Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.
News4teachers: Wie schwer es Nicht-Betroffenen fällt, Kritik von Menschen anzunehmen, die von Rassismus betroffen sind, hat eindrücklich der Streit um die Abitur-Lektüre „Tauben im Gras“ in Baden-Württemberg gezeigt. Trotz massiver Kritik wegen des rassistischen Vokabulars des Werks dauerte es mehrere Monate, bis das Kultusministerium entschied, eine Alternative zur Verfügung zu stellen (News4teachers berichtete). Hat Sie das überrascht?
Karim Fereidooni: Vor dem Hintergrund der Tabuisierung dieses Themas hat mich das nicht überrascht, aber ich finde es sehr, sehr schade. Den Verlauf dieses ganzen Unterfangens finde ich wirklich bedauerlich, besonders weil die Schwarze* Lehrerin Jasmin Blunt, die mit ihrer Kritik am Buch an die Öffentlichkeit gegangen ist, schließlich den Schuldienst quittiert hat. Als eine von wenigen Schwarzen Lehrkräften war sie ein wichtiges Rollenvorbild für Schwarze Menschen und Menschen mit internationaler Familiengeschichte. Sie sozusagen aus dem Lehrerberuf rauszudrängen, weil das Kultusministerium die Lernchance nicht wahrnehmen wollte und stattdessen darauf bestanden hat, dass dieses Buch unterrichtet werden muss, ist für mich eine äußerst traurige Entwicklung. Das ist eigentlich eine Katastrophe für das deutsche Schulwesen.
Dieser Fall verdeutlicht eine ganze Reihe von Problemen. Zunächst einmal finde ich es sehr schwach, dass die Kultusministerin nicht direkt eingelenkt hat. Sie hätte die Kritik wahrnehmen müssen. Sie hätte auch sagen können: „Ich kann nichts zum Thema Rassismus sagen, weil ich davon nicht betroffen bin und mich noch nicht eingelesen habe, aber ich höre auf die Stimmen, die sich stärker damit auseinandersetzen.“ Wir als Professor:innen haben uns sogar mit einem offenen Brief an das Kultusministerium gewandt, darauf aber keine Antwort erhalten. Diese fehlende Diskursfähigkeit der Kultusministerin finde ich sehr problematisch.
Außerdem stellt sich die Frage, wer überhaupt diese Schulbuchlektüre ausgewählt hat. Man hätte die Zusammensetzung derjenigen hinterfragen müssen, die für die Auswahl von Schullektüren verantwortlich sind. Da gibt es zu wenig jüdische Menschen, zu wenig muslimische Menschen, zu wenig Schwarze Menschen. Einer Person, die selbst Rassismuserfahrungen gemacht hat, wäre wahrscheinlich aufgefallen, dass in diesem Buch sehr häufig das N-Wort vorkommt.
Und dass in einer Zeit, in der wir alle Lehrkräfte dringend brauchen, eine Schwarze Lehrerin ihren Beruf aufgibt, ist eine Katastrophe für das deutsche Schulwesen. Diese Katastrophe wurde jedoch von der Kultusministerin herbeigeführt, die leider ihre Lernchancen in dieser Hinsicht nicht wahrgenommen hat.
News4teachers: Ich würde gerne noch einen Blick in die Praxis werfen. Sie selbst haben vor Ihrer Unitätigkeit als Lehrer gearbeitet und dabei auch rassismusrelevante Situationen im Unterricht erlebt. Wie lässt sich damit umgehen?
Fereidooni: Das lässt sich im Unterricht aufarbeiten, wenn die Lehrkraft in der Lage ist, den Rassismus zu erkennen. Das Problem ist, dass wir in der ersten und zweiten Phase der Lehrer:innenbildung mit den angehenden Lehrkräften sehr wenig über menschenfeindliche Strukturen, menschenfeindliche Positionen sprechen. Das ist eine Leerstelle. Wir müssen sie gezielter auf solche Situationen vorbereiten, auch indem wir ihnen beibringen, wie sie im Unterricht, unabhängig vom Fach, Menschenfeindlichkeit thematisieren können. Eine Professionskompetenz auf diesem Gebiet auszubilden, passiert bisher zu selten.
Wie lässt sich das noch aufarbeiten? Eine Möglichkeit ist kollegiale Fallberatung, die rassismuskritisch ausgerichtet ist. Das bedeutet, dass sich regelmäßig, alle zwei bis drei Wochen, fünf bis sieben Kolleg:innen treffen und eine bis zwei Stunden lang rassismusrelevante Fälle besprechen und Supervision einholen. Es gibt viele Wege, sich auch privat weiterzubilden. Besonders schwierig ist es aber, wenn man versucht, allein zu agieren. Wir brauchen unsere Kolleg:innen in Situationen, in denen wir nicht weiterwissen, und wir müssen voneinander lernen, auch von den Schüler:innen. Daher ist es wichtig, anderen zuzuhören und nicht defensiv zu reagieren, wenn Schüler:innen oder Kolleg:innen Rassismus ansprechen. Es geht darum, unterschiedliche Lebensrealitäten zu verstehen und anzuerkennen.
News4teachers: Was können Lehrkräfte tun, wenn sie sich in diesem Bereich fortgebildet haben und rassismusrelevante Aussagen bei Kolleg:innen und Eltern erkennen?
Fereidooni: Widersprechen – mit Bildung im Rücken lässt es sich leichter widersprechen – und dann auch eine Erklärung geben und eine Erklärung einfordern. Zum Beispiel: „Hör mal, lieber Michael, du bist ein sehr geschätzter Kollege, ich habe viel von dir gelernt und arbeite gerne mit dir zusammen, aber ich habe das Gefühl, dass du den Begriff ‚Migrationshintergrund‘ immer in einem negativen Zusammenhang verwendest. Stimmt mein Eindruck?“ Dann muss Michael eine Erklärung geben, gleichzeitig muss ich darlegen können, was mich daran stört. Ich muss den Mut aufbringen, zu widersprechen. Ein wichtiger Punkt dabei ist, die Person anzunehmen, aber die Position abzulehnen. Ich würde niemals sagen: „Du bist ein Rassist“ oder „Du bist ein Nazi.“ Stattdessen würde ich sagen: „Das, was du gesagt hast, ist rassismusrelevant, und ich erkläre dir auch, warum. Ich bin auch nicht der Oberlehrer, sondern ich erzähle dir auch von meinen eigenen Fehlern und wie ich daran arbeite.“ Es geht darum, der Person respektvoll zu begegnen, ihr die Möglichkeit zu geben, ihr Gesicht zu wahren. Deshalb sollte man sich auch Zeit für das Gespräch nehmen und es unter vier Augen führen.
Und wenn alle Stricke reißen, die Lehrkraft trotzdem etwa darauf besteht, weiterhin das N-Wort zu sagen, kann man natürlich auch zu den Vorgesetzten gehen und auf deren Schutzverpflichtung gegenüber den Mitarbeiter:innen und Schüler:innen verweisen. Dann ist es die Aufgabe der Schulleitung zu handeln.
News4teachers: Sie selbst bilden an der Universität Lehrkräfte aus. Was ist Ihnen wichtig, angehenden Lehrer:innen mitzugeben?
Fereidooni: Mir ist es wichtig, Seminare zu ungleichheitsrelevanten Themen durchzuführen. Besonders liegen mir die Themen Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit am Herzen. Dabei geht es mir nicht nur um theoretische Wissensvermittlung, wir kooperieren beispielsweise über das Schüler:innenlabor der Ruhr-Universität Bochum mit Schüler:innen aus dem Ruhrgebiet. Ein ganzes Semester lang bereiten sich unsere Studierenden darauf vor, für die Schüler:innen einen Unterrichtstag zu verschiedenen Themen zu gestalten, die in Schulbüchern oftmals nicht vorkommen wie Racial Profiling oder Regenbogenfamilien. Auch diese Verzahnung von Theorie und Praxis, empirische Befunde in einem konkreten Unterrichtssetting zu didaktisieren, ist mir wichtig. Daneben ist es mir ebenfalls ein Anliegen, den Stellenwert von Bindung zu betonen. Bildung ist zweifellos wichtig, aber sie kann ohne Beziehung nicht funktionieren. Es geht nicht nur darum, reinen Stoff zu vermitteln, sondern auch darum, die Gefühlslagen der Schüler:innen zu erkennen. Man muss Ansprechpartner oder Ansprechpartnerin sein – das ist etwas, was ich den jungen Menschen vermitteln möchte. Ob mir das gelingt, müssen meine Student:innen entscheiden.
News4teachers / Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
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*Schwarz: wird in diesem Interview auch als Adjektiv großgeschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, „dass es eine politische Realität und Identität bedeutet“, wie Noah Sow, Autorin, Dozentin, Künstlerin und Aktivistin, in ihrem Buch „Deutschland Schwarz Weiß – Der alltägliche Rassismus“ erklärt. Schwarz, so Noah Sow, ist „die politisch korrekte und vor allem selbstgewählte Bezeichnung für Schwarze Menschen“.
Darüber hinaus berät er die Bundesregierung (Kabinett Scholz I) zur Erarbeitung der Gesamtstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“.
Mehr Informationen unter: www.karim-fereidooni.de
