Warum die Krise der Demokratie in den Klassenzimmern beginnt (und wie Schule sich ändern müsste, um dem zu begegnen)

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DORTMUND. Die Demokratie in Deutschland steht unter Druck – und die Schule gleich mit. Während laut der neuen „Mitte-Studie“ der Universität Bielefeld und der Friedrich-Ebert-Stiftung immer mehr Menschen in Deutschland autoritäre Strukturen befürworten, warnt der Dortmunder Soziologe Prof. Aladin El-Mafaalani: Das Bildungssystem sei auf die Angriffe von rechtsaußen nicht vorbereitet. Und gerade darin liege eine der größten Gefahren für die Zukunft der liberalen Gesellschaft.

Die Demokratie bröckelt. (Symbolbild.) Illustration: Shutterstock

„Viele Menschen verlieren das Vertrauen in das Bildungssystem“, sagt El-Mafaalani im Interview mit dem Stern. Der Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dortmund erklärt: „Das ist erkennbar an Spannungen zwischen Eltern und Lehrkräften sowie an der Flucht auf Privatschulen. Auch Ausbildungsbetriebe kritisieren die Schulen zunehmend öffentlich.“

Das liege nicht nur am Lehrkräftemangel oder an fehlender Ausstattung. Sondern auch daran, dass die Schule in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft zu träge reagiere. Digitalisierung, Migration, Diversität – all das fordere ein System heraus, das „nicht flexibel genug“ sei.

Schlimmer noch: In diesem Zustand werde die Schule zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Spannungen. Die AfD etwa attackiere gezielt Schulen, stelle parlamentarische Anfragen zu vermeintlicher Indoktrination im Unterricht und fordere eine „politische Neutralität“, die in Wahrheit auf Selbstzensur der Bildungseinrichtungen hinauslaufe.

Warum? „Weil Schule die einzige Institution ist, die alle Menschen erfasst“, so El-Mafaalani. „Und sie entscheidet, welche Erkenntnisse der Wissenschaft gesellschaftlich reproduziert werden – und welche nicht.“ Sie prägt das gemeinsame Verständnis von Fakten, Zusammenhängen und gesellschaftlichen Normen. Das bedeutet: Wer in die Schulen hineinwirkt, beeinflusst damit auch, wie junge Menschen künftig über Politik, Wissenschaft und Wahrheit denken. Bildung wird zum Machtfaktor.

Angriff auf die Demokratie – mitten im Klassenzimmer

In seinem neuen Buch „Misstrauensgemeinschaften. Zur Anziehungskraft von Populismus und Verschwörungsideologien“ beschreibt El-Mafaalani, wie Misstrauen gegenüber Institutionen wächst – und warum Populisten genau davon profitieren.

El-Mafaalani sieht eine paradoxe Entwicklung: Die Welt sei so komplex geworden, dass selbst Fachleute kaum noch den Überblick behalten. „Daher wird Vertrauen umso notwendiger“, sagt er – weil niemand mehr alles selbst prüfen oder verstehen kann. Gleichzeitig steige aber die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen misstrauen. „Das Paradoxe ist: Vertrauen wird notwendiger, aber Misstrauen wahrscheinlicher.“

Dieses Misstrauen wachse vor allem deshalb, weil in den vergangenen Jahren viele Erwartungen enttäuscht wurden – in den Bereichen Geld, Grenzen und Gesundheit. „Was ist heute noch sicher? Hat überhaupt noch jemand die Kontrolle?“, fragt El-Mafaalani. Viele Menschen wüssten nicht mehr, wem sie überhaupt noch glauben können. Das erzeugt Unsicherheit – und diese Unsicherheit treibt Menschen in die Arme von Populisten und Verschwörungsideologen.

Früher, so El-Mafaalani, hätten sich Menschen mit solchen Gefühlen einfach zurückgezogen, heute aber fänden sie im Internet Gleichgesinnte und politische Angebote. Dadurch entstehe eine neue, aktive „Misstrauensgemeinschaft“, die Populismus befeuere.

Dieses Misstrauen spiegelt sich längst im Klassenzimmer. Lehrkräfte berichten von Schülerinnen und Schülern, die Verschwörungserzählungen verbreiten oder Wissenschaft anzweifeln. „Die gesellschaftlichen Probleme, die Angriffe gegen die Demokratie – all das wurde lange ignoriert und konnte sich entwickeln“, so El-Mafaalani. „Weder spielte es eine Rolle bei der Ausbildung der Lehrkräfte, noch in der Art und Weise, wie die Strukturen und Routinen in der Schule funktionieren.“

Politische Bildung sei zwar in den Lehrplänen verankert, aber die Schule selbst sei kaum demokratisch. „In den autoritärsten Elternhäusern haben Kinder immer noch mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im Familienleben als in einer durchschnittlichen Schule“, sagt er zugespitzt. „Wenn Schüler mehr Möglichkeiten zur Mitbestimmung hätten, wären sie viel besser auf politische Kontroversen vorbereitet.“

Die autoritäre Versuchung – „Disziplin und Gehorsam“

Die aktuelle „Mitte-Studie“ bestätigt, wie tief die Demokratiekrise reicht (News4teachers berichtete). Zwar bezeichnen sich fast vier von fünf Befragten als überzeugte Demokratinnen und Demokraten – doch 15 Prozent befürworten offen die Aussage: „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“ Ein Viertel meint, „Deutschland braucht eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert.“

Besonders alarmierend: 40,5 Prozent der Befragten finden, Schulen sollten „Disziplin und Gehorsam“ beibringen. Weitere 29 Prozent antworten „teils/teils“. Der Wunsch nach einer autoritären Schule spiegelt die gesellschaftliche Sehnsucht nach Ordnung wider – in einer Zeit, in der viele Menschen sich vom Staat alleingelassen fühlen.

Der Bielefelder Konfliktforscher Prof. Andreas Zick, Mitautor der Studie, warnt: „Das Demokratie-Misstrauen ist sehr deutlich angestiegen.“ Zwei von fünf Bürgerinnen und Bürgern hätten kein Vertrauen mehr in demokratische Institutionen, rund 18 Prozent nicht einmal mehr in freie Wahlen – dreimal so viele wie vor vier Jahren.

Bildung schützt – aber nicht jeden

Die Forscher sehen Bildung als „Schutzfaktor“ gegen Rechtsextremismus. Doch sie schränkt ein: Menschen, die autoritär erzogen wurden, entwickeln trotz guter Schulbildung häufiger ein rechtsextremes Weltbild. „Bildung kann bei hohem Autoritarismus nur bedingt als Schutzfaktor wirken“, heißt es.

El-Mafaalani erkennt darin ein strukturelles Problem: Schule fördere vor allem Leistung, nicht Haltung. „Die Institution will nicht autoritär auftreten, ist aber nicht ansatzweise demokratisch“, sagt er. Demokratie werde gepredigt, aber nicht gelebt.

Generation ohne Zukunftsvertrauen

In den Augen des Soziologen sind junge Menschen heute besonders anfällig für Populismus – nicht, weil sie weniger gebildet seien, sondern weil sie weniger Vertrauen haben. „Ein 18-Jähriger war in der Grundschule, als die Flüchtlingskrise 2015 kam, und Teenager während der Corona-Pandemie. Er hat erlebt, dass keine Partei sich für ihn interessiert“, erklärt El-Mafaalani.

Über soziale Medien wie TikTok erreiche Jugendliche fast nur noch die Kommunikation populistischer Akteure. „Eine Krise jagt die nächste. Von jeder dieser Krisen sind junge Menschen stärker betroffen als ältere.“ Die etablierten Parteien hätten darauf kaum Antworten. „Nur auf TikTok präsent zu sein oder Witze zu machen, reicht nicht“, warnt der Soziologe. „Es geht darum, Themen anzusprechen, die für junge Menschen relevant sind. Das macht die AfD – und inzwischen auch die Linke.“

Zwischen Misstrauen und Minderheitenschutz

El-Mafaalani fordert deshalb, Schule müsse endlich als demokratischer Raum verstanden und gestaltet werden. Dazu gehöre eine bessere Ausstattung – aber auch mehr Beteiligung. „Es ist nicht normal, dass Schulen die heruntergekommensten öffentlichen Gebäude sind“, sagt er. Warum ist das so? Weil die Demografie zunehmend die Wahlergebnisse bestimmt. „Wir haben viel mehr alte Menschen als junge – es braucht einen Minderheitenschutz für die kleine Gruppe der Jüngeren, die ja nicht zufällig andauernd übersehen werden.“

Die Zukunft der Demokratie, so seine Diagnose, entscheidet sich in der Schule. Denn dort lernen Kinder nicht nur Lesen und Rechnen – sondern auch, ob sie der Gesellschaft vertrauen können. News4teachers

Wie demokratisch sind Schulen? Nicht so sehr! Warum Schüler mehr Mitbestimmungsrechte brauchen – eine Podcast-Debatte

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