„Wand aus Buchstaben, die keinen Sinn ergaben“: Literaturkritiker will Schiller aus der Schule verbannen – Philologen sind empört

1

MAINZ. Friedrich Schiller ist tot – das weiß man, möchte man Volker Weidermann entgegnen, seit 1805. Doch der prominente Literaturkritiker und frühere Gastgeber des Literarischen Quartetts will ihn nun ein zweites Mal beerdigen: als festen Bestandteil des Schulkanons. In einem Essay für die ZEIT erklärt er den Klassiker endgültig für leblos – und hat „Mitleid mit all den Deutschlehrerinnen und -lehrern“, die Jahr für Jahr versuchen, eine „Brücke vom Heute zurück in Schillers Zeit“ zu schlagen. Der Philologenverband Rheinland-Pfalz reagiert empört: Wer Schiller begrabe, der beerdige auch die Aufklärung – und öffne damit Türen, die besser verschlossen blieben.

“Mach hurtig Jenni. Zieh die Naue ein. / Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn”: Schiller-Denkmal in Stuttgart. Foto: Shutterstock

Volker Weidermann, 1969 in Darmstadt geboren, ist Kulturkorrespondent der Zeit und einer der profiliertesten Literaturkritiker des Landes. Er liebt Bücher – und deshalb, so sagt er, will er manche nicht länger künstlich am Leben erhalten. Jedenfalls nicht in der Schule. „Ich glaube, es ist jetzt langsam an der Zeit, auch seine Texte ruhen zu lassen. Zumindest in der Schule“ – erklärt er in einem knackigen Kommentar in der Zeit mit Blick auf Schiller.

Weidermann erzählt, wie er selbst versuchte, seinen Sohn für Wilhelm Tell zu begeistern. Der Schüler stand, so schreibt er, „vor einer Wand aus Buchstaben, die keinen Sinn ergaben“. Der Vater, sonst ein begeisterter Vorleser, griff zum Buch – und scheiterte ebenso: „Die Wahrheit ist: Es ergab keinen [Sinn].“ Die Sprache, so sein Befund, habe sich „in einer Weise verändert, erneuert und beschleunigt“, dass zwischen Tell und TikTok eine unüberwindbare Wand stehe. Sein Schluss: „Schön. Der Sturm war da. Er hat die Bühne leer gefegt. Sinnlos, sie immer wieder mit den gleichen alten Figuren in der gleichen alten Sprache zu füllen.“

Weidermann fordert, den Kanon regelmäßig zu „entrümpeln“, um Raum für Gegenwartsliteratur zu schaffen. Die Schule müsse neue Brücken schlagen – „ins Leben, ins Jetzt“.

„Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer“ – Der Philologenverband kontert

Der Philologenverband Rheinland-Pfalz hält den Vorschlag des renommierten Kulturjournalisten (den der Verband etwas despektierlich als „Schreiber“ tituliert) für einen gefährlichen Irrweg – und antwortet mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Schiller und die anderen Klassiker. „Die Wochenzeitung Die Zeit hat am 87. Jahrestag der Reichspogromnacht einen Beitrag abgedruckt, der erschüttert“, heißt es in der Stellungnahme. Dass ausgerechnet an einem solchen Gedenktag dazu aufgerufen werde, Schiller zu beerdigen, sei „ein symbolischer Affront gegen die Werte der Aufklärung“.

Der Verband fragt: „Ist damit auch die Aufklärung tot, also die Epoche, die Friedrich Schiller prägte? Nimmt man damit gleichzeitig auch Abschied von den Gedanken der Aufklärung? Was bedeutet das für den Literaturkanon insgesamt?“

Die Philologen warnen vor einer „Entwurzelung“, die gefährlich weit über den Deutschunterricht hinausreiche. „Traditionen, Bücher und Ideen zu beerdigen, kennzeichnet Anfänge einer Entwurzelung, die uns bereits Anfang des letzten Jahrhunderts in das große Grauen des Antisemitismus gestürzt hat. Dummheit und Hass gingen damals Hand in Hand.“

Weidermanns Argument, alte Texte seien sinnlos, weil sie sich schwer vermitteln ließen, halten die Lehrer für eine Kapitulationserklärung vor der Bildung: „Das Absenken der Leistungsanforderungen in Lehrplänen in den letzten zwei Jahrzehnten hat viel Unheil angerichtet. Noch haben wir es in der Hand, diesem Trend entgegenzuwirken.“

Die Lösung, so der Verband, liege nicht im Streichen, sondern im inhaltlichen Vertiefen. „Wir müssen zu einer Inhaltsorientierung bei Lehrplänen zurückkehren und etwa zentrale Werke der Aufklärung wie Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise fest im Lehrplan der Schulen verankern.“ Gerade Lessing zeige, dass klassische Texte aktueller sein können als moderne Bestseller. „Nathan der Weise strebt danach, Judentum, Christentum und Islam miteinander zu versöhnen und kann heute noch Jugendliche berühren“, heißt es weiter. „Hier Aufklärung zu leisten, ist unsere Pflicht als Lehrer, um so zum friedvollen Miteinander beizutragen.“

Mit Blick auf zunehmenden Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit sehen die Philologen darin eine moralische Verpflichtung: „Wer den Schülern Schiller, Lessing und die Aufklärung vorenthält, der nimmt ihnen das Rüstzeug, gesellschaftliche und sprachliche Komplexität zu verstehen.“

„Es wäre so schön, den Abiturienten von heute den Spaß am Lesen nicht für immer zu verderben“

Weidermann trifft dennoch einen Nerv – und eine offene Wunde des Deutschunterrichts. Seit Jahren wird über den Kanon gestritten: Wie viel Goethe, wie viel Gegenwart darf es sein? Viele Lehrkräfte kämpfen im Unterricht um Zugänge, die zwischen Sprachwandel und TikTok-Memes verloren zu gehen drohen. Zugleich bleibt der Kanon das Rückgrat kultureller Bildung. Der Streit um Schiller ist deshalb auch ein Streit um die Zukunft der Schule: Soll sie Bewahrerin oder Erneuerin sein? Die Philologen sagen: beides. „Es geht nicht um ein Entweder-oder“, heißt es in der Stellungnahme, „sondern darum, Schülern zu zeigen, dass große Gedanken und humane Ideale zeitlos sind.“

Weidermann hält dagegen – und plädiert für Mut zum Loslassen. „Man muss auch immer mal wieder aufräumen im Kanon. Wie soll sonst Platz für Neues entstehen? Für neue Klassiker? Woher sonst soll Luft kommen und Raum für die Beschäftigung mit einer neuen, lebendigen Literatur, die einen Bezug zur Gegenwart nicht nur behauptet, sondern wirklich hat?“

Georg Büchner, Jane Austen – ja. Wilhelm Tell – nein. Er fordert, die Schüler „nicht länger mit sinnlosen, unverständlichen Texten zu quälen, die ihre Zeit gehabt haben“. Und: „Es wäre so schön, den Abiturienten von heute den Spaß am Lesen nicht für immer zu verderben. Und die Lehrerinnen und Lehrer vom mühsamen Errichten sinnloser Brücken ins Nichts zu bewahren.“ News4teachers 

Schülerrat will Rapper Haftbefehl im Lehrplan sehen: “DNA unserer Generation”

Anzeige

Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

1 Kommentar
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Opossum
1 Stunde zuvor

Einerseits, bin ich der Meinung, dass vieles aus klassicher Literatur versteht man tief erst wenn man bestimmte Lebenserfahrungen gesammelt hat und die Sprache kann Herausforderungen mit sich bringen. Andererseits, wenn man in der Schule auch schwerere Texte nicht liest, wie soll man die Vergangenheit verstehen (und sein Wortschatz erweitern)? Wird alte Literatur etwas für Eliten? Soll man nicht mehr Odyssee oder griechische Mythen lesen? Welche Lyrik ist überhaupt den Schülern denn zumutbar?