Nahost-Konflikt: Wie Kriegspropaganda über Tiktok und Co. in die Kinderzimmer kommt

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BERLIN. Tanzende Teenies und Katzenvideos? Wer Plattformen wie Tiktok nur damit verbindet irrt. Ausgespielt werden dort auch teils grausige Kriegsbilder. Nicht alle sind authentisch. Aber das ist nicht das einzige Problem.

Es ist nicht immer harmlos, was über Schülerhandys verbreitet wird (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

In den kurzen Clips geht es mal um ein Soßenrezept, mal um Schminktipps. Einen Klick weiter wird ein Junge dabei gefilmt, wie er schluchzend und mit schmerzerfülltem Gesicht von einem Bombenangriff und von verletzten Kindern erzählt. Hashtag: #SavePalestinianChildren (Rettet palästinensische Kinder). Danach muss man erst mal durchatmen. Dabei ist es noch ein vergleichsweise harmloses Beispiel unter den vielen Aufnahmen, die angesichts des Kriegs in Nahost derzeit auf der Plattform Tiktok und anderen Kanälen kursieren. Kinder und Jugendliche können so zwischen locker-flockiger Unterhaltung auf Verstörendes stoßen, das in vielen Fällen aber nicht einmal authentisch ist. Risiken gibt es daher auch für Erwachsene.

Die Inhalte, die den Menschen in die Feeds gespült werden, sind Fachleuten zufolge vor allem von wirtschaftlichen Faktoren abhängig: Gewollt sei, dass Menschen möglichst viel Zeit auf der jeweiligen Plattform verbringen. Es geht etwa um Daten und Werbung. Besonders sensationelle, besonders polarisierende und besonders emotionale Inhalte würden den Nutzenden häufiger angezeigt, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Edda Humprecht. Sie forscht an der Universität Jena unter anderem zu Desinformation.

Derartige Inhalte riefen in der Regel auch besonders viele Reaktionen in den Kommentarspalten hervor: sehr starke Meinungen und Gegenpositionen, auch Hasskommentare. Dass solche Inhalte von den Plattformen besonders gepusht würden, wertet Humprecht als schädlich für die Demokratie. Wer nur unbeteiligt die Kommentare lese, könne den Eindruck gewinnen, dass es in der Debatte nur noch zwei Extrempositionen gibt.

Konflikte und Kriege scheinen da besonders geeignete Themen zu sein. «Kriegsthemen sind bedrohlich, die Leute interessieren sich dafür, manchmal spielt vielleicht auch Voyeurismus eine Rolle», sagt Martin Emmer, Gründungsdirektor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft und Leiter der Arbeitsstelle Mediennutzung an der FU Berlin. «Das bedeutet, dass spektakuläre Inhalte, auch Gewaltinhalte, oft eine Faszination ausüben und eine höhere Nachfrage und Interaktionen generieren.»

Das wirft die Frage auf: Haben Lehrkräfte überhaupt eine Chance, mit kurzfristig eingeschobenen Informationen über den Nahost-Konflikt – wie von Kultusministerinnen und Kultusministern derzeit gefordert (News4teachers berichtete) – dagegenzuhalten?

«Soziale Medien sind eine der größten Herausforderungen im Kampf gegen Hass und Radikalisierung», sagt Dervis Hizarci, Vorstand der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Diese ist seit 2003 aktiv und bietet unter anderem Workshops in Schulen an. Hizarci beschreibt soziale Medien als eine Art Verstärker für schon bestehende gesellschaftliche Missstände. Medien wie Tiktok böten Zeitvertreib, aber Nutzende würden dabei auch verstärkt an den Konsum kurzer, knackiger Information gewöhnt, die auf den eigenen Geschmack zugeschnitten sei. «Das merkt man auch am Lernverhalten und der Aufmerksamkeitsspanne», sagt Hizarci, der früher als Lehrer in Kreuzberg arbeitete.

Die Arbeit daran, Einstellungen und Verhalten von Menschen zu verändern, drohe daher schwieriger zu werden. Denn die Realität sei komplexer als es in sozialen Medien erscheine. Sich mit vielschichtigen, neutralen Informationen zu beschäftigen, koste viel mehr Zeit. Bedenklich sei die Entwicklung gerade bei Kindern und Jugendlichen, die nur soziale Medien nutzen, sagt Hizarci. In einer Bitkom-Umfrage vom Jahresbeginn stimmte gut jeder zweite unter 30-Jährige der Aussage zu, dass er ohne soziale Netzwerke oft nicht wüsste, was in der Welt geschieht.

«Wir alle tendieren auch dazu, unsere Weltbilder bestätigen zu lassen von Inhalten», sagt der Berliner Wissenschaftler Emmer. Auf Tiktok, aber auch Instagram finden sich häufig Formate, in denen Menschen ihr Gesicht in die Kamera halten und sich zu Themen wie dem Krieg äußern.

«Die Wirkung von Desinformation ist besonders groß, wenn Meinungsführende der eigenen Community Positionen verbreiten»

Hizarci imitiert eine typische Ansprache: «Hey Leute! Das geht so gar nicht. Habt ihr mitbekommen … Ich habe mir das mal genauer angeschaut.» Das wirke durch lebensweltliche Nähe und Authentizität, schildert Hizarci. Jugendliche vertrauten selbst Menschen, die sich bisher eher mit anderen Themen wie etwa Smartphone-Tipps hervorgetan hätten. Hinzu komme, dass man sich in Chatgruppen mit Freunden und Bekannten gegenseitig bestärke, sich beim Kommentieren hochschaukele. Das sei schwierig aufzubrechen. Gemeinsame Feindbilder seien identitätsstiftend.

«Die Wirkung von Desinformation ist besonders groß, wenn Meinungsführende der eigenen Community Positionen verbreiten», sagt Humprecht. Werde eine Position häufig wiederholt, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie geglaubt wird. Hinzu komme noch, dass Menschen in einem Unterhaltungsumfeld weniger auf der Hut seien: Desinformation mit emotionalen Inhalten könne dort besonders gut greifen.

Faktencheck-Organisationen weltweit haben zahlreiche Beispiele von Falschinformationen im Krieg zwischen Israel und den Hamas untersucht. Eine Strategie ist es, altes Foto- oder Videomaterial aus einem anderen Kontext als aktuell auszugeben. Ein Beispiel: In einem Video, das Faktenchecker der Deutschen Presse-Agentur kürzlich prüften, war eine Stadt bei Nacht zu sehen, in rotes Licht getaucht, begleitet von Knallgeräuschen – angeblich aktuelle Aufnahmen aus dem Gaza-Streifen nach israelischen Angriffen. Die Überprüfung ergab jedoch, dass ältere Szenen aus Algerien zu sehen sind, wahrscheinlich als Fußballfans mit Feuerwerk feierten.

Die angefragten Fachleute gehen durchweg davon aus, dass Desinformation im aktuellen Krieg konzertiert eingesetzt wird. Lanciert würden stark emotionalisierende Inhalte, die Nutzende dann wissentlich oder unwissentlich verbreiten, erklärt Marcus Bösch, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg unter anderem zu Desinformationskampagnen in Online-Medien forscht. «Dabei werden Verweise auf den ursprünglichen Urheber verschleiert, um Verbindungen zu kappen.» Diese Kampagnen trügen ganz in deren Sinne dazu bei, die Stimmung anzuheizen. Es gehe darum, Meinungen zu manipulieren und Diskurse zu beherrschen.

Den Vorteil für die Akteure beschreibt der Berliner Forscher Emmer so: Kampagnen könnten global ausgespielt werden. «Die Absender können nationalen Sicherheitsakteuren auf diese Weise voraus sein.»

In Berlin wurde die Polizei kürzlich offenbar überrascht von der schnellen und massiven Mobilisierung zu einer zunächst nicht verbotenen palästinensischen Demonstration. Statt der angemeldeten 50 Teilnehmer kamen mehr als 1000. Dafür sei kurzfristig intensiv über das Internet und Chatkanäle geworben worden, sagte Polizeipräsidentin Barbara Slowik später.

Dennoch: Emmer plädiert dafür, die Rolle sozialer Medien nicht überzubewerten. Im aktuellen Fall sieht er «ignorierte, gescheiterte Integrationsdebatten über Jahrzehnte hinweg» als zentrales Problem. Dass Menschen offenbar lange Zeit antisemitischen Hass kultiviert hätten, sei im Alltag wenig wahrgenommen worden und werde nun durch diese Medien sichtbar. «Es fehlen Belege dafür, dass die sozialen Medien die Menschen total radikalisiert hätten.»

Auch das heutige Muster der jungen Tiktok-Generation ist für ihn nichts völlig Neues: Auch früher schon habe es Menschen gegeben, die den ganzen Tag Unterhaltungs-TV gesehen hätten und abends dann die «Tagessschau». Heute komme diese Form der unpolitischen Mediennutzung lediglich in einem neuen technischen Gewand daher.

«Es sollte nicht so weit kommen, dass sich Zynismus breit macht und Informationen unabhängig von der Quelle als gleichwertig betrachtet werden»

Was tun? Bei Kindern und Jugendlichen seien die Eindrücke durch die Kriegsbilder sehr viel stärker, weil sich ihr Gehirn noch entwickelt, sagte die Medienpsychologin Maren Urner kürzlich in der ARD. Umso wichtiger sei es, den Konsum nicht ausufern zu lassen, sich Nutzungsmuster bewusst zu machen und darüber zu sprechen. Das Gehirn – auch von Erwachsenen – brauche Zeiten, in denen nichts Neues hereinkomme, um das Gesehene zu verarbeiten.

Andere Forschende sprechen sich im Gespräch dafür aus, das Wissen zum Beispiel über manipulierte Inhalte, Faktenprüfung und das Entstehen von Nachrichten zu stärken. Sie sind auch dafür, generell im öffentlichen Diskurs verbal abzurüsten, weil etwa stark zugespitzte, pauschalisierende Äußerungen einer Polarisierung eher zuträglich seien. Angebote für Jugendliche müssten empathisch und attraktiv sein, an ihrer Lebenswelt andocken und sie beispielsweise auch mal zum Perspektivwechsel bringen.

«Es sollte nicht so weit kommen, dass sich Zynismus breit macht und Informationen unabhängig von der Quelle als gleichwertig betrachtet werden», sagt Humprecht. Von Gisela Gross, dpa

Schulleiterin über soziale Medien: „Wir verlieren unsere Kinder“ (Eltern und Lehrer sind ahnungslos)

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Karl Heinz
6 Monate zuvor

Alles gut und schön, wenn die technischen Aspekte erklärt werden.
ABER
Sorgen macht der eher die Faszination, der Konsum, das Weiterleiten.
Die Kinder reden teilweise recht offen darüber, bringen z.T. auch ihre Abscheu zum Ausdruck.
Und TROTZDEM schauen sie es sich immer und immer wieder an, leiten es weiter.
Wider besserem Wissens.

Eine Frage für mich wäre z.B. was genau ich als Lehrkraft hier tun soll?
Medienkompetenz üben – Fake von nicht Fake unterscheiden?
Oder das Gezeigte und Gesehene analysieren und eher psychisch besprechen.
Damit mache ich aber das Grauen zum Unterrichtsinhalt…
Von den politischen und sozialen Fallstricken (bestärken von Vorurteiln etc.) ganz zu schweigen…
Ggf macht man die Situation eher schlimmer als besser…

Carsten
6 Monate zuvor

Hat jemand schon mal einen Elternbrief geschrieben, in dem die Elternpflichten – hier Begrenzung des Medienkonsums – eingefordert werden ? Der Schulrechtler Günther Hoegg hatte in einem seiner Bücher ein gute Vorlage.

unverzagte
6 Monate zuvor
Antwortet  Carsten

Wäre für mich eher ein Thema für den Elternabend. Nachdrückliches Bitten mag auch hier eventuell effektiver als Einfordern sein….

Carsten
6 Monate zuvor
Antwortet  unverzagte

Eröffnungsvorschlag: „Liebe Eltern, in einer Welt, in der die Gefahren für Kinder nicht mehr von Isegrimm und Meister Petz, sondern von Bildschirmen ausgehen, sind auch Sie gehalten, Ihr Schutzverhalten anzupassen . . . . „

unverzagte
6 Monate zuvor
Antwortet  Carsten

🙂 ok, wenn schon nicht mehr „bösen Hexen“ gewarnt werden muss, dann bitte vor Meister*in Petz oder war der Bär divers unterwegs… ?

Unfassbar
6 Monate zuvor
Antwortet  unverzagte

Beim Medienkonsum wäre ich dabei, jedoch setzt das eine gewisse Medienkompetenz und Vorbildfunktion seitens der Eltern voraus. Wenn es speziell um Kriegspropaganda geht, insbesondere eine pro Hamas, glaube ich nicht, dass diese Eltern zum Elternabend kommen.

Realist
6 Monate zuvor

Ja, es muss etwas getan werden, AUCH in der Schule. Und zwar nicht nur im Politik- bzw. Gesellschaftskunde-Unterricht.

Aber realistischerweise muss man dann auch einmal ehrlich sein und Fachinhalte zurückstellen. Und dann natürlich auch nicht bei den nächsten PISA-Studien wieder herumjammern, dass die Schulen die Unterrichtszeit mit „sozialem Gedöns“ vertrödeln. Aber wie ich unsere Glorreichen und andere „Bildungsexperten“ kenne, wird von den Lehrkräften wieder die eierlegende Wolllmichsau erwartet, die alles, und noch viel mehr, mit viel zu wenig Zeit erledigt.

Und wir müssen aufpassen, dass es sich nicht (wieder) zum gesellschaftlichen Konsens entwickelt, dass auch hier „Bildung“ (und damit die Schulen) wieder die Lösung aller Probleme herbeiführen soll. Ist schließlich oft der kleinste gemeinsame Nenner, der keinem Entscheidungsträger wehtut und wo alle zustimmend nicken. Oder alternativ, wenn’s nicht funktioniert, wieder zum Sündenbock gemacht wird. Leider schon zu oft erlebt.

Lisa
6 Monate zuvor

Zu den Medien: Während der Anwerbungen des Islamischen Staates habe ich mich viel mit deren Videos beschäftigt . Sie sind trotz der anscheinenden Authentizität technisch auf hohem Niveau, man merkt, dass da Fachleute am Werk waren. Und sie verstanden es meisterhaft, gerade den Underdogs oder Jugendlichen, die sich so fühlen, das Gefühl einer nahezu epischen Wichtigkeit zu geben. Es war so ein bisschen wie Herr der Ringe das absolut Gute gegen das absolut Böse. In unserer Realität existiert das gar nicht auf diese Weise, es ist alles viel profaner. Ähnliche Videos werden auch vom Iran und der Hamas produziert. Sich auf die Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu stellen, ist etwas, was zunächst der Sinnsuche entspricht.( Tatsächlich funktioniert es gerade weil die letzten Jahre über wenn auch nicht nur durch Wokeness eine Segration bewirkt wurde, bei Palästina besser als beispielsweise Ukraine. Da haben mir Schüler auch schon sinngemäß gesagt, was es sie denn anginge, wenn sich zwei weiße Völker die Schädel einschlagen wollten 🙁 )
Doch die Schüler wollen durchaus sachliche Informationen. Doch hier spielt eine große Rolle, ob sie dem Lehrer generell vertrauen. Wenn er ständig im Betroffenheitsmodus unterwegs ist, erschwert er die Sachlichkeit.
Und ich überlege ständig, wie man den Schülern einen anderen Sinn als Kampf, Mord und Terror in seinem Leben vermitteln kann. Doch ich komme auf keine befriedigende Lösung. Diese Kinder sind wütender, pessimistischer und depressiver als wir es trotz Atomwaffengefahr und saurem Regen waren.