BERLIN. Tomi Neckov, früher Schulleiter einer Mittelschule in Bayern – wie dort die Hauptschule heißt -, ist neuer Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Der bisherige Vize wurde heute Nachmittag auf der Delegiertenversammlung seines Verbandes an die Spitze gewählt. Wir sprachen mit ihm über das, was aus seiner Sicht jetzt besonders dringend ansteht: mehr Wertschätzung durch die Politik für Bildung, konsequente Entlastung der Schulen und ein modernes Verständnis davon, was Lernen im 21. Jahrhundert bedeutet.
News4teachers: Herzlichen Glückwunsch zur Wahl zum VBE Bundesvorsitzenden. Was wird Ihre erste Amtshandlung sein?
Tomi Neckov: Dankeschön. Meine erste Amtshandlung wird sein, die Politik daran zu erinnern, dass sie Bildung fördern muss, statt sie zu behindern. Dafür brauchen wir Entscheidungen, die endlich ermöglichen, dass es bei uns in der Bildung vorwärtsgeht.
News4teachers: Woran hakt es am meisten?
Neckov: Es beginnt bei den finanziellen Ressourcen, an denen so vieles hängt. Schulen brauchen eine verlässliche Ausstattung, moderne Gebäude und flexible Raumkonzepte, damit Lernen vernünftig möglich ist. Nur mit ausreichend finanziellen Mitteln und guten Räumen können wir alle Kinder und Jugendlichen so fördern, dass kein Kind verloren geht und wir gesellschaftlich leistungsfähig bleiben.
News4teachers: Lange Zeit wurden Mittel in der Bildung relativ gleichmäßig verteilt. Das Startchancen-Programm – das Schulen in besonders herausfordernden Lagen unterstützen soll – bricht das zwar auf, kommt aber wegen bürokratischer Hürden nur schleppend voran. Ist es trotzdem der richtige Weg, Mittel gezielt dort einzusetzen, wo die größten Defizite festzustellen sind?
Neckov: Ja, das ist der richtige Ansatz. Wir fordern schon lange, vom Gießkannenprinzip wegzukommen. Es gibt Kommunen, denen es gut geht – und andere, die sich kaum finanzieren können. So entstehen Bildungsungerechtigkeiten, was im Übrigen auch dem grundgesetzlich verbrieften Recht auf Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen widerspricht. Finanziell schlechter gestellte Kommunen und Schulen mit großen Herausforderungen brauchen mehr Ressourcen – nicht nur finanziell, sondern auch personell. Lehrkräfte allein können die wachsenden Aufgaben nicht auffangen. Es braucht multiprofessionelle Teams – und zwar dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden.
“Viele Unterstützungssysteme, die früher in Familien lagen, gibt es so nicht mehr – und die Aufgaben landen dann in der Schule”
News4teachers: Multiprofessionalität wird seit Jahren von Politikerinnen und Politikern versprochen. Sehen Sie Fortschritte?
Neckov: Ja – aber sehr unterschiedliche. In einigen Bundesländern gibt es mehr Schulsozialarbeit oder Jugendsozialarbeit, allerdings oft nur an bestimmten Schularten. Wir brauchen eine flächendeckende Grundausstattung: Menschen, die bei den Übergängen von der Kita in die Grundschule und von der Grundschule in die weiterführende Schule oder beim Einstieg ins Berufsleben unterstützen. Damit diese Übergänge gelingen, benötigen Schulen unterschiedliche Professionen, die Lehrkräfte und Kinder begleiten.
News4teachers: Man kann sich viele sinnvolle Professionen an Schulen vorstellen – von Psychologie über Lerntherapie bis zu Schulgesundheitsfachkräften. Warum kommt das System da nicht voran?
Neckov: Weil der Bildungsbegriff immer noch ein veralteter ist. Viele denken bei Bildung nur an Lesen, Schreiben, Rechnen. Das ist wichtig, aber Schule ist längst mehr. Viele Unterstützungssysteme, die früher in Familien lagen, gibt es so nicht mehr – und die Aufgaben landen dann in der Schule. Lehrkräfte fangen das derzeit ab. Multiprofessionelle Teams wären eine große Hilfe, aber das System ist unausgereift, nicht durchfinanziert und Zuständigkeiten sind oft ungeklärt. Auch die Ausbildung der beteiligten Fachkräfte ist uneinheitlich. Wir müssen klar definieren, wer welche Rolle hat, damit Schule heutigen Anforderungen gerecht wird.
News4teachers: Was sind denn diese Anforderungen? Was muss eine Schule des 21. Jahrhunderts leisten?
Neckov: Oft geht es schon bei einfachen Dingen los: Kinder kommen in die Schule und können ihre Schuhe nicht zubinden oder ihre Jacke nicht richtig anziehen. Wenn Lehrkräfte solche Aufgaben übernehmen müssen, fehlt die Zeit für andere Bildungsinhalte. Bildung heute heißt auch Demokratiebildung. Früher wurde zuhause mehr über Politik gesprochen – heute leider zu oft am Rand des demokratischen Spektrums. Schule muss vermitteln, wie Demokratie funktioniert, und das muss gelebt werden, nicht nur aus dem Lehrbuch. Außerdem gehört Nachhaltigkeit dazu, Bewegungsförderung, Ernährung, Finanzbildung. Kinder sollen erleben, wie verantwortungsvolles Handeln funktioniert. Das geht aber nur, wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind.
“Lehrpläne sollten definieren, was Grundwissen ist. Beispiele können genannt werden, aber Schulen müssen entscheiden dürfen, was sie vertiefen”
News4teachers: Auch Zeit ist eine Ressource. Sind die Lehrpläne nicht schlicht zu voll?
Neckov: Ja, die Lehrpläne sind zu voll. Wir werden sie auf Landes- oder gar Bundesebene nicht grundlegend entschlacken, aber Schulen brauchen mehr Freiheit. Lehrpläne sollten definieren, was Grundwissen ist. Beispiele können genannt werden, aber Schulen müssen entscheiden dürfen, was sie vertiefen. Wichtig ist: Bildung bedeutet nicht, jedes Detail zu kennen. Man kann einzelne Themen intensiv behandeln und andere oberflächlicher – was genau, das lässt sich demokratisch mit den Schülerinnen und Schülern entscheiden. So gewinnt man Zeit. Und wir müssen über die Struktur des Schultags sprechen, insbesondere im Kontext von Ganztagsangeboten.
News4teachers: Kommen wir zu den Arbeitsbedingungen von Lehrkräften. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die Situation dar?
Neckov: Sehr unterschiedlich – regional und je nach Schulart. Besonders an Förderschulen fehlen Lehrkräfte, aber auch an Grund-, Haupt- und Realschulen. An Gymnasien in Bayern wirkt das G9, auch hier herrscht Lehrkräftemangel. Insgesamt sind die Belastungen massiv, weil Lehrkräfte Aufgaben übernehmen müssen, für die sie weder ausgebildet noch zeitlich ausgestattet sind. Die Erwartungshaltungen sind hoch, die Bürokratie auch. Viele Lehrkräfte erreichen nicht mehr den regulären Ruhestand. In Bayern, wo ich herkomme, schafft das nur noch jede fünfte Lehrkraft an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Das ist gefährlich, denn wir brauchen gesunde Lehrkräfte, die motiviert sind und gut auf Kinder eingehen können.
News4teachers: Ist das ein quantitatives Problem – mehr Geld, mehr Personal – oder ein strukturelles?
Neckov: Beides. Viele Lehrkräfte scheitern an ihrem eigenen Anspruch. Sie wollen den Kindern gerecht werden, stoßen aber an Grenzen. Das ist strukturell: Wir brauchen eine ausreichende Ausstattung, mehr Wertschätzung in der Gesellschaft und eine Lehrkräftebildung, die auf die Realität vorbereitet.
News4teachers: Themen, die häufig als besondere Herausforderungen genannt werden, sind Inklusion und Integration. Ist das System darauf vorbereitet?
Neckov: Nein. Viele Lehrkräfte sind in ihrer Ausbildung nicht ausreichend darauf vorbereitet. Wir müssen Schwerpunkte setzen – nicht nur in Fächern denken, sondern Herausforderungen wie Inklusion, Integration oder Digitalisierung stärker berücksichtigen. Es hilft wenig, wenn ich eine Hyperbel in der vierten Dimension berechnen kann, aber nicht weiß, wie ich mit einem Kind mit Legasthenie umgehe. Wir brauchen an allen Schularten mehr Pädagogik und Psychologie in der Ausbildung.
News4teachers: Auch Integration und Inklusion wären durch multiprofessionelle Teams wohl besser zu lösen.
Neckov: Auf jeden Fall. Aber auch dafür braucht es Vorbereitung. Kooperation will gelernt sein. Und es muss Zeit dafür geben – nicht zwischen Tür und Angel, sondern in festen Strukturen, die nicht nur ein Arbeiten nebeneinander, sondern ein Wirken miteinander ermöglichen.
News4teachers: Ein anderes Thema: die Arbeitszeiterfassung. Juristisch scheint klar zu sein, dass sie kommen muss. Wie wird sie das System verändern?
Neckov: Ich befürchte: zum Schlechteren. Eine Arbeitszeiterfassung erzeugt möglicherweise noch mehr Bürokratie, die wiederum Zeit kostet. Beziehung und Pädagogik lassen sich nicht in Minuten erfassen. Mehrtägige Klassenfahrten oder Elternabende sind nicht mehr möglich, weil dabei im Arbeitsschutz festgelegte Ruhezeiten nicht eingehalten werden könnten. Viele wählen den Lehrberuf wegen der Flexibilität, gerade Frauen mit Familie. Wenn Arbeitszeit starr wird, wird der Beruf unattraktiver. Studien zeigen, dass Lehrkräfte ohnehin weit mehr arbeiten, als sie müssten – vor allem Teilzeitkräfte und Schulleitungen. Eine Arbeitszeiterfassung wird das System nicht verbessern.
News4teachers: Aber sie ist nach Grundsatzurteilen rechtlich geboten …
Neckov: Wenn sie kommt, dann muss sie unbürokratisch und praktikabel sein. Aber sie wird die Überlastung nicht beheben. Notwendig wären bessere Strukturen, Entlastung und eine gute Ausstattung.
“Natürlich ist uns klar, dass die Forderung nach sieben Prozent mehr oder der Sockelbetrag schwer durchzusetzen sein werden”
News4teachers: Kommen wir zur Tarifrunde. Arbeitgeber sprechen von „astronomischen“ Forderungen. Wird es eine harte Auseinandersetzung?
Neckov: Ja, das wird es. Es zeugt von wenig Wertschätzung, die Forderung in so absoluter Weise abzuwiegeln. Natürlich ist uns klar, dass die Forderung nach sieben Prozent mehr oder der Sockelbetrag schwer durchzusetzen sein werden. Das motiviert uns umso mehr, dafür zu kämpfen. Denn verdient haben wir es! Und zwar alle. Doch wenn ein Ministerpräsident wie Markus Söder bereits ankündigt, einen Tarifabschluss nur verzögert auf Beamte zu übertragen, ist das ein Problem. Lehrkräfte brauchen ein faires Ergebnis – nicht nur finanziell, sondern auch als gesellschaftliches Signal. Dafür setzen wir als VBE direkt in der Tarifkommission aus und sitzen über den dbb am Verhandlungstisch.
News4teachers: Als Verbandschef müssen Sie Missstände klar benennen, gleichzeitig aber den Beruf attraktiv darstellen, um den Nachwuchs nicht zu verschrecken. Wie schaffen Sie den Spagat?
Neckov: Unser Beruf ist der schönste der Welt. Mit Kindern zu arbeiten, ihre Entwicklung zu begleiten – das ist großartig. Das bleibt auch so. Aber gute Bedingungen gehören dazu. Nur wenn Kinder sich wohlfühlen, können sie lernen. Und Lehrkräfte brauchen dasselbe Wohlbefinden – im Kollegium, in der Schulgemeinschaft, im Austausch mit Eltern und Kommunen. Doch unter aktuellen Bedingungen ist der Beruf vielerorts schwerer geworden.
News4teachers: Sie beschreiben Schule als ein ganzheitliches System, in dem die Gruppen miteinander statt gegeneinander arbeiten müssen.
Neckov: Natürlich. Alle – Eltern, Lehrkräfte, Kommunen – wollen das Beste für die Kinder. Die Sichtweisen unterscheiden sich manchmal, aber das Ziel ist gleich: gute Bildung. Schule funktioniert nur, wenn alle zusammenarbeiten und Verantwortung teilen.
News4teachers: Sollte diese Zusammenarbeit auch stärker zwischen den Verbänden gelten? Die Zersplitterung spielt der Politik doch in die Hände.
Neckov: Wir arbeiten bereits mit anderen Verbänden zusammen – auf verschiedenen Ebenen und zu verschiedenen Themen. In Bayern gibt es aktuell eine gemeinsame Petition vieler Lehrkräfteverbände zur Übertragung des Tarifabschlusses auf Beamte.
News4teachers: Trotzdem geben Verdi und der dbb getrennte Pressemitteilungen heraus, wenn es um die Tarifverhandlungen geht – und erwähnen den jeweils anderen nicht einmal. Dabei sind die Forderungen identisch…
Neckov: Jede Gewerkschaft hat ihre Daseinsberechtigung und möchte ihre Position sichtbar machen. Trotzdem gibt es viele gemeinsame Aktionen, etwa beim Digitalpakt. Vielfalt ist gut – ob bei Parteien oder Gewerkschaften. Wichtig ist der gemeinsame demokratische Boden, auf dem wir uns bewegen. Dann können wir bei großen Themen auch zusammenhalten.
News4teachers: Wird es von Ihnen aus künftig mehr Angebote geben, Kräfte zu bündeln?
Neckov: Sehr gerne. Ich gehe gern auf andere zu, suche die Einigung und nicht die Spaltung. Es wird Themen geben, bei denen das gelingt – und welche, bei denen es nicht gelingt. Bei anderen wird es aber auch in Zukunft wichtig bleiben, unseren Markenkern zu stärken und Themen alleine voranzubringen. Entscheidend ist für mich, dass wir offen für Austausch bleiben und Chancen zur Zusammenarbeit nutzen, denn gemeinsam können wir viel bewegen. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte das Interview.
