Kommentar: Warum wir eine Debatte darüber brauchen, was Bildung überhaupt ist

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BERLIN. Was ist Bildung – und wozu soll Schule eigentlich befähigen? In der bildungspolitischen Debatte wird diese Grundsatzfrage oft von Zahlen, Tests und Vergleichsstudien überlagert. Bildung erscheint dann vor allem als etwas Messbares: Kompetenzen, Leistungen, Standards. Doch je stärker Schule auf Überprüfung und Optimierung reduziert wird, desto mehr gerät aus dem Blick, was Bildung darüber hinaus sein kann – und sein muss. Ein Kommentar.

Nürnberger Trichter (Symbolbild.) Illustration: Shutterstock

Nordrhein-Westfalens Schulministerin Dorothee Feller kündigte zu Beginn ihrer Amtszeit an, den nicht zufriedenstellenden Bildungserfolg der Schüler und Schülerinnen des Landes NRW verbessern zu wollen. Was damit gemeint ist, visualisiert der Schulkompass NRW 2030, ein bildungspolitisches Programm, das Anfang des Jahres vorgestellt wurde, um die Zukunftschancen junger Menschen nachhaltig zu verbessern. Stichworte dabei: „frühe Bildung“, die „Kompetenz- und Leistungsentwicklung“ der Kinder und Jugendlichen, die „Bildungschancen“ und „Schule als Lern- und Lebensort“.

Die Konsequenz dieses Ansatzes sind weitere Lernstandserhebungen: Noch regelmäßiger soll durch zentrale Tests geprüft werden, ob Schülerinnen und Schüler den Anforderungen des Bildungssystems entsprechen.

Zur gleichen Zeit kämpfen Bildungseinrichtungen zunehmend mit einem Rechtsruck unter Schülerinnen und Schülern. Eine Studie im Auftrag des baden-württembergischen Kultusministeriums unter Neuntklässlern in dem Bundesland machte unlängst deutlich, dass mehr als die Hälfte (53 Prozent) der 15-Jährigen es „gut“ oder „sehr gut“ fänden, wenn demokratische Prozesse eingeschränkt werden und Technokraten statt gewählte Politikern über Maßnahmen entscheiden würden.

So unterschiedlich diese Probleme auch erscheinen mögen – ihre gemeinsame Wurzel könnte in der grundlegenden Frage liegen, wie Bildung überhaupt definiert wird.

Während die Politik durch Vergleichstests versucht, Probleme zu lösen, die das Verständnis von dem bestehenden Bildungssystem widerspiegeln, wird genau dieses den sich wandelnden Anforderungen an Individuen in der modernen Welt nicht gerecht. Zwar fördern heutige Bildungsansätze individuelles Wachstum und messbaren Erfolg, doch fehlt ihnen das Ziel, jede zivilgesellschaftliche Person zu einem aktiven Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft zu formen.

Das Konzept von Bildung an deutschen Schulen muss die Möglichkeit einschließen, Schülerinnen und Schüler über reine Anweisungen hinauswachsen zu lassen und ihnen die Gelegenheit bieten, selbst Erkenntnisse aus einem eigenen Verständnis heraus zu erzeugen. Bildung sollte nicht nur darin bestehen, sich der Welt anzupassen, sondern darüber hinausgehen: Es sollte darum gehen, über das bloße Vermitteln von Wissen hinaus die Chance zu erhalten, eine treibende Kraft zu werden – eine Kraft, die in der Lage ist, festgefahrene Strukturen zu hinterfragen sowie durch kritisches Denken gesellschaftlichen Wandel zu fördern und so auch dem zunehmenden Rechtsdruck wirksam entgegenzutreten.

Das Bildungssystem sieht sich in einer Krise, weil ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht erreicht. Das ist nicht falsch, aber unvollständig. Denn nicht in den Bildungsbegriff eingeschlossen werden Bildungszwecke, die sich nicht bewerten oder messen lassen.

„Was aus dem Blick gerät, ist, dass Lehren nicht nur darin besteht, Lernen zu ermöglichen, sondern auch in der Förderung von Urteilsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Weltverantwortung“

Im Einklang mit den aufgezeigten Mängeln führt der niederländische Pädagoge Gert Biesta die Kritik einer „Lernifizierung“ der Bildung ein. Biesta kritisiert, dass der bildungstheoretische Diskurs eine Verschiebung hin zur Priorisierung eines „Prozesses individueller Anpassung und Verständnisses“ erfahren habe, statt einer breiteren Auseinandersetzung mit der Welt und ihren Komplexitäten. Er argumentiert, dass der Bildungsprozess durch einen reinen Lernprozess ersetzt wurde: „Was aus dem Blick gerät, ist, dass Lehren nicht nur darin besteht, Lernen zu ermöglichen, sondern auch in der Förderung von Urteilsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Weltverantwortung.“

Biesta spricht sich für eine Dreigliederung der Bildung aus: Qualifikation, Sozialisation und Subjektivierung. Diese drei Aspekte balancieren ein Bildungskonzept, das sowohl auf Lerninhalte abzielt, die notwendig sind, um ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden, als auch auf Werte, die für die Teilhabe an einer Demokratie wichtig sind, sowie auf die Förderung unabhängigen Denkens.

Die Autorin Milla Priboschek. Illustration: News4teachers

Reicht das heutige Bildungsverständnis samt seiner Umsetzung aus, um Bildung in ihrer ganzen Bedeutung gerecht zu werden? Sollte der Lernende im Bildungsbegriff nicht vielmehr auch als Subjekt erscheinen – als jemand, der seinen Intellekt und seine Persönlichkeit aktiv innerhalb eines schulisch vorgegebenen Rahmens mitgestaltet, anstatt nur als Objekt des Bildungsprozesses zu gelten?

Eine weiter gefasste Konzeption von Bildung würde den Weg frei machen für Reformen, die ein ganzheitlicheres Bildungsverständnis anstreben. Vielleicht ist es also an der Zeit, Bildung durch weniger Einschränkungen im Bildungskonzept und einen stärker subjektorientierten Zugang als Raum zu verstehen, in dem individuelle Entfaltung und demokratische Mündigkeit gleichermaßen gefördert werden. News4teachers / Milla Priboschek

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