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Deutschland hat ein Rassismus-Problem (auch in den Schulen) – und das nicht erst seit gestern. Ein Kommentar

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BERLIN. Landauf, landab häufen sich die Meldungen, wonach junge Menschen – zuletzt auch Schülerinnen und Schüler des elitären Internats Louisenlund – die Nazi-Parole „Ausländer raus! Deutschland den Deutschen!“ grölen und dabei ausgelassen hüpfen, mal mit, mal ohne Hitlergruß. „Was wabert da durch unsere Clubs und Schützenfeste: Dumpfes Deutschtum? Oder eine ‚neue Dimension‘ von Ausländerhass?“, fragt sogar die „Bild“-Zeitung (ausgerechnet), die gerne selbst im Trüben fischt. Mich wundert, dass sich überhaupt jemand wundert. Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

Rassismus ist in Deutschland niemals wirklich aufgearbeitet worden. Illustration: Shutterstock

Deutschland hat ein Rassismus-Problem – und das nicht erst seit gestern. Das bestätigen zahlreiche Untersuchungen, die sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema beschäftigt haben. Etwa die: In der Studie «Being Black in the EU» zu Rassismus gegen Schwarze in gut einem Dutzend EU-Staaten, die im vergangenen Oktober veröffentlicht wurde, hat Deutschland am schlechtesten abgeschnitten (News4teachers berichtete). Auch das deutsche Bildungssystem kommt dabei nicht gut weg.

Demnach gaben 76 Prozent der Befragten in Deutschland an, in den vergangenen fünf Jahren wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion benachteiligt, belästigt oder sogar angegriffen worden zu sein. Das ist der höchste Anteil unter den 13 EU-Ländern, in denen Menschen mit afrikanischen Wurzeln zu Rassismus und Diskriminierung befragt wurden. 46 Prozent der Befragten in Deutschland zeigten auf, in den vergangenen fünf Jahren Opfer von Diskriminierung im Bildungssystem geworden zu sein – so viele wie in keinem anderen der untersuchten EU-Staaten.

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Ein Jahr zuvor veranschaulichte eine Umfrage der Landesschülervertretung Hessen, an der sich knapp 9.500 Jugendliche aus der Oberstufe und den Abschlussklassen ab der Stufe 9 beteiligt hatten, wie verbreitet Alltagsrassismus in deutschen Schulen ist. Mehr als 70 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler gaben demnach an, in der Schule entweder selbst von Rassismus betroffen gewesen zu sein oder diesen bezeugt zu haben. Haupt- und Realschulen sind demnach am häufigsten von Rassismus-Vorfällen betroffen.

Der Völkermord an den Herero durch deutsches Militär jährt sich in diesen Tagen zum 120. Mal

Alltagsrassismus, zumindest Unsensibilität gegenüber dem Thema, lässt sich immer wieder auch im Leser*innenforum auf News4teachers beobachten (bevorzugt dann, wenn wir über das Thema berichten). Jüngster Fall: Unsere Berichterstattung darüber, dass der Thienemann Verlag eine Neuausgabe von Jim Knopf herausgebracht hat – mit einem weniger stereotyp überzeichneten Titelhelden auf dem Cover und ohne das N-Wort, das an einer Stelle im Original vorkam. Angesichts der mittlerweile ja durchaus verfügbaren Informationen zur deutschen Kolonialgeschichte – der Völkermord an den Herero durch deutsches Militär jährt sich bekanntlich in diesen Tagen zum 120. Mal – sollte man meinen: eine Selbstverständlichkeit. Schließlich käme auch niemand mehr auf die Idee, die Karikatur eines jüdischen Jungen auf ein Kinderbuch zu drucken.

Aber weit gefehlt. Nicht wenige Leserinnen und Leser – Bildungspublikum! – gaben im Forum zum Beitrag wütenden Protest zu Protokoll. Von „Zensur“ war die Rede. Und davon, dass es „verkrampft“ sei, das N-Wort im Bericht nicht auszuschreiben (die Tatsache ignorierend, dass es sonst ja immer weiter transportiert würde). „Das ist doch die Krux: Kindern wird von Erwachsenen überdeutlich vermittelt, was sie zu verinnerlichen haben“ – schrieb allen Ernstes eine Pädagogin, zu deren Aufgaben es doch eigentlich gehört, Kindern die Werte des Grundgesetzes zu vermitteln.

Wohlgemerkt: Jeder und jede dieser Empörten weist es entschieden von sich, Rassist*in zu sein. Natürlich, so räumte eine weitere Leserin treuherzig ein, spreche man heute nicht mehr von „Menschenrassen“. Denn: „Jetzt sind wir eine Art und es ist von Unterarten die Rede.“ Kommentar der Redaktion dazu: „Es ist nirgends von ‚Unterarten‘ die Rede, jedenfalls nicht in der Wissenschaft. Kurios, welche semantischen Verrenkungen versucht werden, um das Konzept der Menschenrassen zu retten. Es ist aber nicht haltbar.“ Allerdings sah der sächsische Lehrplan für das Fach Biologie noch 2019 vor, dass in zehnten Klassen „Merkmale von europiden, negriden und mongoliden Menschen“ zu vermitteln seien. Da ist es dann bis zu Herrenmenschen nicht weit.

Meine These: Rassismus ist in Deutschland niemals wirklich aufgearbeitet worden. Anders als der Antisemitismus und die Shoah, über die in Schulen und Erinnerungsstätten immerhin breit aufgeklärt wird (mit welchem Erfolg sei mal dahingestellt), thematisiert kaum jemand die geistige Verbindungslinie vom Kolonialismus über den Nationalsozialismus bis hin zum verbreiteten Alltagsrassismus im heutigen Deutschland, im Unterricht schon gar nicht. Wer den Rechtsextremismus in Deutschland nachhaltig bekämpfen will, muss meines Erachtens hier ansetzen: bei der historisch-politischen und der sozialen Bildung von Schülerinnen und Schülern. Die Stoffhuberei in den Lehrplänen kann dafür meinetwegen eingedämmt werden.

Die fremdenfeindliche Stimmung, offensichtlich angeheizt durch Weltkrisen wie Corona, den Überfall Russlands auf die Ukraine sowie die durch Krieg und Klimawandel verursachten Migrationswellen (und dann von Rechtspopulisten und Rechtsextremen noch weiter befeuert), bekommen mittlerweile auch Lehrkräfte zu spüren.

Meiner Meinung nach wird es Zeit, auch mal über die Mitverantwortung von CDU und CSU für die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu sprechen

„Der Rechtsruck ist in den Schulen  angekommen“, sagt beispielsweise Peter Müller, Gemeinschaftskunde-Lehrer am Lößnitzgymnasium im sächsischen Radebeul, in einem Interview mit dem NDR. „Radebeul ist sehr bürgerlich mit einem niedrigen Migrationsanteil. Falls Sie Migranten treffen, sind es vor allem Russlanddeutsche und Asiaten. Der Ort ist vielen als Stadt der Millionäre bekannt und wegen der hohen Mieten treffen Sie vor allem die höheren Milieus. An unserer Schule gab es bislang eher einen linksliberalen Schwerpunkt. Bei der letzten Wahl in meiner Klasse haben jedoch 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler AfD gewählt. Das ist neu“, so berichtet er. Müller lässt seine Schülerinnen und Schüler immer mal wieder eine Bundestagswahl simulieren.

Dass Kinder und Jugendliche sich offen zur AfD bekennen – also zu einer Partei, die Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland verbannen will –, das habe es an seiner Schule früher kaum gegeben. Wie erklären er und seine Kolleg*innen sich den Umschwung? „Wir haben keine Erklärung. Vielleicht werden zu Hause eher rechte Positionen verhandelt, vielleicht färbt der Stadtrat mit seinen sehr konservativen Positionen ab. Vielleicht liegt es an den Influencern der Neuen Rechten im Netz und dem Social-Media-Konsum. Vielleicht liegt es auch an vielen Faktoren auf einmal. Klar ist, die Neue Rechte bedient sich einer anderen Sprache, die klar und kantig ist. Das erreicht die Schüler.“ Offensichtlich auch die Feier-Locations auf Sylt und die Schützenfestzelte allerorten.

Meiner Meinung nach wird es Zeit, auch mal über die Mitverantwortung von CDU und CSU für die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu sprechen (womit nicht gemeint ist, dass die Opfer dieser Feindlichkeit tatsächlich Fremde wären – der Anschein reicht ja aus). Ein aktueller Anlass: die Diskussion um die jüngste Kriminalstatistik. Die zeigt eine Zunahme von Gewalttaten. Insbesondere Jugendliche sind verstärkt tatverdächtig – vor allem die ohne deutschen Pass. Das ist erst einmal Fakt. Der lässt sich allerdings einordnen.

Nämlich so: „2001, 2002 hatten wir sehr viel höhere Zahlen. Insofern kann man aus kriminologischer Sicht sagen: Das sind jetzt keine dramatischen Werte.“ (Prof. Tobias Singelnstein, Uni Frankfurt). Oder so: „Es ist nicht ganz überraschend, dass wir im Moment eine negative Entwicklung sehen. In der Coronapandemie kam das öffentliche Leben zum Erliegen, und damit hatten wir auch einen Rückgang der Kriminalität. Jetzt geht es in die andere Richtung“ (Prof. Dirk Baier, Hochschule Zürich). Oder so: „Ausländerinnen und Ausländer haben einen niedrigen sozialen Status und niedrige Bildung. Deutsche mit ähnlichen Merkmalen sind ähnlich kriminell“ (derselbe).

Und was macht die Union daraus? „Deutschland wird seit zwei Jahren unsicherer und das liegt an der stark gestiegenen Ausländerkriminalität.“ (Andrea Lindholz, stv. Vorsitzende CDU/CSU-Bundestagsfraktion). Das passt zu der Strategie, die Christdemokraten und Christsoziale seit Jahrzehnten verfolgen: von „Kinder statt Inder“ (Rüttgers) über „Zuwanderer haben die deutsche Leitkultur zu akzeptieren“ (Koch) bis zu den „kleinen Paschas“ (Merz) oder (derselbe): „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“

Noch 2006 behauptete der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Die Folgen solcher Realitätsleugnung sind bis heute spürbar. Noch immer fehlt Deutschland die Infrastruktur, um systematisch Integration zu ermöglichen.

Unser Land leidet unter einem akuten wohlstandsbedrohenden Fachkräftemangel, der sich in den nächsten Jahren noch drastisch auswachsen wird

Vor allem in der Bildung: Dass Kinder vor der Einschulung und begleitend über die ersten Jahre Deutsch lernen können, ist mehr Ausnahme als die Regel – wie unlängst erst eine Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund erhellte (News4teachers berichtete auch darüber). Deutschland schneidet seit Jahrzehnten schlecht dabei ab, Migrantenkinder zu Schulerfolgen zu führen, wie PISA immer wieder aufzeigt. Dabei leidet unser Land unter einem akuten wohlstandsbedrohenden Fachkräftemangel, der sich in den nächsten Jahren noch drastisch auswachsen wird. Dass Deutschland seinen Wohlstand dem Export verdankt, also dem Handel mit „Ausländern“, sei hier am Rande erwähnt.

Doch statt daran zu gehen, die Rahmenbedingungen für gelingende Zuwanderung in der Breite zu schaffen – insbesondere eben in der Bildung –, schimpfen CDU und CSU lieber über die Menschen, die nach Deutschland kommen. Der bayerische Innenminister Herrmann behauptet: Es sei „klar“, „dass vor allem Ausländer und insbesondere zugewanderte Flüchtlinge den Anstieg der Kriminalitätslage verursacht“ hätten. Klar ist vor allem eins: CDU und CSU schüren Fremdenangst, um den rechten Rand an sich zu binden. Damit haben sie offensichtlich Erfolg, teilweise jedenfalls. Nur: Der rechte Rand wird immer größer. News4teachers

Schüler beklagen Alltags-Rassismus, Forscher fordern von Lehrern mehr Sensibilität

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