Verdachtsfälle melden.

Geprüft hatten die Jugendämter im Vorfeld insgesamt 203.700 Hinweismeldungen, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen im Raum stand – ein Plus von drei Prozent. Der Impuls kam in 30 Prozent der Fälle von der Polizei oder den Justizbehörden. 23 Prozent der Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung kamen aus der Bevölkerung – also von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym. Dahinter folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe oder der Erziehungshilfe mit 13 Prozent. Jeweils etwa ein Zehntel der Hinweise auf die Gefährdungssituation gaben Schulen oder die Familien selbst.

«Beim Verdacht, dass das Kindeswohl gefährdet ist, ist etwa ein Kindergarten verpflichtet, tätig zu werden und das Gespräch mit den Eltern zu suchen»

Ansprechpartner für Gefahrenmeldungen ist das Jugendamt. Doch auch der Kinderschutzbund hat an Schulen und Kindergärten oder Kindertagesstätten eine gestiegene Sensibilität für das Thema festgestellt.

«Beim Verdacht, dass das Kindeswohl gefährdet ist, ist etwa ein Kindergarten verpflichtet, tätig zu werden und das Gespräch mit den Eltern zu suchen», sagt Becker. «Wichtig ist, den Kindern genau zuzuhören», ergänzt Wahnschaffe mit Blick auf Andeutungen, die Betroffene machen. Auch könne es sein, dass ein Kind sich anders verhalte als früher oder plötzlich nicht mehr nach Hause wolle. Da sei es eine «unheimliche Gratwanderung», nachzufragen und mehr Hinweise zu erlangen.

Auch der Kinderschutzbund erhalte Anrufe verunsicherter Eltern oder Nachbarn, die den Verdacht haben, dass Kindern in der Klasse der eigenen Kinder oder in der Nachbarschaft Vernachlässigung oder Gewalt ausgesetzt sein könnten. «Was soll ich tun, wie gehe ich damit um?» seien häufige Fragen. «Das Schlechteste ist, gar nichts zu machen», betont Becker. «Man sollte überlegen, was ist für das Kind die beste Lösung? Ist es möglich, mit den Eltern ein Gespräch zu führen?»

Denn ein Kind aus der Familie herauszuholen, sei das «letzte Mittel». Es könne auch überlegt werden: Was braucht die Familie, damit es dem Kind besser geht? Das gelte insbesondere in Fällen, in denen die Eltern aus Überforderung falsch handeln.

Praxis und Forschung zum Kinderschutz gibt es am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), wo mit dem Childhood-Haus Hamburg an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr Untersuchungen von Kindern vorgenommen werden können, die die sozialen Dienste als Verdachtsfälle melden. «Wir arbeiten immer im Tandem», erläutert die Oberärztin und Rechtsmedizinerin Dragana Seifert.

Während etwa sie als Rechtsmedizinerin vor allem Verletzungen einschätzen könne, die von Schlägen, Tritten oder sonstigen Misshandlungen stammen könnten, ist mit einer Kinderärztin stets auch eine Expertin für die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes dabei. Bei Bedarf könne auch eine Psychologin und eine Sozialpädagogin aus dem interdisziplinären Team hinzugezogen werden.

«Es gibt Kinder, die werden mit Alkohol ruhiggestellt, allein gelassen oder auf andere Art vernachlässigt»

Ein Problem sei, dass Kinderschutzhäuser «maximal ausgelastet» seien. Hinzu komme, dass Geschwisterkinder immer wieder aufgrund unterschiedlichen Alters und Geschlechts auf verschiedene Einrichtungen verteilt werden müssten – für die Kinder sei das vielfach eine traumatische Erfahrung. «Man muss sich darüber klar sein – Kinder, die gemeinsam Gewalt erlebt haben, hängen sehr aneinander – mehr noch als Geschwister, die in einer heilen Familie aufwachsen», betont die Ärztin.

Das Wohl von Kindern werde nicht ausschließlich durch Schläge beeinträchtigt. «Es gibt Kinder, die werden mit Alkohol ruhiggestellt, allein gelassen oder auf andere Art vernachlässigt.»

Bei den Untersuchungen werden dann beispielsweise sprachliche oder motorische Defizite festgestellt – doch die schnelle Betreuung durch Logopäden oder Ergotherapeuten scheitere oft an langen Wartezeiten. «Wir entdecken viel, aber wir können den Kindern nicht gerecht werden, wenn sie nicht Wochen, sondern Monate auf eine Therapie warten müssen», stellt Seifert fest. «Ein Kind, das noch mitten in der Entwicklung steckt, hat diese Zeit nicht.» Von Eva Krafczyk, dpa

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Bayer
1 Jahr zuvor

Keine schöne Nachricht;
” wissen wir sowieso schon ” ?

Die Dunkelziffer dürfte noch viel größer sein, denn eine Gruppe, die oft Kinder in Not, nach Gewalt, körperlich wie psychisch, zu sehen bekommt, wird zu klein/ gefährlich klein.
Es wird wieder/weiter kaputtgespart, wo geholfen werden könnte, egal ob in Schule oder Pflege.

An bisher Schwerhörige, die ungern lesen:
Hey, Leute, das sind die Menschen, die in ein paar Jahren Eure Rente, Euer Alter, all das sichern sollen, woran Euch liegt…….ihr solltet Euren Xxx – nicht nur deswegen! – endlich bewegen.

Beispiele, weitergereicht

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145029/Personalmangel-gefaehrdet-Versorgung-in-Kinderkliniken

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145013/Intensivmediziner-warnen-vor-Engpaessen-bei-der-Versorgung-von-Kindern?rt=4aec9d44a40be5c0d10cfb12b3590949

Marion
1 Jahr zuvor
Antwortet  Bayer

Es ist erstaunlich, wie wenig Resonanz das Thema Unterversorgung von Kindern in so ziemlich allen Lebensbereichen, in der Gesellschaft findet.
Keinen scheint es groß zu interessieren, wenn Kinder in öffentlichen Einrichtungen aufgrund des Personalmangels, immer wieder Opfer von Vernachlässigung oder grober Behandlung werden.
Keinen scheint es groß zu interessieren, wenn für Kinder in medizinischen Notfällen kaum noch eine Klinik gefunden werden kann, die sie aufnimmt, weil überall die Betten- bzw. die Personalkapazitäten knapp werden.
Niemanden scheint es groß zu interessieren, wenn für kranke Kinder keine Medikamente mehr zur Verfügung stehen.
Niemanden scheint es groß zu interessieren, daß Kindern bei Schuleintritt inzwischen gehäuft ganz grundlegende Basiskompetenzen fehlen.
Niemanden scheint es groß zu interessieren, wenn Kinder durch unkontrollierte Nutzung von Handy und Tablet schon viel zu früh mit Inhalten konfrontiert werden, die sie überfordern und die sie noch gar nicht verarbeiten können.
Niemanden scheint es groß zu interessieren, wenn Kinder sich resigniert in sich selbst zurückziehen, weil sie von einem Acht- bis Neunstundentag in der Kita überfordert sind.
Niemanden scheint es zu interessieren, daß Kinder am Ende eines Kindergartenjahres nervlich so durch sind, daß sie genauso urlaubsreif sind, wie die arbeitenden Erwachsenen.
Niemanden scheint es zu interessieren, wenn sich Kinder einen Infekt nach dem anderen einfangen und sie sich dauererkrankt durch die Woche quälen, im Herbst/Winter eigentlich nie richtig gesund sind und als Virenschleudern in den Kitas für eine Infektwelle nach der anderen sorgen.
Es scheint sich niemand so sonderlich für die Belange von Kindern zu interessieren. Egal ob es sich um die wirklich grausamen Fälle von Vernachlässigung und Mißhandlung durch die eigenen Eltern handelt, oder um die “milderen” Fälle der üblichen gesamtgesellschaftlichen Defizite, unter denen Kinder heute zu leiden haben, die wir aber irgendwie schon ganz normal zu finden scheinen und deshalb kaum noch wahrnehmen.
Ich finde, was Kinder betrifft, herrscht in unserer Gesellschaft eine ziemliche “Doppelmoral”:
Einerseits wird das Kind auf einen Sockel gehoben, wird überall auf die “Kinderrechte” verwiesen, andererseits sollen die aber bitteschön den “Erwachsenenrechten” bloß nicht in die Quere kommen.
Ich glaube unsere Gesellschaft ist an Kindern hauptsächlich dann interessiert, wenn sie unangenehm auffallen, z.B. weil sie gerade da sind, obwohl man sie doch im Moment überhaupt nicht brauchen kann, weil sie irgendwie im Weg sind, weil sie Eltern daran hindern uneingeschränkt dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen.
Dann schreit man nach Ganztagsversorgung, und da schaut man dann auch lieber nicht soooo genau hin, ob es da jetzt optimal läuft. Da stopft man dann lieber mal ein paar Kinder mehr in eine Gruppe. Kommt doch nicht darauf ob da jetzt noch ein oder zwei mehr rumhupfen.
In einer Gesellschaft, die sich für’s Kind immer erst dann interessiert, wenn es längst in den Brunnen gefallen ist, läuft grundsätzlich etwas schief. Ich glaube, das hat viel damit zu tun, daß Erwachsene heute selbst hoffnungslos überfordert sind, mit all den überkomplexen Herausforderungen, die das moderne Leben an uns alle stellt.
Und nein, damit will ich nicht sagen, daß früher alles besser war.

Fräulein Rottenmeier
1 Jahr zuvor
Antwortet  Marion

Danke, für Ihre Ausführungen. Sie treffen es sehr genau.

Kinder sind zu einer Verschiebemasse geworden und die sogenannten Kinderrechte werden genau so lange hochgehalten, bis Sie einem anderen Bedürfnis entgegenstehen.
Hieß es vor wenigen Jahren noch, dass Kinder die ersten Lebensjahre bei den Eltern verbringen sollen und eine „Herdprämie“ angedacht war, damit es sich auch ärmere Schichten erlauben konnten, dass ein Elternteil zu Hause blieb, sollen jetzt – da Arbeitskräfte fehlen – möglichst alle Kinder so früh wie es irgendwie möglich ist, in eine Kita verbracht werden. Dort herrscht aber auch Arbeitskräftemangel….
Es wird ganz ungeniert darüber nachgedacht, wie man den Familien finanzielle Ressourcen entziehen kann (z.B. Ehegattensplitting, Elterngeld), um sie in den Arbeitsmarkt zu bringen. Und hier trifft es nicht die oberen Zehntausend, sondern ganz konkret die Mittelschicht und die untere Mittelschicht. Eine Schicht, die sich meist aus sehr freien Stücken für Kinder entscheidet und sie gerne so aufwachsen sehen möchte, wie sie selber aufgewachsen sind. Getroffen werden zwar auch die Eltern, aber die echten leidtragenden sind dann doch wieder die Kinder.
Hinter allem stehen also ökonomische Interessen. Befriedigt man eine Seite, geht es zu Lasten der anderen Seite.
Eine gute Lösung ist für sofort wahrscheinlich nicht in Sicht, aber man sollte sich schon klar machen, wenn wir uns nicht um die Kinder von heute und morgen kümmern und ihre ureigenen Bedürfnisse beachten, geht es nur noch den Bach runter.

Bayer
1 Jahr zuvor

Liebe Mädels,
Wir machen uns Gedanken und Gedanken und……
Dann sagen Fischbach und Lauterbach in den ard-Nachrichten, weil die Kindernotaufnahmen überquellen, dass entweder Zuzahlung oder ! telefonische Feststellung ! Notaufnahme ja/nein die Lösung seien…..

Liebe @ Redaktion, mMn befinden wir uns bez. einiger Themen mittlerweile mehr ” im Busch ” 😉
als echte Buschbewohner in anderen Ländern, wo der flying oder rolling doctor schneller und besser erreichbar ist als in der hochgelobten Zivilisation hier.