BREMEN. Warum kümmern sich Lehrkräfte um iPads, Evaluationsbögen oder die Organisation von Klassenfahrten statt um Unterricht? Der Sozialwissenschaftler Frank Mußmann forscht seit zehn Jahren zur Arbeitsbelastung von Lehrkräften und fordert eine Neuordnung der Arbeit an Schulen – er hält die rechtlich verpflichtende Arbeitszeiterfassung für einen zentralen Hebel. In Bremen beginnt 2026 ein Modellversuch, der zeigen soll, wie Entlastung praktisch gelingen kann.
Was lange nur beschrieben, bestritten oder relativiert wurde, ist inzwischen empirisch belegt: Lehrkräfte arbeiten deutlich mehr, als ihre Arbeitszeitmodelle vorsehen – und häufig mehr, als das Arbeitsrecht erlaubt. In Hamburg und Berlin jedenfalls. In Hamburg kamen Vollzeitlehrerinnen und -lehrer im Schuljahr 2023/24 im Jahresdurchschnitt auf knapp 42 Stunden pro Woche. Betrachtet man die tatsächlich geleistete Arbeitszeit ausschließlich in den Schulwochen, ergibt sich eine Wochenarbeitszeit von sogar rund 48,5 Stunden. Ein Viertel der Vollzeitkräfte überschritt während der Unterrichtszeit regelmäßig die gesetzliche Höchstarbeitszeit. Insgesamt leisteten 63 Prozent der Lehrkräfte Mehrarbeit.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in Berlin. Dort summieren sich die unbezahlten, nicht angeordneten Überstunden von Lehrkräften auf mehr als zwei Millionen Stunden pro Jahr. Rechnerisch wären über 1.300 zusätzliche Vollzeitstellen nötig, um die Arbeit auf ein zulässiges Maß zu verteilen. Während der Schulwochen überschreiten im Durchschnitt rund 30 Prozent der Vollzeit-Lehrkräfte die gesetzliche Arbeitsschutzgrenze von 48 Stunden pro Woche. Besonders betroffen sind nicht nur Schulleitungen und Gymnasiallehrkräfte, sondern auch Teilzeitkräfte – je geringer der Teilzeitumfang, desto höher fällt die Mehrarbeitsbelastung aus.
Die Zahlen widersprechen dem hartnäckigen Bild vom vermeintlich privilegierten Lehrerberuf mit viel Freizeit und langen Ferien. Sie zeigen zugleich, dass sich die Arbeit von Lehrkräften in den vergangenen Jahren grundlegend verschoben hat. Im Durchschnitt entfällt nur noch rund ein Drittel der Arbeitszeit auf den eigentlichen Unterricht. Weitere gut 30 Prozent entfallen auf Vor- und Nachbereitung. Der Rest besteht aus Aufgaben, die mit Unterrichten nur noch am Rande zu tun haben.
Zentraler Akteur hinter den Erhebungen in Hamburg und Berlin ist der Sozialwissenschaftler Dr. Frank Mußmann von der Universität Göttingen. Seit mehr als zehn Jahren untersucht er die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften. Für ihn bestätigen die aktuellen Studien einen Befund, der sich seit Jahren abzeichnet. „Im Durchschnitt über alle Gruppen leisten sie bezogen auf eine 40-Stunden-Woche jeweils zwei Stunden und 14 Minuten unbezahlte Mehrarbeit“, sagt er in einem Zeit-Interview mit Blick auf Berlin. „In Hamburg liegt die Mehrarbeit auf einem ähnlichen Niveau.“
„Arbeitgeber, die das dauerhaft zulassen, verletzen ihre Fürsorgepflicht“
Der häufige Einwand, diese Mehrarbeit werde durch lange Ferien ausgeglichen, greift aus seiner Sicht nicht. „Nein, weil da der 30-Tage-Urlaubsanspruch in den Ferien bereits eingerechnet wurde. Die zwei Stunden und 14 Minuten sind der Mittelwert für ein ganzes Jahr.“ In den Schulwochen liege die Belastung deutlich höher. „Etwa ein Drittel der Vollzeitkräfte in Berlin arbeitet sogar über 48 Stunden. Damit werden regelmäßig Arbeitsschutzgrenzen überschritten und Ruhezeiten nicht eingehalten. Arbeitgeber, die das dauerhaft zulassen, verletzen ihre Fürsorgepflicht.“
Dabei sei die eigentliche Unterrichtsverpflichtung über Generationen hinweg fast gleich geblieben. „Die Stundenzahl, die Lehrer vor einer Klasse stehen, hat sich in den vergangenen 150 Jahren kaum verändert. Ein Volksschullehrer in Preußen hat 30 Wochenstunden unterrichtet, eine Grundschullehrerin in Vollzeit hat heute größtenteils nur zwei Unterrichtsstunden weniger.“ Der entscheidende Wandel liege nicht im Unterricht selbst, sondern in den zusätzlichen Aufgaben. „Die reine Unterrichtszeit macht nur noch ein Drittel der Arbeitszeit aus. Neben der Vor- und Nachbereitung, die ebenfalls ein zweites Drittel der Zeit in Anspruch nimmt, gibt es viel mehr Zusatzaufgaben“, sagt Mußmann.
Diese Zusatzaufgaben seien für Außenstehende oft kaum sichtbar. „Enorm gestiegen ist der Anteil, den Lehrer in Konferenzen sitzen oder Entwicklungsgespräche mit Eltern, Kindern oder Sozialarbeitern führen.“ Hinzu komme, dass Lehrkräfte immer häufiger zusätzliche Rollen übernehmen. „Sie werden Vertrauenslehrer, PC-Beauftragte oder Brandschutzexpertin.“ Auch die Dokumentationspflichten hätten massiv zugenommen. „Lernfortschritte, Inklusionsanträge, Evaluationsbögen müssen immer ausführlicher dokumentiert werden. Fachräume müssen vorbereitet, Unterrichtseinheiten digitalisiert werden.“ Mit diesen außerunterrichtlichen Pflichten verbrächten Lehrkräfte mehr als 15 Stunden pro Woche, im Schnitt mehr als ein weiteres Drittel ihrer Arbeitszeit.
Die Studien zeigen zugleich, dass sich die Belastung zwischen Schulformen und Fächern weniger unterscheidet, als oft behauptet wird. „Was wir auch bemerkt haben: Die Arbeitsbelastung liegt unabhängig von der Fächerkombination, Klassenstufe und Schulform näher beieinander, als vielfach unterstellt wird.“ Auch das verbreitete Klischee vom Sportlehrer mit deutlich weniger Arbeit halte einer empirischen Prüfung nicht stand. „Erstens hat er ein Zweitfach. Zweitens sitzt ein Sportlehrer zwar nicht an Vokabeltests, aber organisiert dafür Schulveranstaltungen, Skifreizeiten oder Bundesjugendspiele.“
„Die Physiksammlung aufräumen oder den Klassenraum für die neuen Erstklässler dekorieren, das wird von vielen Lehrern oft beiläufig erledigt“
Für Mußmann ist deshalb klar, dass eine systematische Erfassung der Arbeitszeit Voraussetzung für Entlastung ist. „Ja, weil vielen erst dann bewusst wird, wie viel sie tatsächlich arbeiten.“ Eine Lehrerin habe ihm nach einer Studie rückgemeldet: „Endlich kann ich mich Freitagnachmittag guten Gewissens ins Wochenende verabschieden, weil ich weiß, was ich alles schon geleistet habe.“ Aktuell sei vielen Lehrkräften unklar, wo Arbeit ende und Freizeit beginne. „Die Physiksammlung aufräumen oder den Klassenraum für die neuen Erstklässler dekorieren, das wird von vielen Lehrern oft beiläufig erledigt.“ Erst wenn Arbeitszeit erfasst werde, würden Zeitfresser sichtbar. „Dann kann man im nächsten Schritt überlegen, ob und wie man Aufgaben anders verteilen und an die Schulrealität anpassen muss.“
In Bremen soll genau das ab dem kommenden Schuljahr praktisch erprobt werden. An zunächst zehn freiwillig teilnehmenden Schulen in Bremen und Bremerhaven sollen Lehrkräfte ihre Arbeitszeit ein Jahr lang per App dokumentieren. Mußmann (der als wissenschaftlicher Berater an dem Projekt beteiligt ist) betont, dass es dabei nicht um zusätzliche Bürokratie gehe. „Für Lehrkräfte sind das wenige Handbewegungen. Sie drücken den Startbutton auf dem iPad, wenn die Arbeit beginnt, und Stopp, wenn sie pausieren.“ Nur eine kleine Gruppe werde zusätzlich gebeten, Tätigkeiten genauer zuzuordnen, um Belastungsmuster zu erkennen.
Die Arbeitszeiterfassung sei dabei keine freiwillige Reformidee. „Die Arbeitszeit zu erfassen, ist keine technische Spielerei, sondern gesetzlich vorgeschrieben.“ Sowohl der Europäische Gerichtshof als auch das Bundesarbeitsgericht hätten dazu Grundsatzurteile gefällt. „Die Kultusministerkonferenz hat anschließend versucht, Lehrer von der Arbeitszeiterfassung auszunehmen – ohne Erfolg.“ Hintergrund: Die KMK hatte das Bundesarbeitsministerium angeschrieben, um eine Ausnahmeregelung für Lehrkräfte von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu erwirken – und sich dort eine Abfuhr geholt (News4teachers berichtete).
Was bei festgestellter Mehrarbeit geschehe, müsse im Verlauf des Modellversuchs geklärt werden. Mußmann plädiert für transparente Verfahren. „Ab wie viel Stunden Mehrarbeit kommt es zum Gespräch? Ist die Schulleitung dabei? Gibt es neutrale Gremien? Wird Mehrarbeit ausbezahlt oder durch Freizeit ausgeglichen?“ Wichtig sei vor allem, dass Überlastung nicht dauerhaft hingenommen werde. „Ich halte ein Ampelsystem für sinnvoll. Grün heißt, die Stundenzahl ist im Soll. Gelb, über mehrere Monate häufen sich Überstunden an. Und Rot: Die Arbeitszeit wird dauerhaft überschritten, dringender Handlungsbedarf.“
Entscheidend sei, so Mußmann, dass die nun erhobenen Daten nicht als Kontrollinstrument missbraucht würden. „Kein Schulleiter steht mit der Stoppuhr im Lehrerzimmer oder am heimischen Arbeitsplatz. Die Zeit wird eigenständig und vertrauensvoll dokumentiert.“
Für den Sozialwissenschaftler ist die Debatte um Arbeitszeit eng mit der Attraktivität des Lehrberufs verbunden. „Der Beruf ist über die Jahre unattraktiver geworden, weil die Belastung zugenommen hat.“ Die hohe Abbrecherquote im Lehramtsstudium, gesundheitliche Risiken und vorzeitige Ausstiege seien Ausdruck dessen. „Ich bin überzeugt, dass der Job wieder gefragter wird, wenn die Arbeitszeit erfasst wird und sichergestellt ist, dass die Mehrarbeit nicht ausufert.“
„Warum muss sich ein Physiklehrer um die Server und iPads seiner Schule kümmern?“
Entlastung bedeute dabei nicht nur weniger Stunden, sondern andere Strukturen. „Lehrer müssen wieder mehr Lehrer sein“, sagt Mußmann. „Warum muss sich ein Physiklehrer um die Server und iPads seiner Schule kümmern?“ Aufgaben wie IT-Betreuung, Organisation von Klassenfahrten oder Verwaltungsarbeit könnten von Fachkräften übernommen werden, die keine Pädagogen sind. „Das sind erst mal mehr Ausgaben, aber es entlastet die Lehrer. Und davon profitieren letztlich alle.“
Dass Bremen diesen Weg geht, hat angesichts der Rechtslage eine gewaltige politische Dimension – die anderen Bundesländer werden sich den Ergebnissen kaum verschließen können. Pikant: Frank Mußmann hatte gemeinsam mit dem Bildungsexperten Mark Rackles in einem Gutachten das seit 150 Jahren geltende Deputatsmodell als überholt kritisiert. Der Sozialdemokrat Rackles, früher Bildungsstaatssekretär in Berlin, ist inzwischen Bildungssenator in Bremen. Der Modellversuch zur Arbeitszeiterfassung fällt damit in die Verantwortung eines Politikers, der selbst öffentlich festgestellt hat, dass das bisherige System die tatsächliche Arbeit von Lehrkräften nicht mehr abbildet. News4teachers
