Bewegungsmangel bei Kindern: Sind übervorsichtige Eltern schuld?

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BERLIN. Sich draußen austoben – das können nicht alle Kinder direkt vor ihrer Tür. Doch manchmal scheitert es auch an den Eltern. Fachleute haben den Eindruck, dass es heute tendenziell mehr übervorsichtige Eltern gibt als früher und das könnte Folgen für die Bewegungslust der Kinder haben. Hinweise dazu fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer australischen Studie.

Eltern wollen ihre Kinder vor negativen Erfahrungen behüten, doch zu viel des Guten kann sich schädlich auf die Entwicklung des Nachwuchs auswirken. Foto: Shutterstock/Roman Samborskyi

Für die Untersuchung befragte das Forschungsteam 645 Erziehungsberechtigte mit Kindern im Grundschulalter zu ihrer Einstellung hinsichtlich Risiko und Verletzungen beim Spielen. Dabei zeigten 78 Prozent der Eltern eine geringe Risikotoleranz bei bestimmten Spielszenarien wie dem Klettern auf Bäumen. Im Fachmagazin „Psychology of Sport and Exercise“ stellen die Forschenden fest, dass Kinder von vorsichtigeren Eltern sich eher weniger bewegten als täglich empfohlen und seltener abenteuerlustig spielten.

Nach Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollten sich Kinder und Jugendliche mindestens eine Stunde am Tag bewegen. Nach Erfahrungen des Berliner Kinderarztes Jakob Maske erreichen das hierzulande nur wenige. „Bei den meisten Kindern sind es nicht einmal 30 Minuten am Tag“ sagt der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ). Dafür verantwortlich ist seiner Ansicht nach unser Lebenswandel. „Es wird vielmehr Auto gefahren. Und dieses Bewegungsverhalten der Eltern färbt auf die Kinder ab.“

Besorgte Eltern

Doch nicht unbedingt aus Bequemlichkeit, sondern auch aus Sorge, dass etwas passieren könnte, fahren manche Eltern ihre Kinder zur Schule, zum Fußballtraining oder Musikunterricht. Zum Teil tragen schon Grundschulkinder ein Smartphone oder eine Smartwatch, damit die Eltern sie immer erreichen oder dank Ortungsdienst sehen können, wo sie sich aufhalten. „Wir leben nicht mehr in Zeiten, wo Eltern ihre Kinder nebenbei erzogen haben, fünf, sechs gleichzeitig“, erläutert Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk. „Jetzt ist es oft das einzige Kind, auf das man ganz besonders aufpasst und bei dem man alles richtig machen will.“ Diese Entwicklung habe auch etwas Positives. Dadurch habe Kindheit heute einen ganz anderen Stellenwert. „Es artet an mancher Stelle aber aus.“

So trifft man auf Spielplätzen auf Eltern, die ihre Kinder nicht im Gebüsch spielen lassen aus Angst vor Zeckenbissen oder die panisch angerannt kommen, sobald sich das Kind etwas höher auf das Klettergerüst wagt. Neumann hält das für falsch: „Das, was sich Kinder allein zutrauen, sollte man zulassen – natürlich anfangs mit den Augen dabei, aber nicht mit einer gefühlten Sicherheitsmatte darunter.“ Und wenn doch etwas passiert? Beulen, blutige Lippen oder aufgeschürfte Knie – auch das gehöre zu einer Kindheit dazu, meint die Expertin. „Fallen lernt man nur durch Fallen.“ Der Körper müsse selbst erfahren, wie hoch er klettern und wie schnell er laufen könne oder wie er sich bei einem Sturz am besten abrolle.

Höhere Unfallgefahr im Haushalt

„Natürlich passieren Unfälle auf Spielplätzen“, sagt der Kinderarzt Maske. „Aber die schwersten Unfälle passieren im häuslichen Umfeld.“ Also dort, wo Kinder vermeintlich in Sicherheit sind. Sie stürzten zum Beispiel vom Hochbett oder einer versehentlich stehengelassenen Leiter, sagt Maske. Dazu kämen Verbrennungen oder Vergiftungen mit Putzmitteln. Laut der Langzeitstudie „KIGGS“ zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (Erhebungswelle 2009 bis 2012) passieren 34,8 Prozent der Unfälle zuhause oder im privaten Umfeld, 24,2 Prozent in der Schule oder in anderen Betreuungseinrichtungen und 17,4 Prozent auf dem Spielplatz oder beim Sport.

Manchmal können sogar die Eltern selbst eine Gefahrenquelle auf dem Spielplatz sein. Zum Beispiel dann, wenn sie kleine Kinder auf ein Klettergerüst heben, dass diese aufgrund ihres Alters sonst nicht hätten erklimmen können. Oder wenn sie ihre Kinder beim Rutschen auf den Schoß nehmen. Das könne das Risiko von Beinbrüchen erhöhen, schrieben Forscher der Universität von Iowa 2018 nach Auswertung von knapp 12.700 dokumentierten Rutsch-Unfällen. Zu den Brüchen kommt es demnach, wenn die Kinder mit ihrem Bein an der Rutsche hängen bleiben, der Schwung des Erwachsenen sie aber weiterschiebt.

Ohne Risiko keine Sicherheit

Die gesetzliche Unfallversicherung erfasst alle Unfälle, die Kindern und Jugendlichen in Kita und Schule sowie Studierenden zustoßen. Rund eine Million meldepflichtige Unfälle waren es demnach im vergangenen Jahr. Beim Großteil sei es bei leichten Verletzungen geblieben, sagt Sprecherin Elke Biesel. Aber auch in Bildungseinrichtungen und auf den Wegen dorthin gebe es schwere und tödliche Unfälle. Ein wichtiger Baustein für mehr Sicherheit ist aus ihrer Sicht, den Kindern Risikokompetenz beizubringen: „Damit Kinder lernen, sich sicher zu verhalten, müssen sie lernen, mit Risiken umzugehen. Ohne Risiko keine Sicherheit.“ Dies müsse aber pädagogisch angeleitet sein und dürfe nicht dazu führen, dass Verletzungen in Kauf genommen würden.

Doch welche Folgen hat es für Kinder, wenn Eltern sie ständig umsorgen und behüten? „Das macht Kinder ängstlich und unsicher“, sagt Kinderhilfswerk-Expertin Neumann. Außerdem könne es dazu führen, dass Kinder sich komplett auf ihre Eltern verließen. „Sie passen dann selbst nicht so gut auf und finden zum Beispiel nicht den Weg allein nach Hause.“ Irena Güttel, dpa

Gesundheitsrisiko: Deutsche sitzen immer länger – von der Grundschule an! Experten fordern „bewegungsfreudigen“ Unterricht

 

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12 Kommentare
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nachdenklich
5 Monate zuvor

Es sind immer schnell Schuldige gesucht und gefunden. Mir werden solche Themen oft zu plakativ behandelt. Meist ist das einfachste EINEN Sündenbock zu finden, anstatt alle komplexen Faktoren in Betracht zu ziehen. Einfacher ist es, wenn der Lehrer oder die Eltern Schuld sind. Da ich beides bin, Mutter und Lehrerin, fühle ich mich wenn ich solche Berichte lese immer als Schuldige. Auch wenn ich mich in diesem Fall nicht als Übervorsichtig sehen würde…
Für den Bewegungsmangel sind sicher nicht allein Elterntaxi und Überfürsorge Schuld.
Einige Kinder leiden heute viel schneller unter Bewegungsmangel , weil die Lebensumstände sich geändert haben. Früher war häufig ein Elternteil berufstätig und ein Elternteil hatte mehr Zeit für die Kinderbetreuung. Außerdem ist die Bildschirmzeit der Kinder heute nicht mehr zu unterschätzen. Mit der gelobten Digitalisierung, ist gleichzeitig die Bildschirmzeit von Kindern und Jugendlichen gestiegen. Alles was Segen sein kann, kann auch gleichzeitig Fluch sein. Ist das Ipad gut und das Smartphone ist böse? Oder steht häufig beides der Bewegungsfreude im Weg? Völlig ignoriert wird in meinen Augen auch, dass wir 3 Jahre Pandemie hinter uns hatten. Was dort an Sportunterricht und Vereinswesen fehlte, fehlt heute natürlich in der Bewegungsmotivation vieler Sprösslinge.
Also bitte, keine Sündenböcke suchen. Besser die Lage umfassend bewerten!

So!?
5 Monate zuvor
Antwortet  nachdenklich

Auch wenn früher dieeistem Mütter weniger außer Haus gearbeitet haben, durften und haben wir Kids unbeaufsichtigt draußen in der Nachbarschaft ( in der Großstadt!) oder auf dem Gelände des Campingplatzes gespielt, bis es dunkel wurde. Wo gibt es das heute noch??? Kindererziehung fand unter Kindern statt. Und mit dem Auto zur Schule fuhr man erst mit 18, mit dem eigenen wohlgemerkt, haha.
Die Eltern und Kids von heute tun mir sooo leid, viele sind in einer ‚Beaufsichtigungsfalle“ gefangen.

Marie
5 Monate zuvor
Antwortet  nachdenklich

Meine Eltern waren beide Vollzeit berufstätig. Trotzdem habe ich nicht zu Hause gehockt, es war ganz normal, dass man sich nach den Hausaufgaben draußen traf. Unsere Eltern haben halt drauf vertraut, dass wir in der Gruppe „sicher“ unterwegs waren. DAS ist heute leider vielen abhanden gekommen.

Teacher Andi
5 Monate zuvor
Antwortet  nachdenklich

Plakativ und Schuldige …. aha.
Es gibt Elterntaxis, und damit ist schon die Haltung mancher Eltern offen gelegt,und damit das Schicksal der Kinder. Ich wohne in einem Dorf, das man jederzeit zu Fuß durchqueren kann, auch da werden die Kinder von der Grundschule mit dem Auto abgeholt, es entsteht zu Abholzeiten ein richtiger Elterntaxi Konvoi.
Die Lebensumstände haben sich geändert, richtig, deshalb muss man verstärkt gegen den Bewegungsmangel der Kinder angehen: Spielplätze, Waldspaziergänge, Schwimmen gehen …. aber heutzutage hat keiner mehr Zeit für sowas, alle sind im „Stress“ und wollen solche Aktionen nicht machen.Wenn ich sehe, wieviel Familien sonntags spazieren gehen, dann ist das ein verschwindender Anteil Stattdessen Bildschirm oder Event (Karussell, Rodelbahn, Skywalk, Freizeitpark, Kino ….. alles cool aber sehr bewegungsarm.
Pandemie? Hat doch in vielen Fällen gezeigt, dass die Eltern, die Rundumbetreuung gewohnt sind, gar nichts mehr mit ihren Kindern anfangen können. Man muss halt auch etwas Phantasie haben, um die Bewegungsarmut der Kinder auszugleichen. Aber das ist natürlich viel zu anstrengend, wenn sich die Eltern selbst nicht gerne bewegen.
Digitalisierung: es ist so einfach und „cool“ die Kinder mit Smartphones auszustatten, denn damit sind sie beschäftigt und vermeintlich lernen sie dabei. Nun, was lernen sie? Die Natur? Die Freude an aktiven Brettspielen? Die Freundschaften mit anderen Kids? Die soziale Bindung an eine Gruppe? Sicher nicht.
Und nun zum Vereinswesen oder Sportunterricht. Kinder und Jugendliche werden reihenwiese vom Sportunterricht befreit, wenn sie nicht teilnehmen wollen, da man im Elternhaus den Sport nicht wertschätzt. Verein? „Ich zahl doch nicht den Beitrag, wenn mein Kind nicht individuell gefördert wird“. Nichts verstanden. Kinder brauchen auch Misserfolgserlebnisse für einen starken Charakter. Dafür hat man ja die Bundesjugenspile abgeschafft.
Nun, nachdenklich, Sie sehen, es hängt halt doch viel vom Elternhaus ab, auch die Schule kann dieses Defizit nur begrenzt abfedern. Und den Bewegungsmangel nun irgendwelchen Zeiterscheinungen und Krisen zuzuschreiben ist etwas zu kurz gesprungen, oder eher, auch hier wird ein Sündenbock gesucht, um von der wirklichen Unfähigkeit abzulenken.
Wir werden nicht immer in dieser momentanen Wohlfühlzone leben können, die Entwicklungen sprechen dagegen. Also sollte man endlich mal die Ärmel hochkrempeln und nicht immer jammern und die Gründe für negative Entwicklungen irgendwo suchen.

Lisa
5 Monate zuvor
Antwortet  nachdenklich

Ich dachte auch, dass die Städte oft so lebensfeindlich und schlecht gebaut sind, dass Kinder sich da gar nicht ungefährdet bewegen können. Klar haben Kinder früher in den Trümmern gespielt. Es ist aber auch viel passiert, was heutige Nostalgiker gerne übersehen.

GriasDi
5 Monate zuvor

Kinder machen es meist so, wie es ihnen vorgelebt wird.

Tischarbeiterin
5 Monate zuvor

Ich als Erwachsene fühle mich draußen nicht immer wohl, da das „Publikum“, das da dir dort entgegen läuft, nicht immer die besten Absichten/Witze/Werte/Weltanschauung (wenn überhaupt)… hat. Die Liste könnte man beliebig fortsetzen.

Nicht umsonst lehren wir unsere Kinder vorsichtig zu sein, ohne Pausen von Schule nach Hause zu laufen, keine Geschenke/ Vorschläge von den Fremden (egal ob Frauen oder Männer) anzunehmen etc.

Und ich möchte nicht hören, das die Zeiten immer gleich sind/waren.
Sind sie eben nicht. Vielleicht nicht besser und nicht schlechter aber leider anders. Ganz anders…

mama51
5 Monate zuvor
Antwortet  Tischarbeiterin

Nicht umsonst lehren wir unsere Kinder vorsichtig zu sein, ohne Pausen von Schule nach Hause zu laufen, keine Geschenke/ Vorschläge von den Fremden (egal ob Frauen oder Männer) anzunehmen etc.

Und DAS hat meine Generation („Kinder“ sind jetzt Ende 30 J.) ihnen auch schon beigebracht. Trotzdem hatten sie ab 15h die Türklinke von außen in der Hand und haben gespielt, getobt, gespielt, getobt, gespielt, …wo auch immer! Die Uhr mussten (!) sie mit spätesten 7 Jahren lesen können, damit sie pünktlich zum Abendessen daheim waren. Und unsere Festnetznummer (Händi gab`s noch keine …) hatten sie auswendig im Kopf und einen Zettel mit TelNr. und Adresse in der Hosentasche, falls sie vor Aufregung alles vergessen haben. Bei Vorfällen riefen auch schon mal die Nachbarn oder wildfremde Leute an… war nicht schwierig und kam bei jedem Kind ca 1x vor (in den jeweils ersten 10 Lebensjahren).
Meine Kindern betonen immer mal wieder, dass sie eine tolle Kindheit hatten und bedauern die heutigen „Zwerge“ sehr!

Schade, dass (zu) viele junge Eltern von heute soooo wenig Vertrauen in ihre Kinder bzw. in ihren Erziehungsstil haben.
Vertrauen ist doch das Wichtigste: Eltern –> Kind/ Kind –> Eltern

So wird das nix! 🙁

Tischarbeiterin
5 Monate zuvor
Antwortet  mama51

Sie haben das richtig erkannt, das es um das Vertrauen ging. Allerdings nicht den Kindern, sondern der Gesellschaft gegenüber. Und da habe ich meine bedenken, die heutzutage nicht grundlos sind. Leider.

Haben dann Ihre Kinder in ihrer Schulzeit auch Amok -Schulung o.ä.?

Sie können froh sein, dass Ihre Kinder schon groß genug sind, um auf sich selbst so gut aufpassen zu können.
Unsere Kinder haben eine veränderte Realität, wo ich lieber als Helikoptermutter genannt werde, als bewusst aufs Risiko gehe.

Die goldene Mitte wäre aber auch hier die Lösung m.E.

unverzagte
5 Monate zuvor
Antwortet  Tischarbeiterin

Mir fällt dazu ein irisches Sprichwort ein: “ Fremde sind nur Freunde, die wir noch nicht kennen“.

A.J. Wiedenhammer
5 Monate zuvor
Antwortet  unverzagte

Nur weil jemand ein wohltönendes Sprichwort daraus gemacht hat, stimmt es noch lange nicht.
Ich bin sicher, auch der ein oder andere Ire mag seine Nachbarn nicht (geschweige denn ist mit ihnen befreundet), auch – oder vielleicht gerade weil – er sie kennt.

unverzagte
5 Monate zuvor

Sprichwörter erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sie geben eine Lebenserfahrung wieder.