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“Neue Härte”: Abschiebungen treffen zunehmend Kinder und junge Erwachsene mitten in Schule, Ausbildung und Beruf

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FRANKFURT/MAIN. Abschiebungen treffen in Deutschland zunehmend Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mitten in Schule, Ausbildung und Beruf. Trotz Integration, laufender Qualifizierung und gravierendem Fachkräftemangel werden Bildungsbiografien abrupt beendet. Ein neues Bündnis aus Gewerkschaften, Flüchtlingsorganisationen und Schülervertretungen – darunter die GEW – warnt vor einer gefährlichen Entwicklung: Wenn Aufenthaltsrecht Bildung systematisch aushebelt, gerät das Recht auf Bildung selbst unter Druck.

Integrierte Personen und Familien lassen sich leicht abschieben – sie sind gut greifbar. (Symbolfoto.) Foto: shutterstock / jokerpro

Als Amira an diesem Morgen in Offenbach die Sprachnachricht verschickt, ist ihr Alltag bereits vorbei. „Ich kann heute nicht kommen, die Polizei ist da“, so lautet die Botschaft an eine Kollegin. Wenige Minuten später wird die junge Frau aus ihrer Wohnung geholt, im Schlafanzug, ohne Abschied. Amira, die in einer Offenbacher Kita gearbeitet, Kinder betreut, Deutsch gelernt und ihre Anerkennung als Erzieherin fast abgeschlossen hatte, wird abgeschoben – nach Litauen, in ein Flüchtlingslager. Ihr Fall, über den tagesschau.de berichtet, steht exemplarisch für eine Entwicklung, die Beratungsstellen, Gewerkschaften und Schülervertretungen seit Monaten alarmiert: Abschiebungen treffen zunehmend Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mitten in Schule, Ausbildung und Beruf.

Amira ist aus Afghanistan geflohen, nach der Machtübernahme der Taliban. Sie kam 2022 nach Hessen, arbeitete in der Kita „Die Krabbelstubb“ in Offenbach, übernahm Verantwortung, betreute eine eigene Kindergruppe, organisierte Angebote, schrieb den Newsletter. Für das Team war sie längst mehr als eine Mitarbeiterin. „Sie war eine Bereicherung“, sagt die Kita-Leitung. Für die Kinder war sie eine feste Bezugsperson. Für Amira selbst war die Arbeit ein Ankommen. „Ich war glücklich. Ich wollte hier bleiben, arbeiten, einen Unterschied machen für die Kinder“, sagt sie der tagesschau am Telefon.

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Doch all das zählt im Asylsystem nicht. Ausschlaggebend war, dass Amira zuvor in Litauen Schutz erhalten hatte. Integration, Arbeit, Ausbildung – sie spielen im Verfahren keine Rolle, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf tagesschau-Anfrage betont. Die Folge: Abschiebung trotz Fachkräftemangels, trotz laufender Qualifizierung, trotz sozialer Einbindung. Zurück bleibt nicht nur eine junge Frau in tiefer Verzweiflung, sondern auch eine Kita, die Gruppen zusammenlegen muss, Eltern vertrösten und Kinder auffangen soll, die fragen: Wo ist Amira?

„Die Abschiebung signalisiert, dass du jederzeit abgeschoben werden kannst, egal wie hart du arbeitest“

Was in Offenbach geschah, ist kein Einzelfall. Darauf weist Pro Asyl in einer aktuellen Bilanz zu Abschiebungen im Jahr 2025 hin. Die Hilfsorganisation spricht von einer „neuen Härte“, die erreicht sei. Fast ein Fünftel mehr Abschiebungen als im Vorjahr werden politisch als Erfolg verkauft. Der Preis dafür sei hoch. Immer häufiger träfen Maßnahmen Familien, kranke Menschen und gut integrierte Geflüchtete. Allein zwischen Januar und September 2025 wurden 2.396 Kinder bis 13 Jahre abgeschoben, weitere 699 waren zwischen 14 und 17 Jahre alt. Insgesamt waren damit 17,5 Prozent der Abgeschobenen minderjährig.

Pro Asyl schildert zahlreiche Fälle, die zeigen, wie konsequent bestehende Bleiberechtsregelungen unterlaufen oder ignoriert werden. Da ist etwa der 14-jährige Lewan aus Georgien. Er lebte seit über drei Jahren mit seiner Familie in Norddeutschland, besuchte erfolgreich die Schule, war im Sportverein integriert und hätte alle Voraussetzungen für ein Bleiberecht nach Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz erfüllt. Dennoch entzog die Ausländerbehörde ihm kurzfristig die notwendige Duldung. Wenige Wochen später stand die Polizei nachts um vier Uhr vor der Tür. Die ganze Familie wurde abgeschoben. Zurück bleiben traumatisierte Kinder, die weinen und nach Deutschland zurückwollen, und eine Klassengemeinschaft, die einen Freund verloren hat.

Ein anderer Fall betrifft Mariam M., eine junge Frau aus Ruanda. Sie lebte seit 2022 in Niedersachsen, absolvierte Sprach- und Integrationskurse, arbeitete mit unbefristetem Vertrag in einem Seniorenzentrum und hatte eine Zusage für eine weiterführende Qualifizierung in der Pflege. Ein Spurwechsel in einen Aufenthaltstitel für Arbeit oder Ausbildung schien realistisch. Dennoch leitete die Ausländerbehörde ihre Abschiebung ein. Mariam kam in Abschiebehaft und wurde schließlich nach Ruanda abgeschoben. „Die Abschiebung signalisiert, dass du jederzeit abgeschoben werden kannst, egal wie hart du arbeitest“, sagt eine Freundin von ihr. Angst, Vertrauensverlust und das Gefühl, dass Menschlichkeit im System keinen Platz hat, seien die Folgen.

Auch Familien, die alles daransetzen, sich zu integrieren, bleiben nicht verschont. Pro Asyl berichtet von einer vierköpfigen Familie aus der Türkei, deren Kinder gut Deutsch sprachen, die Schulen besuchten und Erfolge erzielten, während die Eltern arbeiteten oder arbeiten wollten. Trotz Petitionsverfahren und nachweislicher Integration wurde die Familie abgeschoben.

„Wenn Mitschüler:innen plötzlich nicht mehr im Unterricht erscheinen, weil sie abgeschoben wurden, zerstört das Vertrauen“

Diese Fälle machen deutlich, was Beratungsstellen seit Langem beobachten: Bildung, Ausbildung und soziale Teilhabe bieten keinen verlässlichen Schutz mehr. Genau hier setzt das neu gegründete Bündnis „Bildung statt Abschiebung“ an. In Hessen haben sich der Hessische Flüchtlingsrat, die Diakonie Hessen, der Landesausländerbeirat, der Paritätische Hessen, die Landesschüler:innenvertretung und die GEW Hessen zusammengeschlossen. Über 150 Organisationen und Einzelpersonen haben sich bereits angeschlossen.

Aus Sicht des Bündnisses nimmt die politische Debatte eine gefährliche Richtung. Gut integrierte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene würden abgeschoben, obwohl sie zur Schule gehen, eine Ausbildung begonnen haben oder kurz davorstehen. Thilo Hartmann, Vorsitzender der GEW Hessen, betont: „Wenn Kinder oder Auszubildende aus ihrem Bildungskontext herausgerissen werden, ist das ein Angriff auf das Recht auf Bildung – und ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich tagtäglich für gelingende Integration einsetzen. Wir brauchen Sicherheit und Verlässlichkeit für junge Menschen, nicht politisch motivierte Abschiebungen.“

Die Angst ist auch im Schulalltag spürbar. Freundinnen und Freunde verschwinden über Nacht, Klassengemeinschaften werden auseinandergerissen. Sunena Akbar von der Landesschüler:innenvertretung Hessen sagt: „Wenn Mitschüler:innen plötzlich nicht mehr im Unterricht erscheinen, weil sie abgeschoben wurden, zerstört das Vertrauen – in Politik, in Behörden und in ein sicheres Lernen. Bildung darf niemals vom Aufenthaltsstatus abhängen.“

Der Hessische Flüchtlingsrat kritisiert zudem, dass bestehende Bleiberechtsregelungen zu selten zugunsten der Betroffenen angewandt werden. Geschäftsführer Timmo Scherenberg spricht von Kurzsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sei es widersprüchlich, angehende Erzieherinnen oder Pflegekräfte abzuschieben, während zugleich über Anerkennung ausländischer Abschlüsse diskutiert werde.

Der Fall Amira bündelt all diese Widersprüche. Er hat eine breite Protestbewegung ausgelöst. Für die abgeschobene Erzieherin wurde eine Petition gestartet, die binnen kurzer Zeit über 50.000 Unterschriften sammelte. Unter dem Titel „Amira gehört zu uns – nicht ins Abschiebelager!“ schildern Kolleginnen und Kollegen, was sie verloren haben: eine Kollegin, eine Bezugsperson für Kinder, ein Vorbild. Sie kritisieren ein System, das Integration fordere und sie zugleich bestrafe.

Amira selbst hat sich aus Litauen mit einer persönlichen Nachricht an die Unterstützerinnen und Unterstützer gewandt. Sie bedankt sich für die Solidarität, die ihr Kraft gebe. Die Abschiebung habe viele Menschen bewegt, schreibt sie, und die Reaktionen hätten gezeigt, dass sie nicht allein sei. Sie vermisse ihre Familie, die Kinder aus der Kita, die Kolleginnen und Freunde. „Eure Unterstützung hat uns Kraft gegeben. Sie ist ein Geschenk. Und sie ist ein Zeichen der Hoffnung – für eine Gesellschaft, in der Menschlichkeit, Mitgefühl und Gerechtigkeit nicht nur Worte, sondern gelebte Werte sind.“ Ihre Hoffnung richtet sich auf eine Rückkehr nach Deutschland, in das Land, das für sie ein zweites Zuhause geworden sei.

Ob diese Hoffnung erfüllt wird, ist offen – trotz des gravierenden Personalmangels in (west-)deutschen Kitas. News4teachers 

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