MÜNCHEN. Fast zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland halten ungleiche Chancen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund für ein großes Problem. Dass die Digitalisierung sogar noch zu einer größeren Ungleichheit im Bildungssystem führen könnte – dies befürchten 53 Prozent der Befragten. Nur 14 Prozent glauben das nicht. Dies sind Ergebnisse des jüngsten Bildungsbarometers des ifo Instituts. Die Umfrage offenbart allerdings auch einen eklatanten Widerspruch im Meinungsbild der Deutschen zur Frage der Bildungsgerechtigkeit.
Der kürzlich veröffentlichte ifo-Chancenmonitor bestätigte den alten PISA-Befund, dass die Chancen auf Bildungserfolg in Deutschland stark ungleich verteilt sind (News4teachers berichtete): Die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, liegt für Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund bei 21,5 Prozent. Dagegen liegt sie bei 80,3 Prozent, wenn ein Kind zwei Elternteile mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund hat. Ungleichheiten entstehen selbst bei gleichen schulischen Leistungen: Die Wahrscheinlichkeit, eine Übertrittsempfehlung für das Gymnasium zu erhalten, ist bei gleichen Noten für Kinder aus bessergestellten Familien rund 2,5-mal höher als bei Kindern aus Arbeiterfamilien.
„Dies stellt eine klare Verletzung der Idee der Chancengerechtigkeit dar: Familiäre Umstände – also Faktoren, die ein Kind nicht selbst beeinflussen kann – schränken die Möglichkeiten auf Bildungserwerb und späteren Lebenserfolg ein. Auch andere äußerliche Faktoren, wie z. B. das Geschlecht oder die Region, können den Bildungserfolg beeinflussen“, so schreiben die Autorinnen und Autoren.
„Die Sorgen darüber, dass Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft nicht die gleichen Chancen im Bildungssystem haben, sind in den letzten Jahren größer geworden“
Hintergrund: Schon die erste PISA-Studie hatte 2001 festgestellt, dass in keinem anderen der mehr als 40 untersuchten Staaten der Zusammenhang zwischen sozialem Status des Elternhauses und dem Bildungserfolg größer war als in Deutschland. Trotz zwischenzeitlicher Erfolge hat sich daran hierzulande, wie mittlerweile zahlreiche Bildungsstudien aufzeigen, wenig geändert. Noch immer gehören Migrantenkinder und/oder Kinder aus armen Familien überproportional häufig zu den leistungsschwachen Schülern. Und: Es gibt immer noch viel zu viele Schüler, die an einfachsten Aufgaben scheitern. Zwischen 15 und 20 Prozent, je nach Studie, dürften absehbar später kaum in der Lage sein, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen.
Kein Wunder also, dass das Thema Bildungsgerechtigkeit die Deutschen umtreibt. 62 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, so hat das aktuelle ifo-Bildungsbarometer ergeben, sehen ein großes Problem darin, dass Kinder mit und ohne Migrationshintergrund ungleiche Bildungschancen haben. Fast genauso viele Befragte finden ungleich verteilte Chancen zwischen Kindern aus guten und aus schwierigen sozialen Verhältnissen problematisch.
„Die Sorgen darüber, dass Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft nicht die gleichen Chancen im Bildungssystem haben, sind in den letzten Jahren größer geworden“, sagt Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. „Die Deutschen wollen, dass etwas dagegen getan wird.“ Vor vier Jahren hatten nur knapp die Hälfte (47 Prozent) der Befragten angegeben, ungleiche Chancen zwischen Kindern aus guten und schwierigen Verhältnissen seien ein ernsthaftes Problem, 14 Prozent sahen es sogar als gar kein Problem an. Heute: nur noch halb so viele, also sieben Prozent.
Um die Bildungsungleichheit zu bekämpfen, sprechen sich nun 69 Prozent der Befragten für eine gezielte finanzielle Förderung von Schulen mit vielen benachteiligten Kindern aus, in Form eines sogenannten Chancenbudgets. Dagegen sind lediglich 20 Prozent der Befragten. Ebenso 69 Prozent befürworten, den Anteil an Schüler*innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft und unzureichenden Sprachkenntnissen auf 30 Prozent je Klasse zu beschränken (wie immer das auch praktisch funktionieren soll). Gegen diese Maßnahme sind 20 Prozent. 65 Prozent der Deutschen sind für die Einführung eines Index, der zeigt, ob Schulen aufgrund des sozialen Umfelds der Schülerschaft vor besonderen Problemen stehen, 18 Prozent sind dagegen. Und 55 Prozent unterstützen Gehaltszuschläge für Lehrkräfte an Schulen mit vielen Schüler*innen aus benachteiligten Verhältnissen; 31 Prozent sind dagegen.
Allerdings: Stimmig ist die Haltung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in dieser Frage nicht. Obwohl eine Mehrheit der Befragten die oben genannten Maßnahmen zur Unterstützung von Schulen mit vielen benachteiligten Schülerinnen und Schülern befürwortet, sprechen sich gleichzeitig 60 Prozent dafür aus, mögliche zusätzliche staatliche Ausgaben gleichmäßig auf alle Schulen zu verteilen – was logischerweise nicht zusammengeht. Vor die Wahl gestellt sind demgegenüber nur 40 Prozent dafür, mit den zusätzlichen Ausgaben Schulen mit vielen Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten Verhältnissen gezielt zu unterstützen.
Als geringeres Problem sehen die Befragten die unzureichende Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung. Gut zwei Fünftel (41 Prozent) der Bevölkerung halten dies für ein (sehr) ernsthaftes Problem, während knapp ein Viertel (23 Prozent) dies als gar kein oder kleines Problem ansieht. Die Deutschen sehen vergleichsweise wenige Probleme in ungleichen Chancen zwischen Jungen und Mädchen. 36 Prozent sehen ungleiche Chancen zwischen Jungen und Mädchen als ein mittleres Problem an, 15 Prozent als ein ernsthaftes Problem und 5 Prozent als ein sehr ernsthaftes Problem.
Dabei sind zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den Unterrichtsfächern ersichtlich. Im Fach Sport sehen 38 Prozent der Befragten Jungen stark oder eher bevorzugt, während nur 15 Prozent Mädchen bevorzugt sehen. Der größte Anteil von 46 Prozent der Befragten ist der Meinung, dass keine derartige Bevorzugung stattfindet. Für sprachliche Fächer ergibt sich ein umgekehrtes Bild: Hier glauben 29 Prozentder Befragten, dass Mädchen bevorzugt werden, und nur 2 Prozent sehen Jungen im Vorteil. 69 Prozent sehen keine Bevorzugung von Jungen oder Mädchen. Im Fach Mathematik ist das Bild etwas ausgeglichener. Hier finden 22 Prozent, dass Jungen bevorzugt werden, und 12 Prozent, dass Mädchen bevorzugt werden. Zwei Drittel der Befragten (66 Prozent) nehmen weder Jungen noch Mädchen im Fach Mathematik von Lehrkräften bevorzugt behandelt wahr.
„Dies zeigt, dass die Deutschen deutlich pessimistischer auf den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Ungleichheit schauen“
Ob die Digitalisierung zu einer größeren Ungleichheit im Bildungssystem führen wird? Eine Mehrheit von 53 Prozent stimmt dieser Frage zu. Gut ein Drittel der Befragten ist unentschieden und 14 Prozent stimmen nicht zu. Im Vergleich zu 2017 ergibt sich damit wiederum eine deutliche Verschlechterung im Meinungsbild der Deutschen: Damals stimmte noch eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Aussage nicht zu und nur 5 Prozent waren unentschieden. 44 Prozent stimmten bereits vor fünf Jahren der Aussage zu. „Dies zeigt, dass die Deutschen deutlich pessimistischer auf den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Ungleichheit schauen“, so schreiben die Autorinnen und Autoren.
Die Ergebnisse basieren auf einer Auswertung ausgewählter Fragen des ifo Bildungsbarometers 2023. Die Befragung wurde vom 17. Mai bis 5. Juni 2023 durch Talk Online Panel GmbH unter insgesamt 5.636 Personen durchgeführt. News4teachers
Hier geht es zum Aufsatz “Was denken die Deutschen zu Chancenungleichheit im Bildungssystem?“ von Katharina Werner, Vera Freundl, Franziska Pfaehler, Katharina Wedel und Ludger Wößmann, in: ifo Schnelldienst 11/2023.
Drängender denn je: Warum wir mehr Chancengerechtigkeit im Schulsystem brauchen – eine Gegenrede
