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Arbeitszeiterfassung im Schuldienst: Warum die Klage eines einzelnen Lehrers den Stillstand jetzt beenden kann

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STUTTGART. Während in Behörden von manuell bis digital alles zur Arbeitszeiterfassung genutzt wird, bleibt für Lehrkräfte weiterhin offen, wie viele Stunden sie tatsächlich leisten – trotz klarer Urteile von EuGH und Bundesarbeitsgericht. In Baden-Württemberg will eine Gymnasiallehrkraft das jetzt nicht länger hinnehmen und klagt, unterstützt vom Philologenverband. Es geht um mehr als nur Formulare – es geht um die Frage, wie viel Arbeit dem Bildungsauftrag eigentlich zugemutet werden darf.

Justizia ist gefordert. Illustration: Shutterstock

Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrem Haus wird die Arbeitszeit erfasst, so zählte Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) unlängst in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage auf, ebenso für die Beschäftigten der nachstehenden Dienststellen, der Regierungspräsidien, der Schulämter, des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung, der schulpsychologische Beratungsstellen sowie des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg.

Offenbar kein Problem: „Mit Ausnahme der Beschäftigten an den Staatlichen Schulämtern und den Schulpsychologischen Beratungsstellen, die ihre Arbeitszeit manuell über Excel-Listen erfassen, erfolgt die Erfassung der Arbeitszeit in elektronischer Form“, berichtete die Ministerin. Überstunden werden ausgeglichen. „Abrechnungszeitraum ist in der Regel das Kalenderjahr“, so lässt sie wissen.

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Für Lehrkräfte gelten diese Regelungen nicht – obwohl es zwei Gerichtsurteile bereits von 2019 (Europäischer Gerichtshof) und von 2022 (Bundesarbeitsgericht) gibt, die Arbeitgeber grundsätzlich dazu verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“, wie Schopper selbst in ihrem Schreiben erklärte.

„Eine zeitnahe Einführung einer Arbeitszeiterfassung von Lehrkräften ist derzeit nicht geplant“

Die rot-grün-gelbe Bundesregierung hatte die Umsetzung allerdings auf die lange Bank geschoben, weil unter anderem die FDP sich querstellte. Im Wortlaut Schoppers las sich das so: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Nachgang zum Beschluss des Bundesarbeitsgerichts angekündigt, eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz vorzulegen. Eine solche liegt bisher nicht vor.“

Dass auch ohne eine solche Regelung die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bei Lehrkräften besteht (wie das Bundesarbeitsministerium in einem Brief an die KMK klarstellte und unlängst die Bremer Bildungssenatorin Sascha Aulepp, SPD, dann auch öffentlich einräumte) ficht Schopper und die meisten übrigen Kultusminister*innen in Deutschland nicht an: Sie wollen das Thema offensichtlich aussitzen. Schopper betonte: „Eine zeitnahe Einführung einer Arbeitszeiterfassung von Lehrkräften ist derzeit nicht geplant.“

Doch jetzt kommt womöglich– endlich – Bewegung in die Angelegenheit. Eine Lehrkraft hat nun mit Unterstützung des Philologenverbands Baden-Württemberg Klage gegen das Land als Dienstherren eingereicht. Grundlage ist die Feststellung, dass die in der Lehrkräfte-Arbeitszeitverordnung festgesetzte Regelstundenzahl für Gymnasiallehrkräfte systematisch zu einer Überschreitung der regulären Wochenarbeitszeit für Beamtinnen und Beamte führt.

Zum Hintergrund: Die Philologen können als Verband nicht selbst klagen, sondern nur Mitglieder bei ihrer Klage juristisch unterstützen. Und das tun sie jetzt auch – bereits zum zweiten Mal, nachdem ein erster Anlauf „aus juristischen Gründen“ (wie es hieß) gescheitert war. Dabei war, so ist zu hören, versäumt worden, vorab eine formelle Überlastungsanzeige zu stellen und auf den ablehnenden Bescheid zu warten.

Der Malus wurde offenbar nun ausgeräumt. „Ziel ist es, die dauerhaft überhöhte Arbeitsbelastung von Gymnasiallehrkräften gerichtlich feststellen zu lassen. Grundlage dazu sind langjährige Aufzeichnungen der geleisteten Zeiten, die sich aus dem Deputat und den vielen anderen dienstlichen Aufgaben gymnasialer Lehrkräfte innerhalb und außerhalb des Unterrichts zwangsläufig ergeben“, so heißt es in einer aktuellen Erklärung des Philologenverbands.

„Es ist höchste Zeit, dass die tatsächliche Arbeitsrealität anerkannt und endlich gehandelt wird“

„Wir können und wollen nicht länger zusehen, wie unsere Kolleginnen und Kollegen am Gymnasium systematisch über ihre Belastungsgrenzen hinaus arbeiten müssen. Lehrkräfte an Gymnasien leisten dauerhaft mehr als ihnen nach beamtenrechtlichen Vorgaben zugemutet werden darf. Mit dieser Klage setzen wir ein deutliches Zeichen gegen die strukturelle Überlastung unserer Kolleginnen und Kollegen“, erklärt Philologen-Landesvorsitzende Martina Scherer. „Es ist höchste Zeit, dass die tatsächliche Arbeitsrealität anerkannt und endlich gehandelt wird.“

Die Klage richtet sich gegen die bisherige Festlegung der Lehrkräftearbeitszeit für ein volles Deputat, „die in keiner Weise die Vielzahl an weiteren Aufgaben der gymnasialen Lehrkräfte berücksichtigt – darunter Korrekturen, Vor- und Nachbereitung, Elterngespräche, außerunterrichtliche Verpflichtungen, Aufsichten, Konferenzen, Dienstgespräche, Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern und seit Jahren zunehmende Verwaltungsaufgaben, wobei diese Aufzählung längst nicht vollständig ist“, wie es in der Erklärung heißt.

Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegten seit Jahren eine erhebliche Diskrepanz zwischen der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit für Beamte und der tatsächlich geleisteten (Jahres-)Arbeitszeit, d. h. der unter Berücksichtigung der unterrichtsfreien Zeiten aufsummierten Gesamtarbeitszeiten bei Gymnasiallehrkräften. „Diese Studien haben jedoch bisher beim Dienstherrn zu keinerlei Konsequenzen geführt, obwohl dieser juristisch verpflichtet ist, die Arbeitszeit seiner Bediensteten zu erfassen.“ Tatsächlich weist aktuell eine Studie aus Berlin, die in dieser Woche veröffentlicht wurde, eine systematische Überlastung von Lehrkräften aller Schulformen nach (News4teachers berichtete).

„Unsere Mitglieder sind nicht mehr bereit, diese strukturelle Überbelastung als Normalzustand hinzunehmen“, so Scherer weiter. Der Philologenverband fordert eine realistische Anpassung der Lehrkräfte-Arbeitszeitverordnung, die der tatsächlichen Arbeitsbelastung von Gymnasiallehrkräften endlich gerecht werde – was eine Arbeitszeiterfassung voraussetzt. Mit der juristischen Unterstützung der klagenden Mitglieder will der Verband auch politisch Druck aufbauen. Die Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte seien ein zentraler Faktor für die Attraktivität des Berufs und damit auch für die Sicherstellung von Bildungsqualität in der Zukunft, wie es heißt.

Zumindest das Bundesland Bremen hat nun auf die Rechtslage reagiert – und einen Modellversuch zur Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften für 2026 angekündigt (News4teachers berichtete auch darüber). News4teachers 

SPD-Antrag, Arbeitszeit von Lehrkräften zu erfassen, scheitert – Bildungsministerin winkt ab

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