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Heterogenität – und KI: Vor welch großen Herausforderungen der Deutsch-Unterricht steht

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MAGDEBURG. „Diversität ist kein Problem“ – damit bringt Prof. Karina Becker auf den Punkt, welchen Anspruch sie an zeitgemäßen Deutschunterricht stellt. Seit dem Wintersemester 2025/26 hat die Germanistin die Professur für Fachdidaktik Deutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg inne. Sie legt dabei die Latte hoch: Der Deutschunterricht soll der wachsenden Vielfalt in den Klassenzimmern gerecht werden und zugleich Kinder, Jugendliche und Lehrkräfte auf den sinnvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz vorbereiten.

“Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler ernst nehmen”: Prof. Dr. Karina Becker. Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg

Becker verbindet in ihrer Arbeit zwei Themen, die den schulischen Alltag zunehmend prägen: Diversität und Digitalisierung. Deutschunterricht, so ihre Überzeugung, könne nicht mehr an einer vermeintlichen Homogenität von Lerngruppen ausgerichtet werden. In vielen Klassen treffen unterschiedliche sprachliche, kulturelle und soziale Hintergründe aufeinander. Diese Realität müsse Unterricht ernst nehmen, statt sie zu umgehen. Gemeinsam mit ihrem Team entwickelt Becker deshalb Lernumgebungen, die genau an dieser Vielfalt ansetzen – nicht nur für Schulen in Deutschland, sondern auch für den Bereich Deutsch als Fremdsprache im Ausland.

Dabei geht es ausdrücklich auch um Inhalte, die im Unterricht oft als heikel gelten. „Dazu gehört der bewusste Einsatz diverser Kinder- und Jugendliteratur ebenso wie Unterrichtsformate, die Fragen zu Gender, Rassismus oder interkulturellem Lernen einbeziehen“, sagt Becker. Sie beobachtet, dass viele Studierende davor zurückschrecken, solche Themen im Unterricht aufzugreifen. Häufig fehle das passende Vokabular oder die Sicherheit im Umgang mit sensiblen Fragestellungen. Für Becker ist klar: „Die schlechteste Lösung ist, solche Themen zu vermeiden. Wir müssen angehenden Lehrkräften das Wissen und die Professionalität vermitteln, die sie brauchen, um schwierige Inhalte souverän zu behandeln.“

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„Die Lernrückstände treffen besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien“

Dass ein Umdenken im Deutschunterricht dringend nötig ist, zeigen aus ihrer Sicht auch die Ergebnisse aktueller Bildungsstudien. Becker verweist auf den IQB-Bildungstrend 2022, nach dem nur etwa die Hälfte der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler den Regelstandard im Lesen und Zuhören für den Mittleren Schulabschluss erreicht. Besonders betroffen seien Kinder aus sozial benachteiligten Familien. „Die Lernrückstände treffen besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Der Deutschunterricht der Zukunft muss die unterschiedlichen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler wirklich ernst nehmen“, betont die Didaktikerin.

Die Vielfalt in den Klassenzimmern ist für Becker dabei kein neues Phänomen, sondern längst Normalität. Zahlreiche Studien belegten, dass sprachliche und kulturelle Diversität den schulischen Alltag prägt. Auch internationale Berichte, etwa die UNESCO Global Education Monitoring Reports, weisen regelmäßig darauf hin, dass Vielfalt zu den größten Herausforderungen moderner Bildungssysteme gehört. Besonders sichtbar werde dies an Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen. „Nicht jedes Kind hat die gleichen Startchancen. Das beschäftigt mich“, sagt Becker. Zugleich widerspricht sie einer defizitorientierten Sichtweise deutlich: „Aber Diversität ist kein Problem, sondern ein Auftrag, das Potential aller Lernenden zu sehen und für dessen Förderung passende und gute Lösungen zu finden.“

Ein zweiter Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich. Becker untersucht mit ihrem Team, wie Anwendungen wie ChatGPT Lehrkräfte konkret unterstützen können. Dabei geht es nicht um Ersatz, sondern um sinnvolle Ergänzungen: etwa durch Unterrichtssimulationen, durch Feedback zur Gesprächsführung oder durch adaptive Lernmaterialien. Ziel ist es, Lehrkräfte sowohl in der Unterrichtsplanung als auch in ihrer Professionalisierung zu entlasten und zu stärken.

„Ich freue mich, dass wir die neuen Unterrichtsansätze früh in der Praxis erproben lassen können“

Dass diese Ansätze nicht im Elfenbeinturm entwickelt werden, ist Becker besonders wichtig. Sie verweist auf die Möglichkeit, neue Konzepte frühzeitig in der Praxis zu erproben. „Ich freue mich, dass wir die neuen Unterrichtsansätze früh in der Praxis erproben lassen können, insbesondere im neuen dualen Lehramtsstudiengang der Uni Magdeburg, aber auch durch die Zusammenarbeit der Universität mit der Kooperationsschule IGS Willy Brandt“, sagt sie. Diese Schule soll die erste Universitätsschule Sachsen-Anhalts werden, deren Neubau derzeit in unmittelbarer Nähe zum Campus entsteht.

Über den Deutschunterricht hinaus setzt Becker auf enge Zusammenarbeit zwischen den Fachdidaktiken und den Bezugswissenschaften. Fächerübergreifende Kooperationen sollen es ermöglichen, neue Technologien wie Virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen für den Unterricht nutzbar zu machen. Auch hier geht es ihr weniger um technische Spielereien als um pädagogisch begründete Einsatzszenarien.

Zugleich ist Beckers Arbeit international ausgerichtet. Erste überregionale Forschungs- und Lehrnetzwerke bestehen bereits, unter anderem im Rahmen der europäischen Hochschulallianz EU GREEN, in der die Universität Magdeburg Mitglied ist. Die Allianz bündelt Themen wie hochwertige Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Klimaschutz unter dem Dach der Sustainable Development Goals. Für Becker ist diese Perspektive unverzichtbar. „Die Zusammenarbeit mit Partnern aus ganz Europa zeigt, wie viel wir voneinander lernen können“, sagt sie. Sichtbar werden soll diese Zusammenarbeit unter anderem im Mai 2026, wenn an der Otto-von-Guericke-Universität die Konferenz „Growing up the Future. Education for Sustainability“ stattfindet, die Becker federführend vorbereitet.

Karina Becker bringt für ihre neue Aufgabe nicht nur wissenschaftliche Expertise mit, sondern auch langjährige Praxiserfahrung. Nach ihrem Studium der Fächer Deutsch, Latein und Philosophie auf Lehramt sowie der Deutschen und Lateinischen Philologie und Angewandten Kulturwissenschaften an der Universität Münster promovierte sie im Bereich der Neueren Deutschen Literatur. Nach dem Zweiten Staatsexamen arbeitete sie mehrere Jahre als Gymnasiallehrerin in Baden-Württemberg. Es folgten die Habilitation an der Universität Paderborn und Lehrtätigkeiten in der Hochschullehre. Seit 2019 ist Becker an der Universität Magdeburg tätig, zunächst als Juniorprofessorin, seit 2025 nach erfolgreicher Tenure-Evaluierung als Professorin auf Lebenszeit. Internationale Erfahrungen sammelte sie als Gastprofessorin unter anderem in Polen, Brasilien und Italien.

Für den schulischen Deutschunterricht bedeutet ihr Ansatz vor allem eines: Weg vom Ausweichen, hin zur aktiven Auseinandersetzung mit der Realität in den Klassen. Vielfalt und Digitalisierung, so Becker, seien keine zusätzlichen Belastungen, sondern zentrale Aufgaben professionellen Unterrichts. Wie gut Schulen darauf vorbereitet sind, entscheidet aus ihrer Sicht maßgeblich über Bildungsgerechtigkeit in den kommenden Jahren. News4teachers 

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