DORTMUND. Wie lässt sich das Interesse von Jugendlichen an Physik und anderen MINT-Fächern fördern – gerade bei jenen, die sich selbst für „nicht geeignet“ halten? Prof. Nele McElvany, Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, setzt auf Vorbilder, alltagsnahe Inhalte und gezielte Motivation. Im Interview erklärt sie, warum Selbstwirksamkeit entscheidend ist, weshalb Frühförderung allein nicht reicht – und wie Lehrkräfte zur Schlüsselfigur für mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung werden können.

News4teachers: Frau Professorin McElvany, Sie wollen den Physikunterricht revolutionieren. Was läuft denn derzeit nicht gut?
Nele McElvany: Was wir beobachten – und zwar vom Ende her gedacht –, ist, dass es nicht genügend junge Menschen gibt, die sich für Physik begeistern oder sich überhaupt vorstellen können, diesen Weg weiterzugehen, bis hin zu einem Physikstudium. Es gibt seit Langem das Problem, dass es zu wenige Studierende in diesem Bereich gibt. Das betrifft nicht nur die Physik, aber eben auch sie – und das beginnt bereits einen Schritt vorher: bei den Leistungskursen in der Oberstufe.
Diese Leistungskurse sind oft das Sprungbrett für ein späteres Physikstudium. Doch auch dafür lassen sich nicht genug junge Menschen gewinnen und begeistern. Wenn man dann noch genauer hinschaut, erkennt man, dass bestimmte Gruppen systematisch unterrepräsentiert sind. Dazu gehören ganz klar junge Frauen, die sich anscheinend nicht vorstellen können, dass Physik etwas für sie ist. Aber auch Kinder aus weniger privilegierten sozialen Schichten – also Kinder, bei denen nicht beide Elternteile bereits Akademiker*innen sind. Für diese Gruppen scheint Physik als mögliche berufliche Option oft gar nicht erst in Betracht gezogen zu werden.
News4teachers: Gilt das nicht auch für andere Fächer wie Mathematik oder Chemie – also generell für den MINT-Bereich?
“Aus der Psychologie wissen wir, dass die Berufsorientierung früh beginnt – lange bevor Leistungskurse gewählt werden”
Nele McElvany: Ja, mit einer Ausnahme: Biologie. Das ist ein Fach, das für weibliche Schüler*innen offenbar attraktiver ist – sowohl im Studium als auch in der Oberstufe. Ansonsten ist das eine Herausforderung, die viele MINT-Fächer betrifft. Auch bei uns an der Universität, etwa im Maschinenbau, gibt es viele unterrepräsentierte Gruppen. Und genau um diese Gruppen soll es in unserer Studie gehen.
News4teachers: Das klingt nach einem Teufelskreis: Wenige Physikstudierende bedeuten wenige Physiklehrkräfte – das führt zu weniger Physikunterricht – was wiederum zu noch weniger Studierenden führt?
Nele McElvany: Ja, und hinzu kommt noch ein vereinfachtes Verständnis davon, was „interessanter“ Physikunterricht ist. Oft wird gedacht: Wenn es kracht, pufft oder bunt ist, dann ist der Unterricht spannend – und dann werden schon alle begeistert sein, erkennen wir großartig das Themenfeld ist und Physik-Leistungskurse wählen oder Physik studieren. So einfach ist es leider nicht.
Zunächst einmal muss man festhalten, dass in diesen Momenten, wenn es gut läuft, kurzfristiges situationales Interesse bei den Kindern und Jugendlichen geweckt wird. Von dort ist es noch ein weiter Weg bis zu einem stabilen individuellen Interesse an dem Themenfeld Physik und einer möglichen Kurswahl-Motivation.
Ein anderer Aspekt wird aber noch weniger bedacht: Menschen können zwar etwas interessant finden, es aber trotzdem nicht als für sich selber in Frage kommend wahrnehmen. Dann nützt auch spannender und fachdidaktisch wertvoller Physikunterricht nichts. Aus der Psychologie wissen wir, dass die Berufsorientierung früh beginnt – lange bevor Leistungskurse gewählt werden. Mit der Identitätsentwicklung haben Kinder und Jugendliche nämlich zunehmend ein Bewusstsein für soziale Kategorien – etwa das Geschlecht oder die soziale Herkunft. Damit geht einher, dass sie auch schon früh ein Gefühl dafür entwickeln, was zu ihnen vermeintlich passt – oder eben nicht. Da gehen dann Türen für ganze Bereiche zu und es wird später nur noch aus den in Frage kommenden, da scheinbar mit der eigenen Identität kongruent, Bereichen ausgewählt. Dabei spielen gesellschaftlich vermittelte Bilder eine entscheidende Rolle. Physik gilt oft als „Männerfach“ oder als Fach für Akademikerkinder. Mädchen sind dann raus. Auch wer z. B. aus einem Haushalt kommt, in dem die Eltern einen handwerklichen oder Fertigungs-Beruf ausüben oder im Dienstleistungssektor tätig sind, schließt dieses Feld oft unbewusst für sich aus.
Noch bevor also überhaupt das Interesse eine Rolle spielt, wird die Möglichkeit innerlich ausgeschlossen: „Das passt nicht zu mir.“ Diese Selbstwahrnehmung steht vielen jungen Menschen im Weg. Deshalb setzen wir in unserer Studie genau dort an: Wir wollen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, Physik überhaupt als realistische Option für sich wahrzunehmen – als etwas, das zu ihnen passt, das sie können und dürfen.
News4teachers: Also geht es eher um Vorbilder als um Inhalte?
Nele McElvany: Nein, die Inhalte sind selbstverständlich wichtig. Es wird verschiedene Interventionsbedingungen geben, deren Wirkung vergleichend untersucht wird. In einer geht es ganz konkret um Role Models: Wir arbeiten mit videobasierten Formaten, in denen nicht nur ältere Männer im Labor gezeigt werden, sondern gezielt auch junge Menschen – etwa Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund oder auch einfach jemand Cooles mit Käppi und modisch blinkendem Ohrstecker, der sagt: „Ich mache gerade Physik-Leistungskurs.“ Dabei werden auch so genannte Gegennarrative explizit thematisiert – mögliche Stereotype über Physik oder Menschen, die dafür geeignet sind, werden aufgegriffen, in Frage gestellt und andere Interpretationen angeboten. Viele Menschen glauben auch, dass Physik etwas ist, für das man ein angeborenes Talent hat oder eben nicht, und sehen es nicht als ein Themenfeld, das man sich mit entsprechender Anstrengung erschließen kann, wenn es einen interessiert.
Das klingt vielleicht ein wenig klischeehaft, aber es geht uns darum, zu zeigen: Menschen wie ich können auch Physik machen. Es geht darum, die eigene Biografie mit der Perspektive auf Physik in Einklang zu bringen.

Vorbild für den Unterricht benötigt? Wir hätten eins im Angebot: Dr. Insa Thiele-Eich – Meteorologin, Klimaforscherin und Astronautin.
Die Aufzeichnung einer besonderen Schulstunde, bei der sich Insa Thiele-Eich den Fragen von vier Schulklassen stellte, steht nun kostenfrei in der Lehrkräfte-Community von ViewSonic zur Verfügung. Die bekannte Wissenschaftlerin berichtete unter anderem von ihrem Weg zur Astronautin, von Gleichberechtigung in der Raumfahrt, dem Alltag auf der Raumstation und ihrer Sicht auf den Klimaschutz: „Kinder sollten ein Bewusstsein für ihre Umwelt haben – aber die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen.“
Hybrider Unterricht kann inspirierend, niederschwellig und ortsunabhängig sein – das zeigt dieses innovative Schulformat, das anlässlich der Bildungsmesse didacta entstand. Ideal geeignet für den fächerverbindenden Einsatz in MINT, Gesellschaftslehre oder Ethik.
Hier hier flott anmelden – dann ist die Schulstunde kostenfrei nutzbar.
News4teachers: Braucht es dafür nicht auch mehr Diversität unter den Lehrkräften – gerade mit Blick auf Kinder mit Migrationsgeschichte?
Nele McElvany: Natürlich wäre das eine gute Entwicklung. Vorbilder sind auch in den Lehrerzimmern wichtig. Das können wir mit unserer Studie aber kurzfristig nicht beeinflussen. Wenn unsere Intervention erfolgreich ist, könnten langfristig mehr Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen Physik studieren – auch auf Lehramt. Das würde dann auch zu mehr Diversität unter den Lehrkräften führen.
Für uns steht jetzt zunächst die schulische Intervention im Vordergrund. Wir starten in der 9. Klasse und führen jedes Jahr eine so genannte Relevanzintervention durch – entweder allein oder kombiniert mit der Role-Model-Komponente. o können wir die Effekte vergleichen und die Schüler*innen über mehrere Jahre begleiten – bis zur Wahl der Grund- und Leistungskurse und sogar weiter bis zur Studienentscheidung. Das ist der Vorteil eines Exzellenzclusters: Es erlaubt eine langfristige Beobachtung – nicht nur ein kurzes „rein und raus“.
News4teachers: Noch mal zu den Inhalten: Sie haben gesagt, es geht nicht darum, dass es nur knallt und pufft. Was sind dann Inhalte, die Schülerinnen und Schüler tatsächlich ansprechen?
“Das Wissen der Physik ist nicht abgeschlossen, sondern wird weiterentwickelt. Und es betrifft das reale Leben”
Nele McElvany: Natürlich sind wir für spannenden Unterricht – keine Frage. Deshalb arbeiten wir auch mit Fachdidaktiker*innen zusammen. An dem Exzellenzcluster „Center for Chiral Electronics“ sind mit der Universität Halle-Wittenberg, der FU Berlin und der Universität Regensburg drei Standorte beteiligt, unter anderem arbeiten wir mit den Fachdidaktiken in Halle und Regensburg. Sie stellen sicher, dass die Inhalte nicht nur fachlich korrekt, sondern auch altersgerecht und didaktisch ansprechend aufbereitet sind.
Unser Hauptthema ist die Chiralität. Wir möchten zeigen, dass es sich dabei nicht um abstraktes, verstaubtes Wissen handelt, sondern um etwas mit Relevanz – auch im Alltag. Aber: Selbst wenn der Unterricht gut gemacht ist, bringt das nichts, wenn eine Schülerin denkt: „Das ist nichts für mich.“ Dann bleibt es vielleicht interessant – aber es ändert nichts an ihrer Entscheidung.
Genau da setzen unsere Relevanzinterventionen an. Dieses Instrument ist in den USA bereits vielfach erprobt worden – insbesondere bei unterrepräsentierten Gruppen und beim Thema Geschlechterrollen. Die Idee ist, dass Jugendliche ein Zitat von jemandem aus ihrer „Gruppe“ lesen – etwa eine junge Frau, die erklärt, warum sie Physik wichtig findet oder was sie daran spannend findet. Dann bearbeiten die Schüler*innen Schreibaufgaben, in denen sie sich mit dem Zitat auseinandersetzen: Stimmen sie dem zu? Sehen sie das anders? Was sind gute Argumente? In anderen Zitaten geht es beispielsweise darum, sich mit der Nützlichkeit von Physik und der Relevanz für die Zukunft auseinanderzusetzen.
Zwei Wochen später gibt es eine „Booster-Session“, um den Effekt zu verstärken – das kennt man aus der Interventionsforschung. In manchen Gruppen kombinieren wir das mit Role-Model-Videos, in anderen zeigen wir neutrale Videos, um Unterschiede sichtbar zu machen.
Zusätzlich gibt es eine weitere Bedingung, in der wir mit dem Konzept „Nature of Science“ arbeiten – also mit der Frage: Was ist Wissenschaft überhaupt? Ist Physik etwas Abgeschlossenes, das vor 200 Jahren erforscht wurde? Oder ist es ein lebendiges Feld, das sich ständig weiterentwickelt – gemeinsam, durch Forschung, durch gesellschaftliche Fragen?
News4teachers: Ist nicht auch der fachliche Zuschnitt ein Problem? Naturwissenschaften werden isoliert unterrichtet. Im Leben aber erleben wir Phänomene meist ganzheitlich. Wäre ein projektorientierter, fächerübergreifender Unterricht – z. B. im Sinne von „Deeper Learning“ – nicht sinnvoller?
Nele McElvany: Ja, absolut. Es geht uns ja gerade auch darum, Anwendungsbezüge herzustellen. Das ist ein Grund, warum unsere Fachwissenschaftler*innen von der FU Berlin, aus Halle und Regensburg eingebunden sind. Das Gesamtcluster beschäftigt sich mit der Frage nach Energieeffizienz – ein hochaktuelles Thema. Wir wollen gemeinsam deutlich machen: Das Wissen der Physik ist nicht abgeschlossen, sondern wird weiterentwickelt. Und es betrifft das reale Leben.
Unsere Intervention ist allerdings stärker auf psychologische Mechanismen ausgerichtet: Was hält junge Menschen aus bestimmten Gruppen davon ab, Physik überhaupt als Option wahrzunehmen? Wir fragen nicht primär, wie der Unterricht interessanter gemacht werden kann – dafür setzen wir auf unsere Fachdidaktiker*innen. Die von ihnen entwickelten Materialien werden erprobt und fachlich fundiert sein – darauf können wir zum Glück vertrauen.
News4teachers: Das heißt, die Ergebnisse Ihrer Studie sind wahrscheinlich auch auf andere Fächer übertragbar, oder?
Nele McElvany: Ich gehe fest davon aus, dass das, was wir hier exemplarisch für Physik entwickeln, auch für andere Fächer im MINT-Bereich übertragbar ist – also für Mathematik, Informatik, Chemie und Technik. Diese Fächer haben oft mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen. Die Relevanz der eingesetzten Interventionen wurde in Deutschland bereits erprobt – etwa im Fach Mathematik. Das hat unter anderem Hanna Gaspard gemacht, die früher ebenfalls am IFS war. Ihre Studien liefen über mehrere Jahre. Zwar war das Vorgehen etwas anders konzipiert als jetzt bei uns im Exzellenzcluster, aber insgesamt konnten dort bereits wichtige Erfahrungen gesammelt werden. Insofern spricht vieles für eine Übertragbarkeit – auch auf andere Fächer.
News4teachers: Sie sagen, es braucht Testimonials oder Vorbilder. Werden Sie jetzt gezielt nach erfolgreichen Menschen mit Physik-Hintergrund suchen, die Sie in die Schulen bringen? Wie darf man sich das praktisch vorstellen?

Nele McElvany: Ja, tatsächlich suchen wir gezielt Menschen mit Physik-Hintergrund – also Physikerinnen und Physiker oder auch Menschen in angrenzenden Berufen. Das müssen nicht zwangsläufig Hochschulangehörige sein. Auch in Wirtschaftsunternehmen arbeiten Physikerinnen und Physiker. Oder Studierende, die sich für ein Physikstudium entschieden haben – auch sie können Vorbilder für Schülerinnen und Schüler sein. Wir haben glücklicherweise ein Jahr Vorbereitungszeit, um diese Personen zu identifizieren. Dabei hilft uns das Exzellenzcluster, in das wir integriert sind. Dort sind viele Menschen engagiert, die bereit sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu teilen.
Wir werden kurze Videos produzieren, in denen diese Role Models zu Wort kommen. Die Intervention soll ja standardisiert sein – das heißt, alle Schülerinnen und Schüler, die in der gleichen Experimentalgruppe sind, sollen auch dieselben Inhalte erhalten. Daneben wird es auch Videos geben, in denen dieselben Inhalte vermittelt werden – allerdings ohne die persönlichen Geschichten der Vorbilder. Wie genau diese Videos gestaltet werden, ist noch in Planung. Wahrscheinlich wird es Sprecherinnen oder Sprecher geben, die die Inhalte präsentieren. Auch neutrale Videos werden benötigt, die rein auf die fachlichen Inhalte fokussieren. Diese Arbeit beginnt jetzt.
News4teachers: Wird dabei auch Werbung für den Beruf als Lehrkraft gemacht? Ist es auch Ziel, künftige Physiklehrkräfte zu gewinnen oder zu ermuntern?
Nele McElvany: Die Intervention ist offen für beides. Im Mittelpunkt steht zunächst das Fach Physik – sowohl mit Blick auf die Kurswahlen in der Schule als auch auf die Studienfachwahl. Aber es ist völlig offen, ob die Jugendlichen sich später eher fachwissenschaftlich orientieren oder doch für den Lehrerberuf entscheiden.
“Es braucht kein ‘angeborenes Talent’. Entscheidend ist das Interesse – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen”
News4teachers: Vielleicht noch einmal grundsätzlich gefragt: Welche Relevanz hat das Fach Physik für ein Land wie Deutschland? Brauchen wir das heute überhaupt noch – im Zeitalter von KI und Digitalisierung?
Nele McElvany: Oh ja – unbedingt! Die Exzellenzstrategie betrifft natürlich nur einen Teil der Gesellschaft, aber sie verdeutlicht gut, worum es geht: um große Zukunftsfragen, für die Physik eine zentrale Rolle spielt. Viele der ausgewählten Exzellenzcluster kommen aus der Physik – und das aus gutem Grund. Ob es um die Erforschung des Universums geht oder um künftige Elektroniklösungen, die unser Alltag erfordert – in all dem steckt Physik. Die jungen Menschen sollten verstehen, dass diese Themen mit ihrem Alltag zu tun haben und dass es noch viel zu entdecken gibt.
Zugleich wollen wir ihnen vermitteln, dass man nicht einem bestimmten Geschlecht oder einer bestimmten sozialen Gruppe angehören muss, um Physik zu verstehen oder studieren zu können. Es braucht kein „angeborenes Talent“. Entscheidend ist das Interesse – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Unsere Interventionen sollen genau das ermöglichen.
News4teachers: In Gesprächen mit Lehrkräften hören wir häufig Klagen über mangelnde Anstrengungsbereitschaft bei Schülerinnen und Schülern. Oft wird gesagt, das Leistungsniveau sinke, vor allem aber mangele es an der inneren Einstellung – dass sich viele Jugendliche schlicht keine Mühe mehr geben. Rutscht Physik da in der Wahrnehmung vollends durch?
Nele McElvany: Dieses Phänomen ist nicht neu – jede Generation meint, die folgende sei weniger leistungsbereit. Das kennt man historisch. Aber wenn ich als Psychologin auf die Motivation und Entscheidungen schaue, dann zeigt sich: Es geht nicht nur darum, ob ich etwas interessant oder nützlich finde. Es geht auch darum, ob ich mir selbst zutraue, eine Herausforderung zu bewältigen. Genau da setzt das Modell an, mit dem wir arbeiten – das „Expectancy-Value-Modell“.
Selbstwirksamkeit ist ein zentraler Faktor. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit meinem Hintergrund – als Frau, als jemand mit Migrationsgeschichte oder schlicht mit einer schwächeren Note in der letzten Klassenarbeit – ohnehin nicht mithalten kann, werde ich mich kaum auf ein Fach wie Physik einlassen. Umgekehrt gilt: Wenn ich die Erfahrung mache, dass sich Anstrengung lohnt und ich Erfolg haben kann, dann stärkt das meine Motivation.
Dabei ist das richtige Schwierigkeitsniveau entscheidend – nicht zu leicht, nicht zu schwer. Aufgaben, die zu schwer sind, frustrieren. Aufgaben, die zu leicht sind, langweilen. Schule muss in dieser „Zone der nächsten Entwicklung“ begleiten – wie es Wygotski formuliert hat –, also in dem Bereich, in dem Lernen durch Begleitung und Herausforderung möglich ist. Wenn dann auch noch die Werte stimmen – also wenn Physik als sinnvoll, wichtig und interessant erlebt wird –, dann hat das Fach durchaus eine Chance, wieder mehr junge Menschen zu begeistern.
News4teachers: Es geht also nicht darum, den Stoff möglichst weichgespült und bequem zu servieren – mit ein bisschen Filmkonsum und Wohlfühlpädagogik?
Nele McElvany: Nein, ganz sicher nicht. Es ist keineswegs das Ziel, Anforderungen immer weiter zu senken. Wir sagen auch in unseren Begleittexten zur Studie klar: Es geht um Fördern und Fordern. Junge Menschen wollen ernst genommen werden – auch mit ihrer Leistungsfähigkeit. Gerade im MINT-Bereich gilt: Diese Fächer sind komplex und anspruchsvoll. Aber das ist auch eine Chance. Man muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen – und sie dann herausfordern und damit positive Erfahrungen machen lassen.
News4teachers: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frühförderung? Es gibt ja zahlreiche Initiativen wie das „Haus der kleinen Forscher“. Warum gelingt es trotzdem nicht, mehr Kinder langfristig für Naturwissenschaften zu gewinnen?
Nele McElvany: Diese Initiativen sind großartig – sie tun genau das, was man sich wünscht: Sie bringen Kinder früh mit MINT-Themen in Kontakt. Aber: Danach entsteht eine Lücke. In der Pubertät, wenn Identitätsfragen wichtiger werden, setzt oft die Erkenntnis ein: „So wie ich bin, passe ich nicht zu Physik“ – sei es, weil man weiblich ist, einen bestimmten sozialen Hintergrund hat oder weil man glaubt, nicht klug genug zu sein. Die gesellschaftlichen Zuschreibungen wirken stark. Genau diese Diskrepanz versuchen wir mit unserer Studie zu überbrücken. Wir wollen zeigen: Die Inhalte sind spannend und du passt mit deiner Identität dazu. Das ist die Brücke, die wir schlagen wollen. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
Ich kenne das eher umgekehrt: Weil die Kurse eine gewisse Größe haben müssen, werden Leistungskurse in Physik und Chemie nur so selten eingerichtet, d.h. Die wenigen, die dafür brennen, dürfen nicht. Ohnehin ist es ein schlechtes Zeichen für einen Oberstufenjahrgang, wenn nur Mathe und Biologie als Leistungskurse zustande kommen. Und wenn die Kurse klein sind, dazu noch die aus Schülersicht niederschwelligen Fächer Erdkunde, Pädagogik, Sozialwissenschaften oder Kunst, dann ist nicht viel Potenzial vorhanden- oder Taktik, weil realistischere Hoffnung auf einen niedrigen 1er Schnitt. Für all diese Dinge darf man die Physiker nicht verantwortlich machen, eher die anderen Fächer, die im (Abstraktions-) Niveau anziehen müssten. Auch in Erdkunde, Sozialwissenschaften und Biologie kann man zum Beispiel ernsthaft rechnen lassen, und sei es nur statistische Auswertung.
Oder es werden die entsprechenden LK in Ch und Ph im Verbund mit anderen Oberstufen eingerichtet. Führt ggf. zu zusätzlichem Schulbusverkehr zwischen den beteilgten Schulen, auf jeden fall aber zu gewaltiger Pendelei an drei Tagen, da die LK fünfstündig sind. Bringt darüber hinaus entsprechende Zwangspunkte in die Stundenplanung der beteiligten schulen mit sich, die die anderen Jahrgänge ausbaden dürfen.
Ich kann Ihnen versichern, dass ich Abstraktsionsvermögen bei dem einzigen LK Bio soweit GEFÜHRT habe, dass mein Co-Kontrolletti (Dipl. Biolog., Dr. rer. nat., wie Ich auch) keinen Schimmer sah, was die Schüler dazumal schrieben. War alles korrekt.
Allerdings:
-er Biochemiker,
-ich Ökologe, Ethologe, Tierphysiologe
Eben.
Nur das “ernsthaft rechnen” braucht ‘s nicht im SoWi-Kurs.
Kann man – aber…warum sollte man?
Man kann ohne Probleme ein Erdkunde- oder Sowie-Abi hinlegen, ohne auch nur den blassesten Schimmer von physischen Prozessen (EK) oder den Eigenschaften und Tücken der Statistik (SoWi) zu haben.
Das “Warum sollte man ?” ist daher auch nicht polemisch, sondern faktisch gemeint.
Gilt das auch für die Studiengänge?
An manchem Lehrstuhl u.U., aber das ohnehin i.d R. recht basal, keine Raketenwissenschaft, umfasst ovligatorisxg ein oder zwei Vormesungen, vielleicht noch ‘ne Übung.
“werden Leistungskurse in Physik und Chemie nur so selten eingerichtet, d.h. Die wenigen, die dafür brennen, dürfen nicht. Ohnehin ist es ein schlechtes Zeichen für einen Oberstufenjahrgang, wenn nur Mathe und Biologie als Leistungskurse zustande kommen.”
Tja, das Kultusministerium sagt eben, in jedem Oberstufenkurs müssen (im Durchschnitt) über 20 Schüler sitzen. Wenn dann im Physik-LK nur 10 sitzen, werden dei anderen Kurse enstprechend größer. Und da hat erstens keiner Bock drauf und das ist zweitens auf Dauer auch keinem Kollegium zu vermitteln. Da hat der SL auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den Kollegen, die diese Mega-Kurse unterrichten müssen.
Also: Geliefert wie vom KuMi bestellt.
Bei meiner Tochter hängt doch viel an der Art des Unterrichts. Wir haben schon sehr früh mit ihr rudimentäre Experimente Zuhause gemacht, da gibt es viele Dinge von Kosmos schon für die Kleinen. Sie hat es geliebt und war sehr interessiert. Heute in der Mittelstufe ist sie zwar sehr gut in Mathe, Physik und Chemie, sag aber, dass sie sich zwar prinzipiell dafür interessiere, aber nicht so, wie es in der Schule aufbereitet wird. Außerdem spielt natürlich auch noch die Lehrkraft eine große Rolle. Es wird ab dem nächsten Jahr ein naturwissenschaftl. Diff.-Kurs angeboten, der fächerübergreifend arbeiten soll. O-Ton: Klingt echt gut und interessant, aber mit den Lehrerinnen auf keinen Fall. Am Ende hat sie sich deshalb auch für etwas anderes entschieden.
Dann ist das aber auch nicht dieses tiefgehende Interesse, von dem hier die Rede ist.
Es gibt auch Schüler, die gehen jede Woche in einen Fussballverein und finden es blöd, dass dann im Sportunterricht Geräteturnen gemacht wird. Es gibt auch Schüler, die spielen ein Musikinstrument und mögen den Musikunterricht nicht, weil es sie nicht interessiert, was Mozart gemacht hat.
Die Liste könnte ich endlich weiterführen. Zwischen dem Interesse, was man für gewisse Dinge hat und dem Interesse was hier gebraucht würde, liegen leider Welten und das eigentlich in jedem Fach.
Da haben sie vermutlich recht.
Die zur Verfügung stehenden Stunden für die Oberstufenkurse sind ein Witz, wenn tatsächlich eine Differenzierung nach Interessen gewünscht ist. Ein Jahrgang hat meist um die 100 SchülerInnen, wenn 10% davon Physik LK nehmen, ist das nicht schlecht. Es ist aber meist zu wenig, um den Kurs einzurichten, weil diese Unterbesetzung durch D oder E LK mit 30 Schülern ausgeglichen werden muss. Unzumutbar für alle! M, D, E, Sp, Bi, die gibt es immer, oft doppelt, Geschichte, Sowi, Musik, Kunst – alle haben das gleiche Problem, das sogenannte Angebot ist keine echte Auswahl. “Guter Rat”: Bi statt Ph LK, Pädagogik statt Sowi nehmen, sogar Sport statt Ph wurde schon vorgeschlagen…Kein Wunder, wenn dann nach Noten gewählt wird, nach Interesse geht oft nicht.
Es sind übrigens gleich viele Schülerinnen und Schüler im Einführungsjahr in den Ph-Kursen. Die Schülerinnen haben aber oft mehr Alternativen, weil ihnen die eher sprachlastigen Fächer oft leichter fallen. Wer Probleme mit Mathe hat, muss sich sehr für Physik interessieren, um weiterzumachen. Das klappt zwar fast immer am Ende, aber warum die Arbeit, wenn es nur ‘ganz interessant’ ist? Am Anfang der Oberstufe ist die Erfahrung für alle, dass mathematisch auf einmal genau das gefragt ist, was man in den letzten drei Jahren nach jeder Arbeit schnell wieder vergessen hat. Bio hat wenig Zahlen, Physik ohne Zahlen (noch schlimmer, Buchstaben) geht nicht. So wenig wie Englisch ohne Vokabeln, da können sich Fachdidaktiker noch so schöne Dinge ausdenken. Logisch, dass es am Ende zweimal BioLK gibt und Physik wieder einmal ‘obwohl es einige Interessenten gab’ abgesagt wird. Jedesmal ein Signal, dass das die Exoten sind, seltsame Nerds, die Dinge tun wollen, die niemand verstehen kann. Das Gegenteil von ‘jeder kann es lernen’ oder positiven Rollenbildern.
Es reicht nicht, an Stimmung und Image zu arbeiten, wenn die Realität das nicht unterstützt.
Was hat Chancengerechtigkeit mit der Tatsache zu tun, dass Mädchen sich kaum für Physik interessieren und andere Fächer vorziehen, die wiederum bei Jungs nicht beliebt sind?
Jungen und Mädchen sind in ihren Interessen oft unterschiedlich. Warum muss aus dieser Tatsache dauernd eine Benachteiligung konstruiert werden?
Darum geht es nicht!
Es geht um verschenktes Potenzial.
Vielleicht könnte man die doppelte Zahl an Physik-Studierenden und folglich mehr Physiker*innen und Physik-Lehrkräfte generieren, wenn man mehr Mädchen anspräche.
Es ist doch nach wie vor so in Deutschland, dass Physik als “nur was für Jungs” betrachtet wird.
Nein, nein, nein, darum geht es nicht, Martin!
„Doch auch dafür lassen sich nicht genug junge Menschen gewinnen und begeistern.“ Das „auch“ ist hier entscheidend: Junge Menschen lassen sich zunehmend schwerer für all jene Fächer erwärmen, die nicht mit Showeffekten, sondern mit harter geistiger Arbeit aufwarten – also solche, die den kontinuierlichen Erwerb von Sachkenntnissen durch angestrengte Lernarbeit, logisch-abstraktes Denken, kausales Schlussfolgern und tiefgreifendes Verständnis verlangen. Von Grundmotivation, Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft oder gar Arbeitsmoral kann man selbst in den Kursen der Oberstufe bei einer wachsenden Zahl von Schülern nur noch träumen. Die Vorstellung, dass Lehre und Forschung auch mal unbequem sein dürfen, scheint endgültig aus dem pädagogischen Weltbild verbannt.
„Ja, und hinzu kommt noch ein vereinfachtes Verständnis davon, was ‚interessanter‘ Physikunterricht ist. Oft wird gedacht: Wenn es kracht, pufft oder bunt ist, dann ist der Unterricht spannend – und dann werden schon alle begeistert sein.“ Diese „Denke“ – Unterricht muss vor allem „locker“ und „unterhaltsam“ sein – hat sich längst auch in der Chemie und vielen anderen Unterrichtsfächern breitgemacht. Und sie wird seit Anfang der 2000er von Bildungspolitik und Bildungsideologie immer mehr so gewollt (bestellt ) und kultiviert. MINT-Lehrkräfte, die sich dem entgegenstellen und weiterhin auf wissenschaftspropädeutischen Unterricht setzen, gelten inzwischen als pädagogische Fossilien – Geisterfahrer auf der bunten Autobahn der Kompetenzorientierung. Wirkung auf diese fossilen Geisterfahrer – völlige Entgeisterung.
Zurück zum Fach Physik und den neuen Prüfungsformaten nach IQB-Bildungsstandards, die ab 2025 auch in Sachsen Einzug gehalten haben und für chancengleiche Begeisterung aller Abiturienten sorgen sollen. O-Ton aus dem diesjährigen Leistungskurs von intrinsisch motivierten und leistungsstarken Schülern: „Will man uns verarschen? Was hat das noch mit Physik zu tun?“
Grundsätzlich finde ich vieles was diese Frau sagt richtig und ich sie hat sich in vielen Dingen auch richtige Gedanken gemacht, was man einigen anderen Wissenschaftlern in letzter Zeit manchmal nicht so rüber kommt.
Besonders interessant fand ich den Punkt mit dem richtigen Niveau, wo man sich dann schon fragt, wie man eigentlich jedem Kind gerecht werden kann. Das Problem ist, dass die Leistungsheterogenität mittlerweile an meiner Schulform (mit Inklusion und allem) mittlerweile so hoch ist, dass man um das ideal bei jedem Kind zu bekommen, wirklich komplett anderen Unterricht auf mindestens 5-6 Niveaustufen machen müsste. Ich weiß, da kommen jetzt wieder die Argumente von : Individuellem Lernen, Gruppenarbeiten, Problemorientiertes Arbeiten an komplexen Themen, Wochenpläne, andere Unterrichtsmethoden. Ich glaube das Versuchen viele Lehrer auch immer wieder in den Unterricht einzubauen ABER was dabei immer vollkommen außer acht gelassen wird, dass man dies mit den Rahmenbedingungen, die wir in unserem Schulsystem haben garnicht umsetzen können. Ich kann so nun mal nicht Arbeiten, wenn ich noch nicht mal mehr als 4 funktionierende Kompasse für eine Klasse habe oder nur 5 Thermometer. Ich habe extra Beispiele von sehr billigen Dingen gewählt, die trotzdem nicht ausreichend vorhanden sind. Hier könnte man lediglich noch ein Stationenlernen machen, wo an jeder Station anderes Material gebraucht wird, aber auch hier gilt: mache ich ein Stationenlernen, was am Anfang unendlich viel Arbeit ist, kann es in den folgenden Jahren schlecht aussehen, weil dann irgendwas an Material auf einmal fehlt, das lohnt dann die investierte Arbeit nicht, da ich mit meinen wenigen zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen einfach schauen muss, dass ich effektiv arbeite und wirklich gute Dinge viele Jahre verwenden kann.
Das zunächst zum Unterricht.
Jetzt zu anderen Aussagen:
-Ich arbeite an einer Schule mit vier weiblichen Physiklehrerinnen und damit mehr weiblichen Lehrerinnen als Lehrern. Das kann bei meiner Schulform (Realschule) auch mal häufiger vorkommen. Das ist grundsätzlich gut ja und bei uns sind Mädchen immer wieder auch besser als Jungs, aber man sieht oft, vielen Mädchen macht es keinen Spaß, sie ackern und bekommen gute Noten und sind froh, wenn es vorbei ist. Bei Jungs habe ich einen viel größeren Teil, wo es eine richtige intrinsische Motivation gibt.
-Ich mache ganz oft die Beobachtung, dass Mädchen von ihren Peer-Groups und von ihren Eltern eingetrichtert bekommen, dass bestimmte Fächer nichts für sie sind. Da kommen dann Eltern zum Elternsprechtag, die sagen: „Ja, ich konnte das auch nicht, wie Frauen können bei uns in der Familie das einfach nicht.“
-Was mich wirklich interessieren würde, wäre eine Statistik, wie viele Erwachsene Frauen im Nachhinein sagen, “mittlerweile finde ich Physik ganz interessant, und hätte mir jetzt auch eigentlich was in dem Bereich vorstellen können“. Das Ding ist: Ich glaube das wären nicht so viele, und ich persönlich halte es für grundfalsch, Menschen in Bereiche zu drängen, die sich hinterher dort womöglich garnicht wohl fühlen. Das Interesse von dem hier immer gesprochen wird, mit dem ich hinterher vieles Lernen kann, ist halt leider oft einfach nicht da, genauso wie Jungs halt auch oft einfach nicht reiten als ihr Hobby wählen, selbst wenn sie dürfen. Jungs und Mädchen sind in vielerlei Hinsicht sehr verschieden, und ich finde das dürfen sie auch sein, wichtig ist doch, dass wir die große Schnittmenge, die es zwischen typischen weiblichen und typischen männlichen Dingen, die es gibt finden und diese Mädchen und Jungs abholen und sie das Gefühl haben: „Wenn ich das machen möchte, dann darf ich dies unabhängig von meinem Geschlecht machen.“
Ich finde um diese Kinder geht es und nicht darum, zwanghaft mehr Kinder in diese Richtung zu drängen.
Nachtrag nach erneutem Lesen und immer mehr Entgeisterung und Frustration über die Richtung der Bildungsweiterreise im neuen Normal. Das kann man sich doch gar nicht mehr ausdenken, geschweige denn weiterdenken. Aber die Bestellungen gehen immer weiter.
Man ersetze Physik auch wahlweise gern durch Chemie, Biologie, Mathematik, Informatik etc..
Physikunterricht braucht jetzt Role Models – und zwar mit Käppi und Ohrstecker.
Wenn die Begeisterung für MINT-Fächer ausbleibt, greift man inzwischen zu pädagogischem Guerilla-Marketing: Videobasierte Formate sollen’s richten. Da sieht man dann nicht mehr den ernsten älteren Herrn im Laborkittel, sondern „junge Menschen“ – bevorzugt Frauen mit Migrationshintergrund oder wahlweise jemanden, der aussieht wie ein Influencer auf dem Weg zum Sneaker-Release. Er trägt Käppi, einen modisch blinkenden Ohrstecker und sagt mit bedeutungsschwerer Lässigkeit: „Ich mache gerade Physik-Leistungskurs.“
Aha. Und das soll jetzt die Generation TikTok in Scharen in die Welt der Thermodynamik und Quantenmechanik katapultieren? Die Botschaft ist klar: Physik ist nicht mehr trocken, schwer oder gar elitär – nein, Physik ist jetzt „cool“. Man muss sich nicht mehr durch Formeln quälen, man muss nur das richtige Vorbild haben. Am besten eines, das aussieht wie du, spricht wie du, und dir versichert, dass man auch mit minimalem Interesse und maximaler Selbstinszenierung irgendwie durchkommt.
Dass die eigentliche Herausforderung im MINT-Unterricht nicht im Image, sondern im Inhalt liegt – geschenkt. Dass logisches Denken, Ausdauer und Frustrationstoleranz nicht durch ein stylisches Video vermittelt werden – irrelevant. Hauptsache, die Zielgruppe fühlt sich angesprochen. Ob sie dann auch irgendetwas versteht, ist zweitrangig. Denn in der neuen Bildungsrealität zählt nicht mehr, was man weiß – sondern wie man sich dabei fühlt.
Was ist eigentlich mit den Jugendlichen, die sich nicht angesprochen fühlen, sondern sich in ihrem Anspruch an ernsthafte fachliche Bildung nur noch verarscht vorkommen (müssen). Unter diesen Jugendlichen befinden sich in meinem Umfeld auch viele junge Frauen mit Migrationshintergrund.
Wenn wir mit dem Aufwand den wir betreiben müssen um ein Mädchen für MINT zu gewinnen zwei Jungen mit vergleichbarer Motivation und Eignung gewinnen können, dann zweifelt der Utilitarist in mir an dem Ziel der Mädchenförderung. Die Zahl ist übrigens geraten. Gerne würde ich mich eines besseren belehren lassen. Gibt es zu diesem wirtschaftlichen Aspekt publizierte Forschung?
Was Sie eingangs intonieren, hat eine gewisse Logik. Allerdings verdient es sich im MINT- Bereich gemeinhin deutlich mehr, und wenn man das Terrain wieder den männlichen Menschen überlässt und den sozialen, den medizinisch- pflegerischen oder den edukativ- betreuenden wieder den weiblichen….
Mich als Frau hat ja der schlechte Matheunterricht abgehalten, Physik oder Ingwi zu studieren. Da muss man auch ansetzen.
Doch, denn Männer, gerade konservativere, studieren häufiger berufsorientiert, da von ihnen erwartet wird, Geld zu verdienen.
Dann war das Problem aber nicht der schlechte Matheunterricht.
Dann studiert Mann aber nicht Mint, sondern bwl, Jura oder so.
Abgesehen davon ist ein Studium, mit dessen Abschluss man kein Geld verdienen kann, verlorene Zeit und Steuergeld.
Das Problem Frauen und Naturwissenschaft und Technik ist schon wesentlich länger bekannt. Aber verändert hat sich nicht viel.
https://taz.de/Lust-auf-feministische-Physik/!1615046/
https://femmit-mag.de/zeitgeschichte-doppelt-so-viele-maedchen-wie-jungs/