Demokratie verteidigen: Warum Europas Schulen jetzt gefordert sind – ein Gastbeitrag

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BRÜSSEL. Wenn Demokratien unter Druck geraten, kommt der Schule eine Schlüsselfunktion zu: Hier werden die Grundlagen dafür gelegt, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen, kritisch denken – und Europa als gemeinsame Wertegemeinschaft begreifen. In einem Gastbeitrag für News4teachers fordern Roxana Mînzatu, Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission, und Mattias Tesfaye, dänischer Bildungsminister und Ratspräsident, mehr politische Bildung und eine Stärkung von Erasmus+. Denn: Der Kampf für die Demokratie beginnt im Klassenzimmer.

Roxana Mînzatu, Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission für soziale Rechte und Kompetenzen. Foto: Europäische Kommission

Der Kampf für die Demokratie beginnt in der Schule

Von Roxana Mînzatu und Mattias Tesfaye

Die Menschen in Europa kommen aus unterschiedlichen geografischen und kulturellen Umfeldern. Wir sind in verschiedenen politischen Systemen und mit unterschiedlichen geschichtlichen Prägungen aufgewachsen, und wir sprechen verschiedene Sprachen. Doch uns vereint etwas Mächtiges: das Gefühl, im Herzen Europäerinnen und Europäer zu sein. Inmitten zunehmender globaler Spannungen und Unsicherheiten ist dieses Gefühl heute so wertvoll wie seit Generationen nicht mehr.

Wir alle wissen, dass Lese- und Schreibkenntnisse, Mathematik, Naturwissenschaften und digitale Kompetenzen wichtige Fähigkeiten sind. Aber jeder junge Europäer und jede junge Europäerin sollte auch lernen, wie man sich verantwortungsbewusst am gesellschaftlichen Leben beteiligt, kritisch über die Welt um sich herum nachdenkt und aktiv an der Demokratie teilnimmt. Bürgerschaftliches Engagement ist kein optionales Extra; es ist entscheidend für unsere modernen europäischen Gesellschaften.

Deshalb ist es so wichtig, den Bürgersinn als fünfte Grundfertigkeit anzuerkennen. Neben den etablierten Grundfertigkeiten – Lesen und Schreiben, Mathematik sowie naturwissenschaftliche und digitale Kompetenzen – sollten alle jungen Menschen in Europa lernen, wie man sich verantwortungsbewusst staatsbürgerlich engagiert, kritisch über die Welt nachdenkt und aktiv an der Demokratie mitwirkt. Bürgerschaftliches Denken und Handeln ist keine Option, es ist genauso wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Mattias Tesfaye, dänischer Bildungsminister. Foto: Keld Navntoft / Børne- og Undervisningsministeriet

Heute sehen sich europaweit 74 Prozent der Menschen als Bürgerinnen und Bürger der EU – ein Rekordhoch. Zwei Drittel glauben, dass die Europäerinnen und Europäer mehr gemeinsam haben, als sie trennt. Das ist ermutigend, aber die Lage ist fragil. Denn Demokratien sind keine Selbstverständlichkeit. Auf dem gesamten Kontinent sehen wir Anzeichen für Polarisierung, Desinformation und schwindendes Vertrauen in die Institutionen. In einer Zeit, in der Europa seine eigenen Verteidigungs- und Sicherheitsfähigkeiten ausbaut, ist es ebenso wichtig, die demokratische Resilienz zu stärken und ein gemeinsames Verständnis unserer Identität zu etablieren. Wir müssen den nächsten Generationen die Werkzeuge an die Hand geben, die sie zur Bewältigung dieser Herausforderungen benötigen. Denn wir können nicht davon ausgehen, dass sie die Demokratie allein deshalb verteidigen, weil wir es getan haben.

Bürgersinn und ein gemeinsames Bewusstsein für die europäische Identität müssen vermittelt, erlernt und gelebt werden. Es geht darum, unsere jungen Menschen dazu zu befähigen, Dinge in Frage zu stellen, kritisch zu denken, schwierige Gespräche zu führen und sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen. Demokratie findet nicht nur in Parlamenten oder Gerichten statt. Es geht auch um ein „Wir“-Gefühl: das Bewusstsein für eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Kultur und für gemeinsame Werte, deren Weitergabe sich lohnt.

Erasmus+ spielt eine wichtige Rolle

Das Erlernen von Bürgersinn muss schon im frühen Kindesalter in den Schulen beginnen. Überall in Europa bringen Lehrkräfte den Kindern unermüdlich Lesen, Schreiben und Rechnen bei und vermitteln ihnen digitale Kompetenzen. Dieser Erwerb solider, stabiler Grundkompetenzen ist die Grundlage dafür, dass die jungen Menschen auf ihrem Bildungsweg, im Beruf und im Leben vorankommen – egal ob sie davon träumen, Koch oder Kardiologin zu werden. Und die Schulsysteme Europas dienen als Grundgerüst, das es jungen Menschen ermöglicht, analytisch zu denken, kritisch zu reflektieren und sich letztlich zu kompetenten, selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern unserer Demokratien zu entwickeln.

Erasmus+ kann in diesem Entwicklungsprozess eine entscheidende Rolle spielen. Das Programm wird hoch geschätzt und ist eine der größten Erfolgsgeschichten Europas. Bislang haben über 16 Millionen Menschen an Erasmus teilgenommen – es hat also bereits viele Generationen junger Menschen mit echter europäischer Identität hervorgebracht. Erasmus hat die Köpfe erobert, indem es die Palette an Bildungsangeboten für viele junge Menschen erweitert hat. Erasmus hat die Herzen erobert, indem es jungen Menschen ermöglicht hat, unterschiedliche Lebensweisen kennenzulernen und in verschiedene Kulturen einzutauchen, und zwar auf eine Weise, die das gegenseitige Verständnis zwischen den Menschen in Europa bereichert und stärkt. Auch wenn wir unterschiedliche kulinarische oder musikalische Vorlieben haben, teilen wir gemeinsame Werte. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass dieser Prozess weitergeht.

Noch immer verpassen viele junge Menschen die großartigen Mobilitätschancen, die Erasmus bietet. Das muss sich ändern. Es ist an der Zeit, entschlossen zu handeln. Ein Programm mit einer Erfolgsbilanz wie Erasmus+ sollte fortgeführt werden, und seine soziale und bildungspolitische Reichweite sollte weiter vergrößert werden. Schon für jüngere Kinder, vielleicht schon in der Grundschule, kann ein Auslandsaufenthalt – selbst wenn er nur eine Woche dauert – prägend sein. Das gilt insbesondere für diejenigen, die ansonsten ihre Stadt oder ihr Land nie verlassen würden. Eine solche Erfahrung kann Horizonte erweitern, Neugier wecken und den Grundstein für dieses wichtige Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa legen. Wir haben eine klare Vision: Unabhängig vom Hintergrund oder vom Herkunftsort sollte jedes Kind in Europa die Möglichkeit erhalten, seine Verbindung zu Europa zu entdecken – nicht nur im Pass, sondern im Herzen. Eine Aufstockung der Mittel für Erasmus+ wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Budgets und Brigaden reichen nicht aus, um Europa zu verteidigen. Europa muss im Geiste und im Herzen der Menschen leben. Bei der Sicherung unserer Zukunft geht es nicht allein um den Schutz der Grenzen, sondern auch um den Schutz von Werten: von Demokratie, Solidarität und Freiheit. Die Arbeit hieran beginnt im Unterricht, in Austauschprogrammen und in den alltäglichen Erfahrungen, die dazu beitragen, dass junge Menschen sich als Teil Europas verstehen. Die nächste Generation wird Europa nur dann verteidigen, wenn sie sich wirklich damit identifiziert. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass dies gelingt. News4teachers 

Hintergrund

In der vergangenen Woche fand unter der dänischen Ratspräsidentschaft in Kopenhagen die EU-Jugendkonferenz in Kopenhagen statt.

Jugenddelegierte aus ganz Europa, politische Entscheidungsträgerinnen und Vertreterinnen der EU-Institutionen kamen dort zusammen, darunter Roxana Mînzatu und Mattias Tesfaye. In acht thematischen Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmenden über die zukünftige Ausrichtung von Erasmus+ über 2027 hinaus. Themenblöcke umfassten u. a. Inklusion, Bürgerschaftskompetenzen, Freiwilligenarbeit und Unterstützung für Jugendorganisationen.

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4 Kommentare
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Karl Heinz
3 Stunden zuvor

“Der Kampf für die Demokratie beginnt im Klassenzimmer”

Tja lieber Fordernden:
Dann spart halt nicht alles in Grund und Boden,
dann investiert in die Bildung,
dann investiert in die Demokratie,
dann investiert die Zukunft

Kurz:
Gebt Geld
Gebt Geld
Gebt Geld

Übrigens
” das Gefühl, im Herzen Europäerinnen und Europäer zu sein”
halte für einen feuchten Traum der Fordernden.
Die westliche-euopäische Identität wird inzwischen eher im vermeintlichen Abwehrkampf gegen den Islam(ismus) konstruiert – also eher von rechts.

Gysi hatte doch damals schon darauf hingewiesen, dass es ein Europa der Banken und kein Europa der Menschen werde

https://youtu.be/x1ef0BBtuYA?feature=shared

Realist
1 Stunde zuvor
Antwortet  Karl Heinz

Der “Kampf” um die Demokratie beginnt im Klassenzimmer.

Genau! Nur mit der richtigen Wortwahl und dem daraus resultierenden richtigen Mindset werden wir uns auf 2029 vorbereiten können…

Rainer Zufall
1 Stunde zuvor

Gibt es Erasmus für Förderschulen? Ich glaube, so eine von 1000 wäre geeignet UND interessiert, aber das wäre schon vielversprechend *träum* 🙂