KÜHBACH. Schule begleitet Kinder durch Pubertät, Prüfungen und Abschlüsse – doch was fehlt, ist eine bewusste Vorbereitung auf das Erwachsensein selbst. Während Jugendliche rechtlich volljährig werden, bleiben Fragen nach Verantwortung, Selbstständigkeit und innerer Reife meist unbeantwortet. Im zweiten Teil seines Gastbeitrags fragt Autor Peter Maier, warum Initiation und Übergangsrituale in der deutschen Pädagogik kaum eine Rolle spielen – und beschreibt ein Modell aus seiner eigenen Praxis.
Hier geht es zurück zu Teil eins des Gastbeitrags.
WalkAway – ein geeignetes Übergangsritual heute
Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass von Seiten der Kultusministerien und der ihnen untergeordneten Lehrplan-Institute die Begriffe „Initiation“ und „Initiationsrituale“ bewusst vermieden werden. Man scheint diese Begriffe, sowie die dazu gehörigen Inhalte wie der Teufel das Weihwasser zu fürchten. Warum eigentlich?
Ich vermute, dass hier die NS-Zeit nachwirkt. Denn die Nazis haben die germanische Mythologie, sowie Rituale, Zeltlager und andere Jugend-Treffen in der Natur dazu missbraucht, die begeisterungsfähigen und für Gemeinschaftsveranstaltungen sehr offenen Jugendlichen für ihre Zwecke zu steuern und zu formen: für Rassenhass, für Gewaltverherrlichung, für die Kriegsvorbereitung. Hitler wollte eine Jugend, die „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ werden sollte.
Dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte ist nach wie vor (schul)politisch brisant. Wenn man in Deutschland den Begriff „Initiationsrituale“ in den Mund nimmt, die womöglich sogar einen Bezug zu unserer germanischen Geschichte, zur Mythologie oder zu (Natur)Ritualen haben, gerät man schnell in den Verdacht des Neo-Nazitums. Und tatsächlich gibt es in der rechtsradikalen Szene Kreise, die bewusst eine solche Verbindung herstellen wollen. Daher vermeidet man schon in den Lehrplänen jeden Begriff oder Hinweis, durch den man auf unsere Nazi-Vergangenheit schließen könnte. Einerseits verständlich!
Ich frage mich dann aber, wie deutsche Jugendliche heute erwachsen werden sollen, wenn schon das Wort „Initiation“ einen seltsamen Beigeschmack hat und damit schnell Bezüge zum Dritten Reich hergestellt werden. Unsere Jugendlichen brauchen – wie die Jugendlichen in anderen Ländern auch – Übergangsrituale, damit sie die Phase der Adoleszenz bewusst verlassen und in die neue Phase des Erwachsenseins hinübergehen können. Das Initiationsbedürfnis ist jedenfalls da, wie ja etwa die Zeitungsmeldungen von verrückten Autorennen in Innenstädten, von Alkoholexzessen („Komasaufen“), übertriebenem Drogenkonsum, Schlägereien, Vandalismus usw. von Jugendlichen und jungen Volljährigen zeigen: Ich erkenne darin mangels gesellschaftlicher Angebote missglückte, selbst veranstaltete Initiations-Rituale.
Daher wollte ich meinen Schülern ein geeignetes Ritual anbieten, um ihnen den Prozess zum Erwachsenwerden zu erleichtern. Mit dem naturpädagogischen Ritual des „WalkAway“ habe ich mich einer indianisch beeinflussten Zeremonie bedient, um jede Verbindung zur Nazizeit von vorneherein komplett zu vermeiden. Dieses Übergangsritual habe ich konkretisiert, erweitert und in Bezug zur heutigen Pädagogik gestellt. Mit dem WalkAway habe ich sehr gute Erfahrungen bei der Jugend-Initiation gemacht. 73 Jungen und Mädchen haben dieses Ritual mit mir durchgeführt.
In vielen Stammeskulturen in Nord- und Südamerika oder in Afrika war es üblich, Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden sogenannte Initiations-Rituale anzubieten, um ihnen den so wichtigen Übergang in die nächste Lebensphase des Erwachsenseins zu erleichtern, zu gestalten, ja überhaupt zu ermöglichen. Dazu wurden erfahrene Erwachsene als Mentoren für die Jungen und Mentorinnen für die Mädchen ausgewählt, um mit den Jugendlichen geeignete Initationsrituale durchzuführen, die alle wichtigen Aspekte und Kriterien des Erwachsenseins zumindest ansatzweise und symbolisch enthalten mussten.
Der deutsch-stämmige Steven Foster und seine Frau Meredith Little waren in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts als Sozialarbeiter und Psychologen in einigen nordamerikanischen Reservaten tätig, die für ihre junge Leute noch traditionelle Initiationsrituale durchführten. Dazu wurden diese nach gründlicher Vorbereitung in Männer- oder Frauen-Camps für mehrere Tage alleine in die Wildnis geschickt. In dieser Zeit waren sie ganz auf sich alleine gestellt und mussten sich auch alleine versorgen. Wenn sie dann wieder zurück kehrten, wurde ein großes Stammesfest veranstaltet und die jungen Initianden wurden dabei vor allen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, weil sie ihre Erwachsenen-Prüfung bestanden hatten.
Foster und Little erkannten bald, dass sie bezüglich der so wichtigen Thematik der Initiation auf ein enorm wichtiges uraltes Wissen bezüglich gesellschaftlichen Lebens gestoßen waren, das wir heute leider vergessen haben. Wir leben heute jedoch nicht mehr in (indianischen) Stammeskulturen. Daher haben Foster und Little den Grundgedanken der Indianer-Initiationsrituale übernommen und daraus das auch für unsere heutige Gesellschaft kompatible 12-tägige Naturritual der „Visionssuche“ kreiert.
Ein solches (Natur)Ritual muss jedoch hinsichtlich Herausforderung und Dosierung altersgerecht sein. Das viertägige Ritual des„WalkAway“ stellt eine Visionssuche in Kurzform dar. Übersetzen würde ich dieses Kunstwort WalkAway mit: „Gehe deinen Weg allein hinaus in die Natur, konfrontiere dich mit dir selbst, schmore im eigenen Saft und finde dabei heraus, wer du bist und was du willst. Mit diesen Erkenntnissen kehre dann zurück in die Gemeinschaft!“ Dieses Ritual hat drei Phasen:
- Die ersten zwei Tage werden dazu verwendet, die Teilnehmer mit mehreren Übungen in Kontakt zur Natur und ihren Wesenheiten zu bringen und sie mit dem Ritualort vertraut zu machen. Dazu verweilen sie mehrmals für jeweils zwei Stunden mit bestimmten Aufgaben alleine in der Natur. Auch ein Sicherheitssystem für die zweite Phase wird aufgebaut.
- Der Hauptteil ist die sogenannte „Solozeit“. Mit Beginn des dritten Tages werden alle Teilnehmer einzeln verabschiedet und für 24 Stunden alleine in den Wald geschickt – ohne Essen, ohne Zelt und ohne Smartphone. Sie gelten in dieser Zeit als unsichtbar und vermeiden jeden Kontakt zu anderen Menschen. Mit dabei haben sie nur eine Plane gegen den Regen, eine Matte, einen Schlafsack, vier Liter Wasser, einen Rucksack mit Wechselwäsche sowie ein Tagebuch, um alle Gedanken, Gefühle und Beobachtungen während dieser Solozeit notieren zu können.
- Mit Beginn des vierten Tages kehren die Teilnehmer wieder zurück. Nun beginnt die letzte Phase des Rituals: die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Am Waldrand warten schon die Eltern und Verwandten, wenn die jungen Initianden morgens aus dem Wald „herausgetrommelt“ und für alle sichtbar werden. Gemeinsam geht es dann ins nahe gelegene Seminarzentrum.
Anschließend erzählt jeder Teilnehmer im Beisein der Eltern und der Angehörigen von seiner Zeit allein da draußen im Wald. Drei Stunden lang kann man eine Stecknadel fallen hören, so ergreifend sind die Geschichten der jungen Initianden. Als Leiter kann man dabei zusehen, wie die jungen Leute im Beisein ihrer Eltern und mit ihrer ausdrücklicher Zustimmung einen großen Schritt hin zu mehr Selbstverantwortung, Selbständigkeit und Selbstvertrauen auf ihrem Weg zum Erwachsensein machen. Als Kinder gingen sie in den Wald, als viel reifere Jugendliche sind sie zurückgekommen – ein großes Stück erwachsener. Aus psychologischer und pädagogischer Sicht gesehen machen die Schülerinnen und Schülern bei diesem Ritual oft einen enormen Schritt in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, dessen Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. News4teachers
Unser Gastautor Peter Maier war Gymnasiallehrer. Er wirkt heute als Jugend-Initiations-Mentor und hat Bücher zum Thema geschrieben, darunter:
- Peter Maier: „WalkAway – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst“ (Softcover)
ISBN: 978-3-757560-66-9 (16,99 €, Epubli Berlin 2023, 1. Auflage)
eBook: ISBN: 978-3-757560-28-7 (9,99 €, Epubli Berlin 2023) - Peter Maier: „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ (Softcover)
Band I: Übergangsrituale“ ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 €, Epubli Berlin)
eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1 (11,99 €, Epubli Berlin) - Peter Maier: „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ (Softcover)
Band II: Heldenreisen.“ ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 €, Epubli Berlin)
eBook: ISBN 978-3-753176-25-3 (12,99 €, Epubli Berlin)
Weitere Infos: www.initiation-erwachsenwerden.de
Initiation: Warum es nötig wäre, den Übergang ins Erwachsenenleben zu begehen
