News4teachers: 2018 hat der Hashtag #metwo Aufmerksamkeit für den bestehenden Alltagsrassismus in Deutschland – auch im hiesigen Bildungssystem – geschaffen (News4teachers berichtete). Inwiefern hat sich die Situation an den Schulen seit der Online-Kampagne verändert?
Karim Fereidooni: Online-Kampagnen wie diese erhöhen die Sensibilität gegenüber Rassismus in der Schule, indem Betroffene Erfahrungen schildern, die nicht der Lebensrealität von weißen Menschen entsprechen. Das allein kann schon das Bewusstsein für das Problem schärfen. Allerdings sehe ich nicht, dass diese Online-Kampagne zu systematischen Veränderungen in der Bildungslandschaft geführt hat. Ich bin allerdings der Meinung, dass diese dringend notwendig wären. Derzeit ist das deutsche Schulwesen weder darauf ausgelegt, dass Lehrkräfte, noch, dass Schüler:innen gerne zur Schule gehen. Ich wünsche mir etwa, dass Lehrkräfte mehr Zeit hätten, denn Bildung braucht immer Zeit, auch die eigene Weiterbildung. So könnten sich Lehrer:innen beispielsweise intensiver mit Themen wie Rassismus oder Bildungsdiskriminierung auseinandersetzen.
News4teachers: Wenn systematische Veränderungen im Nachgang der Online-Kampagne ausgeblieben sind, welche Formen von Rassismus sind für den Schulbereich weiterhin typisch?
Fereidooni: Wenn wir wissenschaftlich über Rassismus reden, dann unterscheiden wir unterschiedliche Formen. Wir reden über antimuslimischen Rassismus, antischwarzen Rassismus, Gadje-Rassismus – also Gadje ist ein Romani-Wort für alle Menschen, die keine Rom:nja sind, früher als Antiziganismus bezeichnet –, über antiasiatischen Rassismus, auch antislawischen Rassismus. Es gibt viele Formen von Rassismus. Und Rassismus beginnt nicht erst mit einem Molotowcocktail, der gegen meine Hauswand geschleudert wird. Rassismus beginnt mit Skepsis: „Kannst du, so wie du aussiehst oder so wie du heißt, eine gute Lehrkraft sein?“ Das ist der Beginn von Rassismus. Oder wenn Menschen erstaunt sind, dass Karim Fereidooni ordentlich Deutsch spricht. Das ist Rassismus im Jahr 2024. Auch wenn Schüler:innen mit internationaler Familiengeschichte oder Schüler:innen of Color, die also als nicht weiß-deutsch wahrgenommen werden, ihr Deutschsein abgesprochen wird oder sie trotz gleicher Leistung schlechtere Noten erhalten – dann sprechen wir von Rassismus. Auch wenn Praktikant:innen oder Praxissemesterstudierende mit Kopftuch der Zugang zum Lehrer:innenzimmer verwehrt wird oder wenn spanischen Lehrkräften unterstellt wird, sie würden die ganze Zeit nur Siesta machen. Wir sprechen von Rassismus, wenn bestimmte Sprachen im Lehrer:innenzimmer verboten, andere jedoch geduldet werden. Es gibt viele Formen von Rassismus in der Schule. Gleichzeitig glauben die meisten Schulen jedoch, dass Rassismus bei ihnen nicht vorkommt. Das ist ein Problem.
Für Rassismus sensibel zu sein, sollte als normale Professionskompetenz von angehenden und fertig ausgebildeten Lehrkräften betrachtet werden. Lehrkräfte sollten in der Lage sein, sensibel über Rassismus und Rassismuserfahrungen zu sprechen, Unterrichtsmaterial zum Thema Rassismus zu entwickeln und Unterricht dazu durchzuführen. Sie sollten auch institutionelle Maßnahmen implementieren können, wie zum Beispiel eine Antidiskriminierungsstelle an ihrer Schule. Bereits fünf bis sieben engagierte Lehrkräfte können dafür ausreichen; an einigen Schulen gibt es solche Initiativen bereits. Rassismus ist in der Schule präsent, das zu bestreiten, führt nicht weiter. Eine gute Strategie ist, das Problem anzuerkennen und als Schulgemeinschaft aktiv anzugehen: „Überall da, wo Menschen zusammenkommen, spielt Rassismus eine Rolle, so auch in unserer Schule. Aber wir tun was dagegen.“
News4teachers: Sie engagieren sich dafür, dass Rassismuskritik zu einer Professionskompetenz wird. Wozu würde sie Lehrer:innen befähigen?
Fereidooni: Sie können sich vier Fragen stellen. Die erste lautet: „Was hat Rassismus mir beigebracht, obwohl ich nicht rassistisch sein will?“ Lehrkräfte sollten einfach mal überlegen, welche Kinderlieder sie gesungen und welche Kinderbücher sie gelesen haben. Wie wird bei Oma Ernas 80. Geburtstag über Geflüchtete gesprochen? Über Schwarze* Frauen? Über muslimische Männer? All das gehört zu dem, was wir als rassistisches Wissen bezeichnen. Häufig glauben Lehrkräfte, dass sie frei von Rassismus sind, nur weil sie seit 20 Jahren die Grünen wählen. Das ist jedoch ein Trugschluss. Es geht darum anzuerkennen, dass wir alle ein Stück weit durch rassistische Strukturen geprägt worden sind.
Die zweite Frage lautet: „Was passiert in meinem Arbeitskontext, in meinem Lehrer:innenzimmer, in meinem Klassenraum, das rassismusrelevant ist?“ Wenn sich Lehrkräfte mit Rassismuskritik beschäftigen, indem sie entsprechende Bücher lesen, Workshops besuchen oder kollegiale Fallberatungen mit ihren Kolleg:innen durchführen, dann nehmen sie Situationen wahr, die ihnen vorher vielleicht nicht aufgefallen sind. Sie werden sensibler und schauen genauer hin.
Die dritte Frage lautet: „Inwiefern reproduzieren meine Unterrichtsmaterialien Rassismus?“ Ich berate seit drei Jahren einen großen deutschen Schulbuchverlag, und kürzlich kam der Verlag mit einer Aufgabenstellung auf mich zu: Die Schüler:innen sollten Pro- und Contra-Argumente zum Thema Kolonialisierung finden.
News4teachers: Oh.
Fereidooni: Ja, das geht nicht; wenn allein in einem einzigen afrikanischen Staat, im Kongo, zehn Millionen Menschen im Zuge der Kolonialisierung umgebracht wurden, können sie nicht von Schüler:innen verlangen, Pro-Argumente zu finden. Wir müssen über Perspektiven und Perspektivwechsel sprechen. Es ist wichtig, dass Lehrer:innen erkennen, was in Schulbüchern rassistisch ist.
Und die vierte Frage lautet: „Was muss ich als Lehrkraft tun, damit Rassismus in meinem Arbeitskontext weniger vorkommt?“ Dabei ist ein wichtiger Schritt, zunächst einmal anzuerkennen, dass es überhaupt Rassismus gibt. Dazu gehört, es als Lernchance wahrzunehmen, wenn Schüler:innen Kritik üben und zum Beispiel sagen: „Sie sind ein toller Deutschlehrer, aber trotzdem haben Sie letztens was gesagt, das finde ich rassismusrelevant.“ Nur unter dieser Voraussetzung können Lehrer:innen aktiv werden und beispielsweise die bereits erwähnte Antidiskriminierungsstelle initiieren, vorausgesetzt natürlich, die Schulleitung unterstützt das Unterfangen und gibt den Beteiligten den notwendigen Freiraum dafür. Schulen können auch einen Preis ausloben, zum Beispiel für die beste Idee zur rassismuskritischen Umgestaltung der Schule. Alternativ können sie wissenschaftlicher an das Problem herantreten und Praxissemesterstudierende beauftragen, eine Studie zum Thema Diskriminierung von Schüler:innen oder Lehrkräften durchzuführen, um anhand der Studienergebnisse gezielte Maßnahmen zu implementieren.
News4teachers: Wie schwer es Nicht-Betroffenen fällt, Kritik von Menschen anzunehmen, die von Rassismus betroffen sind, hat eindrücklich der Streit um die Abitur-Lektüre „Tauben im Gras“ in Baden-Württemberg gezeigt. …
Hier geht es zu Teil 2 des Interviews.
News4teachers / Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
*Schwarz: wird in diesem Interview auch als Adjektiv großgeschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, „dass es eine politische Realität und Identität bedeutet“, wie Noah Sow, Autorin, Dozentin, Künstlerin und Aktivistin, in ihrem Buch „Deutschland Schwarz Weiß – Der alltägliche Rassismus“ erklärt. Schwarz, so Noah Sow, ist „die politisch korrekte und vor allem selbstgewählte Bezeichnung für Schwarze Menschen“.
Darüber hinaus berät er die Bundesregierung (Kabinett Scholz I) zur Erarbeitung der Gesamtstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“.
Mehr Informationen unter: www.karim-fereidooni.de
