SOLINGEN. In Solingen startet nach den Sommerferien ein deutschlandweit einmaliger Modellversuch: Alle Fünftklässler verzichten auf Social Media – auch zuhause. Schulen, Eltern und Psychologen ziehen an einem Strang. Doch nicht alle sind überzeugt.

Von außen betrachtet wirkt das Vorhaben radikal: Ab dem Schuljahr 2025/26 soll im nordrhein-westfälischen Solingen kein Fünftklässler mehr TikTok, Instagram oder Snapchat nutzen dürfen – und zwar weder in der Schule noch in der Freizeit. Was nach einem digitalen Kahlschlag klingt, ist ein durchdachtes Projekt mit Rückhalt bei Lehrkräften, Psychologen – und einem großen Teil der Elternschaft. Die Stadt Solingen setzt damit ein starkes Zeichen gegen übermäßige Mediennutzung im Kindesalter.
„Es ist ein deutschlandweit einzigartiges Experiment“, schreibt die „Rheinische Post“ (RP). Die Idee: Wenn alle Fünftklässler auf Social Media verzichten, gibt es keinen sozialen Druck mehr, dazuzugehören. Die Verantwortung tragen nicht allein Eltern oder Schule – sie wird gemeinsam geregelt, durch sogenannte Erziehungsvereinbarungen. Unterzeichnet von Schulen und Erziehungsberechtigten, sollen sie für klare Verhältnisse sorgen.
„Was uns sehr erschrocken hat, waren die Aussagen der Kinder – nicht nur zum eigenen Nutzungsverhalten, sondern auch zu den Eltern“
Ein Antreiber des Projekts ist Markus Surrey, Leiter des schulpsychologischen Dienstes der Stadt Solingen. Er sieht in der digitalen Abstinenz vor allem eine Chance: „Gerade unter älteren Schülern ist die Erkenntnis verbreitet, dass Smartphones auch schaden können“, so Surrey laut RP. Der permanente Konsum von Clips, Likes und Reizen mache Kinder zu passiven Konsumenten – „Social Media-Plattformen und nicht Netzwerke“, betont er. Denn echte Kommunikation finde dort kaum statt.
Vielmehr wünscht sich Surrey, dass Kinder wieder ins analoge Leben zurückfinden: zum Spielen, Reden, Zuhören. „Wir haben diese Woche mit einem Fünfer-Jahrgang gearbeitet. Und was uns sehr erschrocken hat, waren die Aussagen der Kinder – nicht nur zum eigenen Nutzungsverhalten, sondern auch zu den Eltern. Wie viel Zeit die Eltern am Handy verbringen und wie schwer es ist, den Vater am Abend vom Handy wegzukriegen“, sagte Surrey beim WDR-Stadtgespräch zum Thema in dieser Woche.
Auch aus Sicht vieler Lehrkräfte ist die Zeit reif für einen solchen Schritt. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Aufmerksamkeit der Schüler in den letzten Jahren massiv abgenommen hat“, sagte eine Lehrerin beim WDR-Stadtgespräch. Der Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums, Alexander Lübeck, bringt es auf den Punkt: „Das schaffen wir alleine gar nicht.“
Denn was bislang fehlte, war ein stadtweiter, verbindlicher Rahmen. Zwar gab es bereits an vielen Schulen Handyregeln – vom Ausschalten im Unterricht bis hin zum Smartphone-Verbot auf dem Schulhof. Doch was zuhause passierte, entzog sich der pädagogischen Reichweite. Mit dem Solinger Projekt wird diese Lücke erstmals geschlossen.
„Tatsächlich haben viele Eltern eine ambivalente Einstellung zu dem Thema“
Eltern nehmen die Initiative unterschiedlich auf. Zwar herrschte beim WDR-Stadtgespräch breite Zustimmung, doch Carsten Ophoff von der Stadtschulpflegschaft weiß: „Man muss ganz klar sagen, dass wir von den Eltern unterschiedliche Stimmungen gehört haben.“ Das deckt sich mit den Beobachtungen von Markus Surrey: „Tatsächlich haben viele Eltern eine ambivalente Einstellung zu dem Thema.“
Einerseits befürchten sie negative Einflüsse durch Social Media – etwa unrealistische Schönheitsideale oder Suchtgefahren. Andererseits fühlen sie sich dem Gruppendruck hilflos ausgeliefert. „Die Eltern wollen ja nicht, dass ihr Kind in der Klasse zum Außenseiter wird“, so Surrey. Genau hier setzt das Projekt an: Mit einem allgemeinen Verbot entfällt das Totschlagargument „Aber alle anderen dürfen doch!“. Viele Eltern zeigten sich dafür regelrecht dankbar, etwa auf Elternabenden, wie Surrey gegenüber der RP betont.
Doch kann ein Verbot die Probleme wirklich lösen? Zweifel bleiben. Ein Zehntklässler im WDR-Stadtgespräch formulierte es so: „Dieses Verbot ist zwar eine schöne Idee, aber ich weiß nicht, was das bringt. Es gibt immer welche, die sich nicht dran halten.“ Ein Elftklässler wiederum wünschte sich: „Ich finde das gut. Ich hätte mir gewünscht, dass wir das damals gehabt hätten.“
Auch die Stadt weiß, dass ein reines Verbot nur ein erster Schritt sein kann. „Ziel des Projekts ist es, dass die Schüler wieder mehr untereinander kommunizieren“, sagt Solingens Schuldezernentin Dagmar Becker gegenüber der RP. Und: Die Kinder sollen lernen, Social Media reflektiert zu nutzen – aber eben später, wenn sie reifer dafür sind. Becker erinnert sich an ein Mädchen, das „völlig unbegründet mit seinem Aussehen unglücklich gewesen ist“. Besonders Mädchen seien gefährdet, an idealisierten Bildern zu verzweifeln. „Doch auch Jungs zeigen häufiger Suchtverhalten.“
Das Projekt aus Solingen bietet Lehrkräften und Schulträgern bundesweit wichtige Anregungen – und macht vielleicht auch Mut. Denn eines zeigt sich deutlich: Die Herausforderungen der digitalen Sozialisation sind zu groß, als dass Schulen sie alleine bewältigen könnten. Es braucht ein gemeinsames Verständnis, klare Vereinbarungen – und einen langen Atem. Dann aber scheint vieles möglich zu sein. Die Stadt ist jedenfalls bereit, weiterzugehen: Auch Grundschulen und höhere Jahrgänge könnten einbezogen werden. Markus Surrey ist überzeugt: „Eigentlich sollten wir schon bei den Jüngeren anfangen.“ News4teachers
Ich bin eher erschrocken, dass es ein Verbot für 5.-Klässler braucht. Was haben die denn überhaupt aus Insta, Snapchat oder Tiktok zu suchen?
Mein Kind ist in der 8te Klasse und hat das nicht und das war auch nie ein Problem.
Dann ist dein Kind leider eine Ausnahme.
Ich kenne tatsächlich viele Eltern, die zumindest Tiktok nicht erlauben.
Z. B. bei meinen Enkeln. Trotzdem kennen beide Tiktok, denn sie haben Freunde! 🙂
“analoge Leben”?
Also… Leben – das ist doch das Problem!
Die Eltern sind hier ambivalent, Gruppendruck, passiver Konsum? Ja, es handelt sich ja auch um ein Problem!
Ich schätze, wir müssen jetzt auf die Vernetzung und (nachweislich unzureichende) Eigenverantwortung von Erwachsenen und Kindern (!) setzen, während ein paar der schlausten Menschen der Welt dafür bezahlt werden, social media so zu entwickeln, dass die Menschen abhängig werden und bleiben….
Ich meine, was sonst? Tiktok und Co. gesetzlich erst ab 16 oder 18 zu erlauben? 😀
Wie soll das in Solingen denn flächendeckend funktionieren? Für so ein Projekt dürfte ein durchschnittlich bildungsnahes Elternhaus schon nicht mehr reichen. Selbst davon gibt es in Solingen nicht mehr so viele.
Die Idee klingt bestechend. Den sozialen Druck zu nehmen und dadurch Eltern eine Chance zu geben, sich unbekümmert und realistisch durchzusetzen.
Der Ton des Projektes klingt für mich aber sehr nach Top-Down. Die Stadt beschliesst etwas und die Eltern „müssen“ sich dran halten -in einem privaten Bereich, der dem Einfluss des Staates eigentlich nicht unterliegt. Authoritäre Grundhaltung, die bei freiheitsliebenden Menschen wohl Gegenwehr auslöst, obwohl sie den Grundgedanken nicht schlecht finden.
Kann man ein solches Projekt mit etwas mehr Vorlauf nicht partizipativer gestalten? Auch Gegner von Verboten sind ja häufig zur Solidarität fähig, aber nur, wenn der Prozess vorher gestimmt hat und man nicht immer sprachlich so tut, als könnte Staat und Schule alles bestimmen.
Eine gesetzliche Regelung muss her – nur ab 16 Jahre und mit Postidentverfahren.
Also verzichten die 5t-Klässler auf diese Medien? Bis zur 4. Klasse ist es aber okay? Und ab der 6ten auch wieder?
Wenn ich es richtig verstand, geht um ein Gymnasium, daher sind 4. Klasse und jünger kein Teil des Vorhabens
Na so was aber auch! Wie konnte ich das übersehen? Gut, dass Sie mich darauf aufmerksam machen! (Extra für Sie schreibe ich noch dazu, dass das ironisch gemeint ist!)
Ich wusste nicht, dass es Ihnen darum geht, den Versuch der Schule allgemein zu untergraben. Danke für die Richtigstellung
Okay! Ich sage mal so:
Ich gehe davon aus, dass einige/viele(?) Schüler schon vor der 5. Klasse Bekanntschaft mit diesen Medien machten. Eltern und Schule setzen diese Schüler jetzt auf “kalten Entzug”. Kann man machen. Aber … unterbindet man auch gleichzeitig für ein Jahr den Kontakt zu älteren Geschwistern und Freunden aus anderen Klassen/Schulen … Und was ist nach dem 1 Jahr?
Es wäre schön, wenn Sie mir meine “Denkfehler” in verständlicher, sachlicher Form erklären könnten.
Was verboten ist, ist erst recht interessant…
Nein, in diesem Fall nicht wirklich.
Gutes Buch zum Thema: Generation lebensunfähig.
Das sollte zur Pflichtlektüre für Eltern werden.
Allein ein Verbot, Gebot oder wie auch immer reicht da nicht.