„Es donnert“: Großdemonstration gegen Einschnitte bei Kitas, Ganztag und sozialen Diensten

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DÜSSELDORF. Soziale Einrichtungen stehen unter Druck. Corona, Ukraine-Krieg und Fachkräftemangel zehren ihre Ressourcen auf. Tausende gehen in Düsseldorf auf die Straße, um auf die Lage der Kitas, des offenen Ganztags sowie der Alten- und Behindertenpflege aufmerksam zu machen.


Mehr als 20.000 Menschen haben am Donnerstag vor dem Düsseldorfer Landtag für den Erhalt sozialer Infrastruktur wie Kitas und schulischen Ganztagsangeboten demonstriert. Nach Angaben von Polizei und Veranstaltern wurde die ursprünglich erwartete Besucherzahl damit um das Vierfache übertroffen.

Bei der Kundgebung waren Demonstranten aus ganz Nordrhein-Westfalen vertreten. Sie trugen Banner und Plakate, auf denen unter anderem zu lesen war: «Kinder brauchen Knete – Wir auch!» und «Wir tragen die Soziale Arbeit zu Grabe». Einige Teilnehmer hatten selbstgebastelte Särge dabei. Die Kundgebung wurde von mehr als 140 Organisationen unterstützt. Landesweit gab es weitere dezentrale Aktionen.

Die Protestierenden befürchten starke Einschnitte und Versorgungsengpässe insbesondere bei Kitas, der sogenannten offenen Ganztagsschule (OGS) sowie der Betreuung von Senioren und Behinderten. Die Wohnungsnot bei Menschen mit Handicap spitze sich bereits zu, warnte der Landesverband Lebenshilfe NRW.

Der Vorsitzende der freien Wohlfahrtspflege in NRW, Christian Woltering, sagte: «Wir brauchen für manche Bereiche sofort ein Rettungspaket.» Nötig sei ein Plan, der die soziale Infrastruktur langfristig sichere. «Nordrhein-Westfalen muss weiterhin das soziale Gewissen Deutschlands bleiben», mahnte er.

«In den Kitas, Ganztagsschulen und weiteren sozialen Einrichtungen donnert es, aber Schwarz-Grün hört den Knall nicht», warf SPD-Oppositionsführer Jochen Ott der Landesregierung vor. Die FDP bezeichnete die Großdemonstration als Weckruf und forderte Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) auf, die Problematik zur Chefsache zu machen.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft hat dazu aufgerufen, bis Weihnachten regelmäßig unter dem Motto «Es donnert in den Kitas – Kinder und Beschäftigte gefährdet» Mahnwachen vor Staatskanzleien, Bundesministerien oder dem Kanzleramt abzuhalten. Die Fraktionschefin der Grünen-Landtagsfraktion, Verena Schäffer, signalisierte Gesprächsbereitschaft und sendete ein bemerkenswertes Signal an den großen Koalitionspartner CDU: «Mir sind die Kitas, OGS und sozialen Einrichtungen im Zweifel wichtiger als die schwarze Null im Haushalt.»

Die kommunalen Spitzenverbände in NRW bezweifeln, dass das Ziel des Rechtsanspruchs für Grundschulkinder auf einen ganztägigen Betreuungsplatz (OGS) ab dem Schuljahr 2026/27 flächendeckend eingehalten werden kann. Gründe seien unter anderem der Fachkräftemangel in Sozial- und Erziehungsberufen, aber auch fehlende Vorgaben, wie der Rechtsanspruch realisiert werden solle, heißt es in einer Stellungnahme der Spitzenverbände für eine Expertenanhörung zum Haushaltsentwurf 2024 am Donnerstag im Landtag.

Das Land müsse kurzfristig eine kommunalscharfe Prognose zur Inanspruchnahme von Ganztagsplätzen erstellen lassen, forderten sie. Dabei sei auch zu klären, ob Elternbeiträge zur Finanzierung der Betreuung erhoben werden sollten, weil hiervon die Nachfrage nach Plätzen maßgeblich abhänge.

Mit dem Schuljahr 2026/2027 tritt bundesweit der Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz der ersten Klassenstufen in Grundschulen in Kraft. Danach kommt jedes Jahr eine Jahrgangsstufe hinzu, so dass der Rechtsanspruch ab dem Schuljahr 2029/2030 dann für alle Grundschulkinder gilt.

Nach Schätzungen des Deutschen Jugendinstituts müssten allein in NRW bis dahin bei konstantem Elternbedarf 111.000 OGS-Plätze geschaffen werden, bei einem steigendem Elternbedarf wären es 153.000. Genaue Erkenntnisse fehlten allerdings.

Im NRW-Haushaltsentwurf 2024 ist eine Aufstockung um 38.000 OGS-Plätze auf 430.500 vorgesehen. Die Ausgaben zur Finanzierung des OGS-Personals wurden nach Angaben des Schulministeriums von 454 Millionen Euro im Jahr 2017 auf 715 Millionen Euro im Jahr 2023 erhöht. 2024 sollen die Mittel um 65 Millionen Euro auf dann rund 780 Millionen steigen.

Nach Angaben der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe reicht das nicht, denn die Träger könnten nicht die beschlossenen Tarifsteigerungen stemmen. Im Haushaltsplan 2024 veranschlage das Land eine nur minimale Steigerung von drei Prozent. Die Folgen könnten Abstriche etwa bei Betreuungszeiten oder die komplette Aufgabe von Ganztagsangeboten sein.

Laut einer deutschlandweiten Umfrage der Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands haben soziale Einrichtungen seit Anfang 2022 eine Kostensteigerung von 16 Prozent verzeichnet. 65 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sie kurzfristig weitere Einschnitte bei Angeboten und Leistungen vornehmen müssen.

Von den 567 befragten Organisationen und Einrichtungen allein in NRW gaben knapp 30 Prozent an, sie hätten aus finanziellen Gründen bereits Leistungen einschränken müssen. 20 Angebote – rund 3,7 Prozent – mussten demnach sogar ganz eingestellt werden. News4teachers / mit Material der dpa

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Fakten sind Hate
6 Monate zuvor

„Mehr als 20.000 Menschen haben am Donnerstag vor dem Düsseldorfer Landtag für den Erhalt sozialer Infrastruktur wie Kitas und schulischen Ganztagsangeboten demonstriert“

Abends jammern dann die Teilnehmer, dass sie morgens unterrichten und dann mittags – nunja – auch unterrichten, aber keine Zeit haben ihren Unterricht vorzubereiten, weil sie erst um 18 Uhr wieder zuhause sind und an der Schule garnicht arbeiten können.

AlexZ
6 Monate zuvor
Antwortet  Fakten sind Hate

Könnten ja auch Eltern dabei gewesen sein, die nicht wollen, dass ihre Kita schließt oder eingeschränkt wird. Ebenfalls demonstrieren die Verbände und Träger der Kitas, wegen der finanz. Mehrbelastung.
Lesen hilft.

DerDip
6 Monate zuvor

Wie soll eine Demo den Fachkräftemangel beseitigen oder die finanzielle Situation der Kommunen?

BeWa
6 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Fragen Sie doch so etwas nicht! Die Menschen könnten frontal mit der Realtät zusammenstoßen und sich schwer verletzen.

Aber ernsthaft:

In SH gibt es das Auslaufmodell „Defizitverfahren“.
Der Einrichtungsträger ermittelt Einnahmen/Ausgaben. Das zwangsläufig entstehende Defizit hat die Heimatgemeinde der Kita zu tragen.
Nun gibt es Zuwendungen von Land und Kreis entsprechend des gesetzlich vorgeschriebenen Personalschlüssels.
Sind Planstellen dann nicht besetzt, wird das Geld (in Form von Gehalt) nicht ausgegeben, es sinkt das Defizit – d.h. der Gemeindezuschuss fällt geringer aus.

Jetzt schlägt die Stunde der Zeitarbeitsfirmen.
Aus Angst vor „Aktionen“ der Eltern bei Kürzungen der Betreuungszeiten „erlaubt“ die Kommunalpolitik die Belegung von Planstellen mit „Zeitarbeiter/innen“. Letztere haben einen höheren Stundenlohn, Boni, Dienstwagen und nicht die (unangenehmen) außerpädagogischen Aufgaben der Festangestellten. Es gibt Unruhe im Team, Personal wandert ab – gerne in die attraktive Zeitarbeit.
Das Defizit erhöht sich extrem, die Kommune muss immens mehr zuschießen als im Haushalt ursprünglich vorgesehen.

Zumindest im Ländlichen nimmt nur der kleinere Teil der Elternschaft z.B. die Nachmittagsbetreuung wahr. Das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben bez. Personalschlüssel für diese Betreuung ist geradezu absurd.

D.h. die Kommunalpolitiker müssten sich einfach nur der extrem kostenintensiven „Zeitarbeit auf Planstellen“ verweigern, der Gemeindezuschuss sinkt, Betreuungszeiten werden gekürzt, Personalstunden werden nicht verschossen für die Nachmittagsaufbewahrung von 20% der Kinder in der Einrichtung.
Dann könnte man immer noch über einen Ausgleich für Gehaltsausfälle der betroffenen Eltern sprechen. Die Gehaltsausfälle müssten gut belegt sein. Nach meiner Erfahrung würde sich dann so manche Forderung in Luft auflösen.
(Beispiel: ca. 1 Drittel unserer Mittagskinder ist nicht angemeldet, weil die Eltern die Zeit aus beruflichen Gründen brauchen. Nö! Die sind angemeldet, weil das gemeinsame Mittagessen mit den Kindern (O-Ton) „Den Familienfrieden stört.“)

DerDip
6 Monate zuvor
Antwortet  BeWa

Danke für diese ausführlichen Erläuterungen. Dass es diese Form von Zeitarbeit in Kitas gibt, war mir bisher nicht bekannt. In Pflegeberufen ist dies ja schon länger der Fall, dass die Zeitarbeitskräfte besser verdienen und bessere Rahmenbedingungen haben als Festangestellte.

Wenn es jetzt tatsächlich auch bei den Kitas so ist, dann ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis diese Form der Zeitarbeit auch an Schulen angewandt wird.

Verbunden mit den von Ihnen genannten Konsequenzen: Unruhe unter den Mitarbeitern und teurer für die Träger. Absoluter Wahnsinn, aber passt leider in die aktuellen Entwicklungen…

BeWa
6 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Danke, dass Sie nicht einfach
tl;dr
geschrieben haben!
Gleich nach Abschicken war mir die Länge des Textes etwas peinlich.
😉
Und Sie haben Recht:
auf so vielen Ebenen sind die Zustände wirklich irrwitzig.
Ich könnte mehrere Sendungen xtra3 füllen nur mit Einspielern zum Thema Kita + Gebäude + Außengelände.
Eines Tages mache ich das.