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Der meistgelesene News4teachers-Beitrag 2025: Verloren im Kita-Stress

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Dieser Beitrag erschien am 31. Juli 2025. Er  war mit bislang (Stand 31. Dezember 2025) 161.446 Leserinnen und Lesern der meistgelesene Artikel auf News4teachers in diesem Jahr. 

BERLIN. Immer länger, immer früher, immer mehr: In deutschen Kitas verbringen Kinder inzwischen durchschnittlich mehr als 36 Stunden pro Woche – viele sogar über 45. Was zunächst nach einem zunehmend besser ausgebauten Betreuungsangebot klingt, birgt bei genauem Hinsehen erhebliche Risiken. Eine große Meta-Studie gibt zwar scheinbar Entwarnung – doch Bildungsforscherin Prof. Veronika Verbeek warnt eindringlich: Für viele Kinder sei der Kita-Alltag heute eine Quelle von Stress, Überforderung und langfristigen Problemen. 

Erschöpft. (Symbolbild) Foto: Shutterstock

Laut dem Statistischen Bundesamt hat sich die Zahl der Kinder mit einer Betreuungszeit von mehr als 35 Wochenstunden zwischen 2014 und 2024 um 30 Prozent erhöht – von rund 1,3 auf 1,8 Millionen. Besonders auffällig: Knapp zwei Drittel dieser Kinder sind inzwischen sogar mehr als 45 Stunden pro Woche in der Kita untergebracht. Parallel dazu stieg die Gesamtzahl betreuter Kinder in diesem Zeitraum um 20 Prozent – von 3,29 auf 3,94 Millionen. Die durchschnittlich vereinbarte Betreuungszeit wuchs von 35,3 auf 36,1 Wochenstunden.

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Noch deutlicher zeigt sich die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen: Laut Statistischem Landesamt IT NRW verbringt inzwischen jedes sechste Kind unter drei Jahren mehr als sieben Stunden täglich in einer Kita – fast doppelt so viele wie 2013. Besonders hohe Quoten verzeichnen Großstädte wie Düsseldorf, Köln und Bonn. In der Landeshauptstadt liegt der Anteil der U3-Kinder mit Ganztagsbetreuung inzwischen bei 32,2 Prozent. Was macht das mit den Kindern?

Für die Bildungswissenschaftlerin und Psychologin Prof. Veronika Verbeek ist klar: Wenn Ein- und Zweijährige inzwischen regelmäßig acht Stunden und mehr in der Kita verbringen – dann ist das eine Zeitspanne, die viele Kinder überfordert. In einem Interview mit dem „Spiegel“ im vergangenen Oktober warnte sie eindringlich: „Die frühe Bindung zu den Eltern, nicht die frühe Bildung, ist der Garant für eine gute Entwicklung von Kindern. (…) Dieses Wissen wird derzeit weitgehend ignoriert.“

„Studien zeigen, dass Kleinkinder in Kitas eine erhöhte Cortisolausschüttung haben. Das sind ungünstige Bedingungen, um sich gut zu entwickeln“

Sie sagt: „Die Betreuung in der Kita, die teils sehr früh über viele Stunden erfolgt, setzt einige Kinder extrem unter Stress; insbesondere in großen Gruppen und wenn nicht genügend Personal da ist. (…) Die Kinder weinen bei der Trennung von den Eltern, beruhigen sich danach vermeintlich schnell, sind aber oft aufgrund eines hohen Stresslevels schlicht erschöpft.“ Und dieser Stress lässt sich ihr zufolge auch biologisch nachweisen: „Studien zeigen, dass Kleinkinder in Kitas eine erhöhte Cortisolausschüttung haben. Das sind ungünstige Bedingungen, um sich gut zu entwickeln.“

Nicht nur die lange Betreuungszeit überfordert die Kinder, auch zu viel Freiheit kann zum Problem werden. Verbeek kritisiert die aktuelle pädagogische Ausrichtung vieler Kitas. Das Konzept der „Selbstbildung“, bei dem Kinder ohne Anleitung selbst entscheiden, womit sie sich beschäftigen, führe dazu, dass Bildungspotenziale „verspielt“ würden. „Wenn ich wirklich möchte, dass die Bildung in der Kita einen positiven Effekt für den Übertritt in die Grundschule hat, darf ich strukturierte Lernprozesse nicht ausklammern oder gar als fremdbestimmtes Lernen abwerten. (…) Spätestens in der Schule geht es nicht mehr nur nach den eigenen Interessen.“

Sie betont: „Wenn ich immer alles selbst bestimmen darf, kann ich mich später schlecht irgendwo einfügen und in einer Gruppe anpassen.“ Und: „Diese Kinder entwickeln ein geringeres Selbstwertgefühl, trauen sich wenig zu, zeigen schwache Schulleistungen. (…) Dass in Schulen immer mehr Kinder verhaltensauffällig sind, ist aus Sicht vieler psychotherapeutischer Kolleginnen und Kollegen eine Folge dieser Pädagogik.“

Die Ergebnisse einer groß angelegten Meta-Studie mit Daten von mehr als 10.000 Kindern aus fünf Ländern, darunter Deutschland, Kanada und die USA, scheinen dem zu widersprechen – auf den ersten Blick. Das Team um Studienleiterin Catalina Rey-Guerra vom Boston College wollte es genau wissen: Entwickeln Kinder, die lange in einer Kita betreut werden, häufiger problematisches Verhalten? Die Antwort: nein – zumindest nicht automatisch.

Die Analyse, veröffentlicht im renommierten Fachjournal Child Development, zeigt: Längere Betreuungszeiten in Kitas stehen in der Regel nicht in Zusammenhang mit häufigerem Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Mobbing oder Ruhelosigkeit. Das Team um die Studienleiterin fand keine Korrelation zwischen der Anzahl an Kita-Stunden pro Woche und sogenannten „externalisierenden Problemen“. Rey-Guerra resümiert: „Der Besuch einer Kita hat keinen grundsätzlich negativen Effekt auf das Verhalten von Kindern. Vielmehr zeigen sich sogar dauerhafte Lern- und Bildungsvorteile durch frühkindliche Betreuung.“

Das große Aber: Entscheidend sei die Qualität der Betreuung. Kinder, die in großen Gruppen mit zu wenig Personal betreut werden, sind laut der Studie doch gefährdet, Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Rey-Guerras Fazit: Nicht die Dauer, sondern die Rahmenbedingungen entscheiden.

„Je mehr Kita-Beschäftigte das Berufsfeld verlassen, desto größer wird die Belastung für das verbleibende Personal”

Und genau da liegt das Problem. Dass sich die Überlastung des Kita-Personals auf einem sehr hohen Niveau befindet, belegte jüngst (einmal mehr) eine Studie der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Bertelsmann Stiftung: Fast die Hälfte der befragten Kita-Mitarbeitenden gibt darin an, sich täglich oder fast täglich im beruflichen Alltag überlastet zu fühlen.

Die Folge: Viele Beschäftigte schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Berufsfeld kurz- bis mittelfristig verlassen werden, als sehr hoch ein. Bei rund einem Viertel der Befragten liegt diese sogar bei 80 Prozent oder höher. Dies trifft auch auf Personen zu, die sich noch in Ausbildung befinden und das Berufsfeld damit gar nicht erst betreten würden. Am höchsten ist das Abwanderungsrisiko bei den jüngeren Mitarbeitenden im Alter von 26 bis 30 Jahren. Die Abwanderungsgedanken treten umso wahrscheinlicher auf, je häufiger sich jemand überlastet fühlt. „Je mehr Kita-Beschäftigte das Berufsfeld verlassen, desto größer wird die Belastung für das verbleibende Personal, was zu noch mehr Abwanderung führen kann. Diese Spirale gilt es zu durchbrechen“, sagt Anette Stein, Expertin der Bertelsmann Stiftung für frühkindliche Bildung.

Dabei gilt schon jetzt: Weil in vielen Einrichtungen das Personal fehlt, werden immer mehr Personen ohne die formalen pädagogischen Voraussetzungen eingestellt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Bundesweit geht deshalb in immer mehr Kitas der Anteil der Fachkräfte zurück, die mindestens über eine Ausbildung als Erzieherin oder Erzieher verfügen. „Was der Notsituation geschuldet ist, könnte in mehreren Bundesländern zu einer dauerhaften Praxis werden“, so bilanziert die Bertelsmann Stiftung.

Eine hohe Fachkraft-Quote in jedem Kita-Team sei jedoch ein zentraler Faktor für eine kindgerechte frühkindliche Bildung. Doch immer weniger Kita-Personal bringt die formalen pädagogischen Voraussetzungen mit. Während im Jahr 2017 bundesweit in 41 Prozent aller Kita-Teams mehr als acht von zehn pädagogisch Tätigen mindestens einen einschlägigen Fachschulabschluss aufwiesen, traf das 2023 nur noch auf rund jedes dritte Kita-Team zu (32 Prozent). Dieser Rückgang ist in 13 Bundesländern zu verzeichnen. Am deutlichsten fiel er in Berlin (18 Prozentpunkte), Mecklenburg-Vorpommern (15 Prozentpunkte) und Nordrhein-Westfalen (14 Prozentpunkte) aus.

Verschiedene Studien zeigen, dass eine niedrige Fachkraft-Quote im Team die Qualität der pädagogischen Arbeit mindert und den professionellen Anspruch der Fachkräfte gefährden kann. Zudem stellt die Begleitung von nicht einschlägig ausgebildeten Mitarbeitenden zunächst zusätzlichen Aufwand und damit einen weiteren Belastungsfaktor für das Fachpersonal dar.

„Grundsätzlich ist es gut, wenn die Kitas neue und vor allem motivierte Mitarbeitende gewinnen. Aber für die anspruchsvolle Arbeit mit den Kindern benötigen sie eine ausreichende pädagogische Qualifikation. Aufgrund des Platz- und Personalmangels mag es in einer Notsituation vertretbar sein, die Anforderungen vorübergehend zu senken, um die Schließung einer Kita abzuwenden. Das darf aber nicht zu einem dauerhaften Absenken der Fachkraft-Quote führen – doch genau diese Tendenz sehen wir momentan in mehreren Bundesländern“, sagt Stein.

Prof. Verbeeks bitteres Resümee: „Es werden falsche Prioritäten gesetzt. Die frühe Bindung zu den Eltern, nicht die frühe Bildung, ist der Garant für eine gute Entwicklung von Kindern. Diese Bindung ist mit umfangreichem Kontakt zu den Eltern verbunden. Etliche Studien zeigen, dass Kinder perspektivisch leistungsstärker und sozial kompetenter sind, wenn sie eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben. Dieses Wissen wird derzeit weitgehend ignoriert.“ News4teachers 

“Institutionelle Kindeswohl-Gefährdung”: Kita-Beschäftigte schildern tägliche Überlastung

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