DORTMUND. Wie lässt sich das Interesse von Jugendlichen an Physik und anderen MINT-Fächern fördern – gerade bei jenen, die sich selbst für „nicht geeignet“ halten? Prof. Nele McElvany, Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, setzt auf Vorbilder, alltagsnahe Inhalte und gezielte Motivation. Im Interview erklärt sie, warum Selbstwirksamkeit entscheidend ist, weshalb Frühförderung allein nicht reicht – und wie Lehrkräfte zur Schlüsselfigur für mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung werden können.

News4teachers: Frau Professorin McElvany, Sie wollen den Physikunterricht revolutionieren. Was läuft denn derzeit nicht gut?
Nele McElvany: Was wir beobachten – und zwar vom Ende her gedacht –, ist, dass es nicht genügend junge Menschen gibt, die sich für Physik begeistern oder sich überhaupt vorstellen können, diesen Weg weiterzugehen, bis hin zu einem Physikstudium. Es gibt seit Langem das Problem, dass es zu wenige Studierende in diesem Bereich gibt. Das betrifft nicht nur die Physik, aber eben auch sie – und das beginnt bereits einen Schritt vorher: bei den Leistungskursen in der Oberstufe.
Diese Leistungskurse sind oft das Sprungbrett für ein späteres Physikstudium. Doch auch dafür lassen sich nicht genug junge Menschen gewinnen und begeistern. Wenn man dann noch genauer hinschaut, erkennt man, dass bestimmte Gruppen systematisch unterrepräsentiert sind. Dazu gehören ganz klar junge Frauen, die sich anscheinend nicht vorstellen können, dass Physik etwas für sie ist. Aber auch Kinder aus weniger privilegierten sozialen Schichten – also Kinder, bei denen nicht beide Elternteile bereits Akademiker*innen sind. Für diese Gruppen scheint Physik als mögliche berufliche Option oft gar nicht erst in Betracht gezogen zu werden.
News4teachers: Gilt das nicht auch für andere Fächer wie Mathematik oder Chemie – also generell für den MINT-Bereich?
“Aus der Psychologie wissen wir, dass die Berufsorientierung früh beginnt – lange bevor Leistungskurse gewählt werden”
Nele McElvany: Ja, mit einer Ausnahme: Biologie. Das ist ein Fach, das für weibliche Schüler*innen offenbar attraktiver ist – sowohl im Studium als auch in der Oberstufe. Ansonsten ist das eine Herausforderung, die viele MINT-Fächer betrifft. Auch bei uns an der Universität, etwa im Maschinenbau, gibt es viele unterrepräsentierte Gruppen. Und genau um diese Gruppen soll es in unserer Studie gehen.
News4teachers: Das klingt nach einem Teufelskreis: Wenige Physikstudierende bedeuten wenige Physiklehrkräfte – das führt zu weniger Physikunterricht – was wiederum zu noch weniger Studierenden führt?
Nele McElvany: Ja, und hinzu kommt noch ein vereinfachtes Verständnis davon, was „interessanter“ Physikunterricht ist. Oft wird gedacht: Wenn es kracht, pufft oder bunt ist, dann ist der Unterricht spannend – und dann werden schon alle begeistert sein, erkennen wir großartig das Themenfeld ist und Physik-Leistungskurse wählen oder Physik studieren. So einfach ist es leider nicht.
Zunächst einmal muss man festhalten, dass in diesen Momenten, wenn es gut läuft, kurzfristiges situationales Interesse bei den Kindern und Jugendlichen geweckt wird. Von dort ist es noch ein weiter Weg bis zu einem stabilen individuellen Interesse an dem Themenfeld Physik und einer möglichen Kurswahl-Motivation.
Ein anderer Aspekt wird aber noch weniger bedacht: Menschen können zwar etwas interessant finden, es aber trotzdem nicht als für sich selber in Frage kommend wahrnehmen. Dann nützt auch spannender und fachdidaktisch wertvoller Physikunterricht nichts. Aus der Psychologie wissen wir, dass die Berufsorientierung früh beginnt – lange bevor Leistungskurse gewählt werden. Mit der Identitätsentwicklung haben Kinder und Jugendliche nämlich zunehmend ein Bewusstsein für soziale Kategorien – etwa das Geschlecht oder die soziale Herkunft. Damit geht einher, dass sie auch schon früh ein Gefühl dafür entwickeln, was zu ihnen vermeintlich passt – oder eben nicht. Da gehen dann Türen für ganze Bereiche zu und es wird später nur noch aus den in Frage kommenden, da scheinbar mit der eigenen Identität kongruent, Bereichen ausgewählt. Dabei spielen gesellschaftlich vermittelte Bilder eine entscheidende Rolle. Physik gilt oft als „Männerfach“ oder als Fach für Akademikerkinder. Mädchen sind dann raus. Auch wer z. B. aus einem Haushalt kommt, in dem die Eltern einen handwerklichen oder Fertigungs-Beruf ausüben oder im Dienstleistungssektor tätig sind, schließt dieses Feld oft unbewusst für sich aus.
Noch bevor also überhaupt das Interesse eine Rolle spielt, wird die Möglichkeit innerlich ausgeschlossen: „Das passt nicht zu mir.“ Diese Selbstwahrnehmung steht vielen jungen Menschen im Weg. Deshalb setzen wir in unserer Studie genau dort an: Wir wollen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, Physik überhaupt als realistische Option für sich wahrzunehmen – als etwas, das zu ihnen passt, das sie können und dürfen.
News4teachers: Also geht es eher um Vorbilder als um Inhalte?
Nele McElvany: Nein, die Inhalte sind selbstverständlich wichtig. Es wird verschiedene Interventionsbedingungen geben, deren Wirkung vergleichend untersucht wird. In einer geht es ganz konkret um Role Models: Wir arbeiten mit videobasierten Formaten, in denen nicht nur ältere Männer im Labor gezeigt werden, sondern gezielt auch junge Menschen – etwa Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund oder auch einfach jemand Cooles mit Käppi und modisch blinkendem Ohrstecker, der sagt: „Ich mache gerade Physik-Leistungskurs.“ Dabei werden auch so genannte Gegennarrative explizit thematisiert – mögliche Stereotype über Physik oder Menschen, die dafür geeignet sind, werden aufgegriffen, in Frage gestellt und andere Interpretationen angeboten. Viele Menschen glauben auch, dass Physik etwas ist, für das man ein angeborenes Talent hat oder eben nicht, und sehen es nicht als ein Themenfeld, das man sich mit entsprechender Anstrengung erschließen kann, wenn es einen interessiert.
Das klingt vielleicht ein wenig klischeehaft, aber es geht uns darum, zu zeigen: Menschen wie ich können auch Physik machen. Es geht darum, die eigene Biografie mit der Perspektive auf Physik in Einklang zu bringen.
Vorbild für den Unterricht benötigt? Wir hätten eins im Angebot: Dr. Insa Thiele-Eich – Meteorologin, Klimaforscherin und Astronautin.
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Die Aufzeichnung einer besonderen Schulstunde, bei der sich Insa Thiele-Eich den Fragen von vier Schulklassen stellte, steht nun kostenfrei in der Lehrkräfte-Community von ViewSonic zur Verfügung. Die bekannte Wissenschaftlerin berichtete unter anderem von ihrem Weg zur Astronautin, von Gleichberechtigung in der Raumfahrt, dem Alltag auf der Raumstation und ihrer Sicht auf den Klimaschutz: „Kinder sollten ein Bewusstsein für ihre Umwelt haben – aber die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen.“
Hybrider Unterricht kann inspirierend, niederschwellig und ortsunabhängig sein – das zeigt dieses innovative Schulformat, das anlässlich der Bildungsmesse didacta entstand. Ideal geeignet für den fächerverbindenden Einsatz in MINT, Gesellschaftslehre oder Ethik.
Hier hier flott anmelden – dann ist die Schulstunde kostenfrei nutzbar.
News4teachers: Braucht es dafür nicht auch mehr Diversität unter den Lehrkräften – gerade mit Blick auf Kinder mit Migrationsgeschichte?
Nele McElvany: Natürlich wäre das eine gute Entwicklung. Vorbilder sind auch in den Lehrerzimmern wichtig. Das können wir mit unserer Studie aber kurzfristig nicht beeinflussen. Wenn unsere Intervention erfolgreich ist, könnten langfristig mehr Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen Physik studieren – auch auf Lehramt. Das würde dann auch zu mehr Diversität unter den Lehrkräften führen.
Für uns steht jetzt zunächst die schulische Intervention im Vordergrund. Wir starten in der 9. Klasse und führen jedes Jahr eine so genannte Relevanzintervention durch – entweder allein oder kombiniert mit der Role-Model-Komponente. o können wir die Effekte vergleichen und die Schüler*innen über mehrere Jahre begleiten – bis zur Wahl der Grund- und Leistungskurse und sogar weiter bis zur Studienentscheidung. Das ist der Vorteil eines Exzellenzclusters: Es erlaubt eine langfristige Beobachtung – nicht nur ein kurzes „rein und raus“.
News4teachers: Noch mal zu den Inhalten: Sie haben gesagt, es geht nicht darum, dass es nur knallt und pufft. Was sind dann Inhalte, die Schülerinnen und Schüler tatsächlich ansprechen?
“Das Wissen der Physik ist nicht abgeschlossen, sondern wird weiterentwickelt. Und es betrifft das reale Leben”
Nele McElvany: Natürlich sind wir für spannenden Unterricht – keine Frage. Deshalb arbeiten wir auch mit Fachdidaktiker*innen zusammen. An dem Exzellenzcluster „Center for Chiral Electronics“ sind mit der Universität Halle-Wittenberg, der FU Berlin und der Universität Regensburg drei Standorte beteiligt, unter anderem arbeiten wir mit den Fachdidaktiken in Halle und Regensburg. Sie stellen sicher, dass die Inhalte nicht nur fachlich korrekt, sondern auch altersgerecht und didaktisch ansprechend aufbereitet sind.
Unser Hauptthema ist die Chiralität. Wir möchten zeigen, dass es sich dabei nicht um abstraktes, verstaubtes Wissen handelt, sondern um etwas mit Relevanz – auch im Alltag. Aber: Selbst wenn der Unterricht gut gemacht ist, bringt das nichts, wenn eine Schülerin denkt: „Das ist nichts für mich.“ Dann bleibt es vielleicht interessant – aber es ändert nichts an ihrer Entscheidung.
Genau da setzen unsere Relevanzinterventionen an. Dieses Instrument ist in den USA bereits vielfach erprobt worden – insbesondere bei unterrepräsentierten Gruppen und beim Thema Geschlechterrollen. Die Idee ist, dass Jugendliche ein Zitat von jemandem aus ihrer „Gruppe“ lesen – etwa eine junge Frau, die erklärt, warum sie Physik wichtig findet oder was sie daran spannend findet. Dann bearbeiten die Schüler*innen Schreibaufgaben, in denen sie sich mit dem Zitat auseinandersetzen: Stimmen sie dem zu? Sehen sie das anders? Was sind gute Argumente? In anderen Zitaten geht es beispielsweise darum, sich mit der Nützlichkeit von Physik und der Relevanz für die Zukunft auseinanderzusetzen.
Zwei Wochen später gibt es eine „Booster-Session“, um den Effekt zu verstärken – das kennt man aus der Interventionsforschung. In manchen Gruppen kombinieren wir das mit Role-Model-Videos, in anderen zeigen wir neutrale Videos, um Unterschiede sichtbar zu machen.
Zusätzlich gibt es eine weitere Bedingung, in der wir mit dem Konzept „Nature of Science“ arbeiten – also mit der Frage: Was ist Wissenschaft überhaupt? Ist Physik etwas Abgeschlossenes, das vor 200 Jahren erforscht wurde? Oder ist es ein lebendiges Feld, das sich ständig weiterentwickelt – gemeinsam, durch Forschung, durch gesellschaftliche Fragen?
News4teachers: Ist nicht auch der fachliche Zuschnitt ein Problem? Naturwissenschaften werden isoliert unterrichtet. Im Leben aber erleben wir Phänomene meist ganzheitlich. Wäre ein projektorientierter, fächerübergreifender Unterricht – z. B. im Sinne von „Deeper Learning“ – nicht sinnvoller?
Nele McElvany: Ja, absolut. Es geht uns ja gerade auch darum, Anwendungsbezüge herzustellen. Das ist ein Grund, warum unsere Fachwissenschaftler*innen von der FU Berlin, aus Halle und Regensburg eingebunden sind. Das Gesamtcluster beschäftigt sich mit der Frage nach Energieeffizienz – ein hochaktuelles Thema. Wir wollen gemeinsam deutlich machen: Das Wissen der Physik ist nicht abgeschlossen, sondern wird weiterentwickelt. Und es betrifft das reale Leben.
Unsere Intervention ist allerdings stärker auf psychologische Mechanismen ausgerichtet: Was hält junge Menschen aus bestimmten Gruppen davon ab, Physik überhaupt als Option wahrzunehmen? Wir fragen nicht primär, wie der Unterricht interessanter gemacht werden kann – dafür setzen wir auf unsere Fachdidaktiker*innen. Die von ihnen entwickelten Materialien werden erprobt und fachlich fundiert sein – darauf können wir zum Glück vertrauen.
News4teachers: Das heißt, die Ergebnisse Ihrer Studie sind wahrscheinlich auch auf andere Fächer übertragbar, oder?
Nele McElvany: Ich gehe fest davon aus, dass das, was wir hier exemplarisch für Physik entwickeln, auch für andere Fächer im MINT-Bereich übertragbar ist – also für Mathematik, Informatik, Chemie und Technik. Diese Fächer haben oft mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen. Die Relevanz der eingesetzten Interventionen wurde in Deutschland bereits erprobt – etwa im Fach Mathematik. Das hat unter anderem Hanna Gaspard gemacht, die früher ebenfalls am IFS war. Ihre Studien liefen über mehrere Jahre. Zwar war das Vorgehen etwas anders konzipiert als jetzt bei uns im Exzellenzcluster, aber insgesamt konnten dort bereits wichtige Erfahrungen gesammelt werden. Insofern spricht vieles für eine Übertragbarkeit – auch auf andere Fächer.
News4teachers: Sie sagen, es braucht Testimonials oder Vorbilder. Werden Sie jetzt gezielt nach erfolgreichen Menschen mit Physik-Hintergrund suchen, die Sie in die Schulen bringen? Wie darf man sich das praktisch vorstellen?

Nele McElvany: Ja, tatsächlich suchen wir gezielt Menschen mit Physik-Hintergrund – also Physikerinnen und Physiker oder auch Menschen in angrenzenden Berufen. Das müssen nicht zwangsläufig Hochschulangehörige sein. Auch in Wirtschaftsunternehmen arbeiten Physikerinnen und Physiker. Oder Studierende, die sich für ein Physikstudium entschieden haben – auch sie können Vorbilder für Schülerinnen und Schüler sein. Wir haben glücklicherweise ein Jahr Vorbereitungszeit, um diese Personen zu identifizieren. Dabei hilft uns das Exzellenzcluster, in das wir integriert sind. Dort sind viele Menschen engagiert, die bereit sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu teilen.
Wir werden kurze Videos produzieren, in denen diese Role Models zu Wort kommen. Die Intervention soll ja standardisiert sein – das heißt, alle Schülerinnen und Schüler, die in der gleichen Experimentalgruppe sind, sollen auch dieselben Inhalte erhalten. Daneben wird es auch Videos geben, in denen dieselben Inhalte vermittelt werden – allerdings ohne die persönlichen Geschichten der Vorbilder. Wie genau diese Videos gestaltet werden, ist noch in Planung. Wahrscheinlich wird es Sprecherinnen oder Sprecher geben, die die Inhalte präsentieren. Auch neutrale Videos werden benötigt, die rein auf die fachlichen Inhalte fokussieren. Diese Arbeit beginnt jetzt.
News4teachers: Wird dabei auch Werbung für den Beruf als Lehrkraft gemacht? Ist es auch Ziel, künftige Physiklehrkräfte zu gewinnen oder zu ermuntern?
Nele McElvany: Die Intervention ist offen für beides. Im Mittelpunkt steht zunächst das Fach Physik – sowohl mit Blick auf die Kurswahlen in der Schule als auch auf die Studienfachwahl. Aber es ist völlig offen, ob die Jugendlichen sich später eher fachwissenschaftlich orientieren oder doch für den Lehrerberuf entscheiden.
“Es braucht kein ‘angeborenes Talent’. Entscheidend ist das Interesse – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen”
News4teachers: Vielleicht noch einmal grundsätzlich gefragt: Welche Relevanz hat das Fach Physik für ein Land wie Deutschland? Brauchen wir das heute überhaupt noch – im Zeitalter von KI und Digitalisierung?
Nele McElvany: Oh ja – unbedingt! Die Exzellenzstrategie betrifft natürlich nur einen Teil der Gesellschaft, aber sie verdeutlicht gut, worum es geht: um große Zukunftsfragen, für die Physik eine zentrale Rolle spielt. Viele der ausgewählten Exzellenzcluster kommen aus der Physik – und das aus gutem Grund. Ob es um die Erforschung des Universums geht oder um künftige Elektroniklösungen, die unser Alltag erfordert – in all dem steckt Physik. Die jungen Menschen sollten verstehen, dass diese Themen mit ihrem Alltag zu tun haben und dass es noch viel zu entdecken gibt.
Zugleich wollen wir ihnen vermitteln, dass man nicht einem bestimmten Geschlecht oder einer bestimmten sozialen Gruppe angehören muss, um Physik zu verstehen oder studieren zu können. Es braucht kein „angeborenes Talent“. Entscheidend ist das Interesse – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Unsere Interventionen sollen genau das ermöglichen.
News4teachers: In Gesprächen mit Lehrkräften hören wir häufig Klagen über mangelnde Anstrengungsbereitschaft bei Schülerinnen und Schülern. Oft wird gesagt, das Leistungsniveau sinke, vor allem aber mangele es an der inneren Einstellung – dass sich viele Jugendliche schlicht keine Mühe mehr geben. Rutscht Physik da in der Wahrnehmung vollends durch?
Nele McElvany: Dieses Phänomen ist nicht neu – jede Generation meint, die folgende sei weniger leistungsbereit. Das kennt man historisch. Aber wenn ich als Psychologin auf die Motivation und Entscheidungen schaue, dann zeigt sich: Es geht nicht nur darum, ob ich etwas interessant oder nützlich finde. Es geht auch darum, ob ich mir selbst zutraue, eine Herausforderung zu bewältigen. Genau da setzt das Modell an, mit dem wir arbeiten – das „Expectancy-Value-Modell“.
Selbstwirksamkeit ist ein zentraler Faktor. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit meinem Hintergrund – als Frau, als jemand mit Migrationsgeschichte oder schlicht mit einer schwächeren Note in der letzten Klassenarbeit – ohnehin nicht mithalten kann, werde ich mich kaum auf ein Fach wie Physik einlassen. Umgekehrt gilt: Wenn ich die Erfahrung mache, dass sich Anstrengung lohnt und ich Erfolg haben kann, dann stärkt das meine Motivation.
Dabei ist das richtige Schwierigkeitsniveau entscheidend – nicht zu leicht, nicht zu schwer. Aufgaben, die zu schwer sind, frustrieren. Aufgaben, die zu leicht sind, langweilen. Schule muss in dieser „Zone der nächsten Entwicklung“ begleiten – wie es Wygotski formuliert hat –, also in dem Bereich, in dem Lernen durch Begleitung und Herausforderung möglich ist. Wenn dann auch noch die Werte stimmen – also wenn Physik als sinnvoll, wichtig und interessant erlebt wird –, dann hat das Fach durchaus eine Chance, wieder mehr junge Menschen zu begeistern.
News4teachers: Es geht also nicht darum, den Stoff möglichst weichgespült und bequem zu servieren – mit ein bisschen Filmkonsum und Wohlfühlpädagogik?
Nele McElvany: Nein, ganz sicher nicht. Es ist keineswegs das Ziel, Anforderungen immer weiter zu senken. Wir sagen auch in unseren Begleittexten zur Studie klar: Es geht um Fördern und Fordern. Junge Menschen wollen ernst genommen werden – auch mit ihrer Leistungsfähigkeit. Gerade im MINT-Bereich gilt: Diese Fächer sind komplex und anspruchsvoll. Aber das ist auch eine Chance. Man muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen – und sie dann herausfordern und damit positive Erfahrungen machen lassen.
News4teachers: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frühförderung? Es gibt ja zahlreiche Initiativen wie das „Haus der kleinen Forscher“. Warum gelingt es trotzdem nicht, mehr Kinder langfristig für Naturwissenschaften zu gewinnen?
Nele McElvany: Diese Initiativen sind großartig – sie tun genau das, was man sich wünscht: Sie bringen Kinder früh mit MINT-Themen in Kontakt. Aber: Danach entsteht eine Lücke. In der Pubertät, wenn Identitätsfragen wichtiger werden, setzt oft die Erkenntnis ein: „So wie ich bin, passe ich nicht zu Physik“ – sei es, weil man weiblich ist, einen bestimmten sozialen Hintergrund hat oder weil man glaubt, nicht klug genug zu sein. Die gesellschaftlichen Zuschreibungen wirken stark. Genau diese Diskrepanz versuchen wir mit unserer Studie zu überbrücken. Wir wollen zeigen: Die Inhalte sind spannend und du passt mit deiner Identität dazu. Das ist die Brücke, die wir schlagen wollen. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
