BERLIN. Im Zentralabitur im Fach Biologie werden über Jahre hinweg nahezu ausschließlich Fachwissen sowie die Fähigkeit geprüft, Informationen aus Texten und Grafiken zu entnehmen. Andere im Lehrplan vorgesehene Kompetenzbereiche spielen dagegen kaum eine Rolle. In Berlin jedenfalls. Das ist das Ergebnis einer Auswertung sämtlicher Berliner Abituraufgaben im Fach Biologie aus den Jahren 2013 bis 2023 durch den Biologiedidaktiker Prof. Leroy Großmann von der Ruhr-Universität Bochum.

Nach den geltenden Bildungsstandards sollen Schülerinnen und Schüler im Biologieunterricht nicht nur über Fachwissen verfügen, etwa zu Evolution, Ökologie oder Genetik. Vorgesehen sind darüber hinaus Kompetenzen in den Bereichen Erkenntnisgewinnung, Kommunikation und Bewertung. Dazu gehören unter anderem das Planen und Auswerten von Experimenten, das Formulieren und Prüfen von Hypothesen sowie das Abwägen von Handlungsoptionen in ethisch relevanten Kontexten.
Ob diese vier Kompetenzbereiche auch tatsächlich im Abitur überprüft werden, hat Großmann systematisch untersucht. „Ich hatte erwartet, dass es aus traditionellen Gründen hauptsächlich um die Prüfung von Fachwissen geht, das im Unterricht gelernt wurde und dann angewendet werden muss“, erklärt er. „Es zeigt sich, dass dem in der Tat so ist.“
Da es sich um eine vollständige Auswertung aller Berliner Abituraufgaben handelt, seien die Ergebnisse für das Land Berlin belastbar, betont der Wissenschaftler. Ob sich diese Befunde auf andere Bundesländer übertragen lassen, lasse sich daraus allerdings nicht automatisch ableiten. „Ob sich diese Befunde auf andere Bundesländer übertragen lassen, müsste empirisch untersucht werden, da zwischen den Ländern zum Teil gravierende Unterschiede in der Prüfungskultur bestehen“, so Großmann.
„Spannend für die Biologiedidaktik oder die Bildungswissenschaften insgesamt ist die Frage, was im Abitur eigentlich geprüft werden soll“
Aus bildungswissenschaftlicher Sicht wirft die Studie eine grundsätzliche Frage auf. „Spannend für die Biologiedidaktik oder die Bildungswissenschaften insgesamt ist die Frage, was im Abitur eigentlich geprüft werden soll“, sagt Großmann. Er problematisiert dabei eine mögliche Diskrepanz zwischen Lehrplan und Prüfungspraxis. Einerseits werde von Lehrkräften verlangt, im Unterricht alle Kompetenzbereiche abzudecken. Andererseits reiche es im Abitur offenbar aus, Fachwissen wiederzugeben und anzuwenden sowie mit Fachtexten und Grafiken umzugehen.
Diese Konstellation könne einen sogenannten Backwash-Effekt erzeugen. Lehrkräfte, die ihre Schülerinnen und Schüler möglichst gezielt auf das Abitur vorbereiten wollen, könnten ihren Unterricht stärker an den tatsächlichen Prüfungsanforderungen als an den curricularen Vorgaben ausrichten. „Die Folge wäre dann, dass so wichtige Kompetenzen wie das Bewerten komplexer Sachverhalte – etwa beim Klimawandel oder Biodiversitätsverlust – und das Verstehen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse auf der Strecke bleiben“, gibt Großmann zu bedenken.
Besondere Bedeutung erhält die Studie vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen im Abitur. Seit dem laufenden Schuljahr koordiniert das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen einen gemeinsamen Aufgabenpool für ländergemeinsame Abituraufgaben. „Die Befunde können wichtige Impulse für die Weiterentwicklung dieser Aufgaben geben“, sagt Großmann. „Eine evidenzbasierte Diskussion über die stärkere Integration aller vier Kompetenzbereiche in Prüfungsaufgaben könnte einen wichtigen Schritt nach vorn zu einer zeitgemäßen Aufgabenkultur im Abitur darstellen.“
Großmann, der die Untersuchung noch während seiner Tätigkeit an der Freien Universität Berlin durchgeführt hat und seit September 2025 in der Biologiedidaktik der Ruhr-Universität Bochum arbeitet, analysierte eine Vollstichprobe aller Aufgaben des Berliner Zentralabiturs. Seine Studie wurde in der „Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften“ veröffentlicht. News4teachers
Hier geht es zu allen Beiträgen des News4teachers-Themenmonats “Mission MINT”.
MINT-Förderung: “Der Alltag muss Raum für den Entdeckungsdrang der Kinder lassen”








