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Krisenmodus ohne Ende, Populismus und die sozialen Medien: Warum die Schule jetzt gefordert ist, die Demokratie zu retten

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BERLIN. Die Menschen sind mit einer für Deutschland beispiellosen Ballung von Krisen konfrontiert. Politische Rattenfänger versuchen, aus der Situation Kapital zu schlagen. Sie behaupten, mit einfachen Lösungen komplexe Probleme lösen zu können – Sündenböcke inklusive. Das Internet und die Fülle von Fake News, die damit transportiert werden, verschärfen die prekäre Lange, in die unsere Demokratie dadurch gerät. Unsere Gastautoren Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer legen im folgenden Beitrag dar, was das für das Bildungssystem bedeutet.

Hat die offensichtliche Lüge zum politischen Instrument gemacht – und wird trotzdem noch von vielen Menschen unterstützt: Ex-US-Präsident Donald Trump. Foto: Evan El-Amin / Shutterstock.com

Demokratie in der Krise und die Folgen für das Bildungssystem

Selten in der jüngeren Geschichte der Menschheit gab es eine derartige Ballung von epochaltypischen Herausforderungen: Klima-Krise, Corona-Pandemie und nun der Ukraine-Krieg. Die Menschheit und die Politik verharren im Krisenmodus. Alle Länder der Welt sind betroffen und in ihrer politischen Praxis herausgefordert.

Eine derartige Flut an Problemen trifft auch die verschiedenen Staatsformen. In Diktaturen, wie in China oder Russland, wird anders mit Krisen umgegangen als in Demokratien, wie in der Schweiz oder in Deutschland – und so werden epochaltypsiche Herausforderungen auch zur Bewährungsprobe der politischen Systeme. Wie viel globale Kooperation über unterschiedliche Staatsformen hinweg ist erforderlich, um diese Menschheitskrisen zu bewältigen? Gegenwärtig kippt die Stimmung in Richtung De-Globalisierung, gerade im Austausch mit Diktaturen und Autokratien. Dies ist ein gefährlicher Trend, an dessen Ende womöglich der kalte Krieg in einen heißen Nuklearkrieg eskaliert.

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Unsere Gastautoren

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, ehemaliger Kulturstaatsminister, lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, als Honorarprofessor an der Humboldt Universität Berlin und als Gastprofessor an ausländischen Hochschulen.

Er ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Europäischen Akademie der Wissenschaften, und Direktor am Bayerischen Institut für digitale Transformation. Julian Nida-Rümelin publiziert regelmäßig Zeitungsartikel, Bücher und wissenschaftliche Aufsätze und hält Vorträge in Unternehmen und Verbänden.

Prof. Dr. Klaus Zierer ist Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Aus Zierers breitem Spektrum wissenschaftlicher Tätigkeiten sind besonders die Arbeiten im Anschluss an John Hatties Werk „Visible Learning“ bekannt, wie „Kenne deinen Einfluss! Visible Learning für die Unterrichtspraxis“, das Zierer gemeinsam mit Hattie verfasst hat. Gemeinsam haben Nida-Rümelin und Zierer zum Thema des vorliegenden Beitrags ein Buch verfasst: „Demokratie in die Köpfe: Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet“ (S. Hirzel Verlag, 26 Euro).

Die angesprochene Bewährungsprobe ist für politische Systeme doppeldeutig. So ist beispielsweise die Demokratie in der Krise gefordert, unter spannungsreichen Bedrohungen zu agieren, gleichzeitig kann sie selbst in die Krise geraten. An den drei genannten Problemen lässt sich das zeigen: Maßnahmen zur Eindämmung des CO2-Auststoßen gefährden in Gestalt von Preiserhöhungen und Einbußen an Komfort und Mobilität die Unterstützung durch die Bevölkerung. Während der Corona-Pandemie erstarkte eine Querdenker-Szene, die zunächst einen zutiefst demokratischer Prozess darstellte, aber auch die Handlungsfähigkeit der politischen Systeme gefährdete. Und der Ukraine-Krieg spaltet die Gesellschaft zunehmend in den Fragen, welches Maß an Solidarität die Ukraine einfordern kann und ob Waffenlieferungen sinnvoll sind.

Bewegt man sich in den verschiedenen Lagern, so hört man nicht selten: Mit Demokratie hat die Gegenposition nichts zu tun. Gegenteilige Meinungen werden folglich als Angriff auf die Demokratie gewertet. Dieses Phänomen der gegenseitigen Diffamierung bekommt fast alltäglich in Talkshows eine Bühne. Als Zuschauer stellt man sich dann die Frage: Ist das Demokratie? Tatsächlich ist ein Missverständnis weit verbreitet: Viele meinen, Demokratie sei schon dann realisiert, wenn in gewissen Abständen gewählt wird und die Wahlen allgemein, geheim und frei sind. Das ist ein gefährlicher Irrtum.

Der Begriff der Demokratie ist bis heute schillernd. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er trotz aller Kritik positiv besetzt ist und daher innerhalb eines breiten Spektrums politischer Praktiken in Anspruch genommen wird. So haben sich die kommunistischen Staaten im sowjetischen Einflussgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg als „Volksdemokratien“ definiert. Selbst das Projekt des Abbaus demokratischer Rechte in Ungarn trägt den Titel „illiberale Demokratie“. Um diese Beliebigkeit der Begriffsverwendung abzuwenden, hat sich im angelsächsischen Diskurs der nicht unproblematische Ausdruck „liberale Demokratie“ eingebürgert.

Charakteristisch für eine Demokratie im engeren Sinn ist die Garantie der individuellen Rechte und der institutionalisierten Solidarität in Form sozialstaatlicher Vorkehrungen. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss hinzugefügt werden, dass Menschenrechte nicht normative Konsense in der Demokratie sind, sondern als normative Tatsachen zu sehen sind. Wenn sich beispielsweise stoische Philosophen in der Antike gegen die Sklaverei wenden, obwohl diese zur Lebensform der damaligen Zeit gehört, dann ist dies nicht etwa Ausdruck einer kulturellen Attitüde, sondern die Erkenntnis gleicher Vernunftfähigkeit jedes menschlichen Individuums unabhängig von Herkunft und Sprache.

In diesem Verständnis beruht Demokratie auf einem einzigen Prinzip, nämlich dem der kollektiven Selbstbestimmung, das unter den anthropologischen Prämissen der Freiheit und Gleichheit zu sehen ist. Sie meint im Kern, dass die jeweilige Ordnung für alle Bürgerinnen und Bürger zustimmungsfähig ist. Nur wenn die Bedingungen des wechselseitigen Respektes als Gleiche und Freie realisiert sind, entfaltet sich aus dem Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung eine demokratische Ordnung. Die Garantie individueller Rechte und Freiheiten ist also nicht, wie oft angenommen und selbst aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts abgeleitet wird, eine Einschränkung der Demokratie, sondern unverzichtbarer, essenzieller, ja konstitutiver Teil jeder demokratischen Ordnung.

Die ethische Einsicht in die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen korrespondiert in der Demokratie mit einer Zivilkultur des gegenseitigen Respektes

Demokratie ist demgemäß eine politische Ordnung, der alle zustimmen können. Voraussetzung dafür ist die prinzipielle Gleichheit und Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Konsens ist demgemäß nicht das Ziel demokratischer Entscheidungsfindung selbst, vielmehr bezieht sich demokratische Entscheidungsfindung auf die Regeln und Institutionen, die sie ermöglichen. Da es hierbei ebenfalls Dissense geben kann, verlagert sich der für eine Demokratie unverzichtbare Konsens im Einzelfall auf eine höhere Ebene, wie es für Verfassungskonflikte charakteristisch ist und beispielsweise durch eine Entscheidung mit verfassungsändernder Mehrheit gelöst wird. Somit ist es nicht die Mehrheitsmeinung, wie meist angenommen wird, die für die Demokratie ausschlaggebend ist, sondern es ist dieser höhere Verfassungskonsens, der eine Demokratie trägt und in dem die Grundprinzipien der Freiheit und Gleichheit zum Ausdruck kommen.

Die ethische Einsicht in die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen korrespondiert in der Demokratie mit einer Zivilkultur des gegenseitigen Respektes und der Anerkennung unabhängig von kulturellen, religiösen, herkunftsbezogenen oder lebensformgebundenen Zugehörigkeiten. Eine Gesellschaft, in der Menschen aufstehen, weil sich im Bus neben sie eine Person anderer Hautfarbe gesetzt hat, ist nicht demokratiefähig. Demokratie ist nicht lediglich eine Staatsform, sondern eine Lebensform. Wenn die zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie erodieren, ist diese als Institutionengefüge bedroht.

Die in der Krise steckende Demokratie kann und muss also auch aus den derzeitigen Krisen lernen. Das oberstes Gebot dabei lautet: Sie muss sich um die Demokratiefähigkeit der Menschen kümmern. Das schließt beispielsweise eine Streitkultur ein, die im abendlichen Fernsehen vielfach vermisst wird. Gleichzeitig impliziert dies aber auch eine kritisch-konstruktive Haltung zu Medien im Allgemeinen, die allein durch die Auswahl der Themen, der Akteure, der Sendezeit usw. einem Bias unterliegen.

Es wäre naiv, diese Auswahl als zufällig oder unbedeutend abzutun. Das in diesem Zusammenhang schwindenden Interesse an professionellem Journalismus ist aus demokratietheoretischer und bildungspraktischer Sicht ein Problem. Denn viele Menschen informieren sich heute nicht über die Tagespresse, sondern lieber in den sozialen Medien, die aufgrund von Big Data besonders anfällig für eine Blasenbildung und eine Verrohung sind. Für eine Debattenkultur ist dies abträglich, für eine Demokratie ein schlummernder Erosionsmechanismus.

Mit diesen Überlegungen sind die Konsequenzen angesprochen, die aus bildungspraktischer Sicht notwendig sind, hier konkret an drei Punkten für das Schulsystem erläutert:

Erstens bedarf es schulorganisatorischer Strukturen, die zu einer Demokratie passen. Eine Schule in einer Demokratie muss eine demokratische Schule sein. Diesen Gedanken hat John Dewey eindringlich formuliert und unter dem Begriff der „embryonic society“ entfaltet. Schule muss Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie sichtbar machen, zu einem demokratischen Lebensraum werden. Kinder und Jugendliche müssen in der Schule erfahren und lernen, was Demokratie bedeutet, müssen gehört werden, sich äußern und mitgestalten können. Um an dieser Stelle keiner Utopie zu erliegen: Mitbestimmung ist von Selbstbestimmung zu unterscheiden. So wichtig und sinnvoll es ist, alle Mitglieder der Schule in Entscheidungen einzubeziehen, Mitbestimmung ist aus demokratietheoretischer Sicht als kollektive Selbstbestimmung zu verstehen und als solche muss sie die Freiheit und die Gleichheit aller achten.

Sodann ist zweitens auf unterrichtlicher Ebene gefordert, aktuelle Themen aufzugreifen. Dass Kinder und Jugendliche immer noch auf der Straße mehr über Nachhaltigkeit lernen, ist angesichts der Tragweite dieses Themas ein Armutszeugnis. Aber wie können solche Probleme angesichts gut gefüllter Lehrpläne in der Schule berücksichtigt werden? Eine Lehrplanreform, die durch Streichung und Straffung von Lerninhalten Freiräume schafft und durch Neugewichtung ein humaneres Bildungsverständnis ermöglicht, ist längst überfällig. So können Zeiten und Räume geschaffen werden, um aktuelle Fragestellungen zu behandeln.

Allein mit Bildung werden epochaltypische Herausforderungen nicht gelöst, aber ohne Bildung auch nicht

Ein Epochenunterricht ist hierfür das Mittel der Wahl: eine Woche lang wird im Wechsel zwischen disziplinären und interdisziplinären Perspektiven ein Schlüsselproblem bearbeitet und anschließend werden die gewonnen Erkenntnisse diskutiert und reflektiert. Ein solcher Zugang verspricht nicht nur ein Nachbeten, sondern allen voran ein Nachdenken und wird damit zum Zentrum einer Demokratieerziehung.

Und schließlich bieten sich drittens in diesem Epochenunterricht Dilemma-Diskussionen an. Sie sind eine der wenige Unterrichtsmethoden, die umfassend wirken und hohe Effekte haben. Dabei geht es darin nicht nur um das Vertreten der eigenen Position, sondern auch um das Verstehen der anderen Meinung, ja sogar das Formulieren von Gegenargumenten. Damit wird ein Perspektivwechsel zum Unterrichtsprinzip, der grundlegend für eine Demokratie ist.

Sicherlich: Allein mit Bildung werden epochaltypische Herausforderungen nicht gelöst, aber ohne Bildung auch nicht. Bildung ist das bestimmende Moment einer Demokratie. Erodiert eine Demokratie, was angesichts globaler Probleme möglich und derzeit beobachtbar ist, so lässt sie sich nur mit Bildungsanstrengungen wieder retten. Julian Nida-Rümelin & Klaus Zierer

Demokratie- und Wertebildung? So wichtig (aber derzeit an den Schulen kaum leistbar) – VBE-Vize Fleischmann im Interview

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