Letzte Chance vor dem Knast – straffällig gewordene Jugendliche lernen in Stuntschule

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LÜNEBURG. Treppen runterhechten, in brennende Wände springen, Schwertkämpfe austragen – für einige Jugendliche in Lüneburg ist das die letzte Ausfahrt vor dem Knast. In einer Stuntschule sollen sie für das Leben fit gemacht werden. Und dabei ein bisschen von Hollywood träumen.  

Mohammed hat einen Fuß auf der Brust. Sicherlich kein angenehmes Gefühl, aber der 15-Jährige, den hier alle nur Momo rufen, lässt es zu. «Wenn ich das hier richtig schnell mache, sieht es aus, als ob ich dich wegtrete», erklärt Dragisa Stefanovic, dem der Fuß auf Momos Brust gehört. Ein Bein auf dem Boden, das andere vom Körper gestreckt, steht er vor Momo. Die Szene erinnert an einen alten Kung-Fu-Film mit Bruce Lee. Stefanovic fährt sein ausgestrecktes Bein etwas nach vorne und erhöht den Druck auf der Brust. Dann zieht er es wieder nach hinten. Momo blickt in die Augen seines Kontrahenten, der auch sein Lehrer ist.  Dragisa Stefanovic zeigt Momo gerade wie man sich prügelt, ohne sich zu prügeln. Er ist einer der Ausbilder in der Stuntschule «Showtime» in Lüneburg. In der Einrichtung, die vom Albert-Schweitzer-Familienwerk getragen wird, landen Jugendliche, deren Leben bis dahin mehr Drama als Actionfilm gewesen ist. Sie sind arbeitslos oder stehen mit einem Bein im Gefängnis. Bei Momo waren es «kleinere Sachen», wie er sagt, Diebstähle. Aber er bekommt noch eine Chance: Innerhalb von zwei Jahren kann er das Handwerk eines Stuntmans erlernen.

Stuntmen bei der Arbeit in den Walt-Disney Studios in Hollywood. (Foto: Sanbeji/Flickr CC BY-SA 2.0)
Stuntmen bei der Arbeit in den Walt-Disney Studios in Hollywood. (Foto: Sanbeiji/Flickr CC BY-SA 2.0)

Dazu gehört der Fuß auf der Brust. Stefanovic nimmt Schwung und schickt Mohammed auf die Matten. Er landet vor einem Holzbau, an dem das Schild «Sheriff» prangt. Trainiert wird in der Schule inmitten einer Western-Kulisse, die ein wenig an Hollywood erinnert. Der wahre «Sheriff» des Hauses sitzt wenige Meter entfernt auf einer Holzbank und beobachtet das Training: Hans Joensson. Der 63-Jährige hat nicht nur die Statur eines kleinen Schranks, sondern auch eine zupackende Art – und eine direkte Ansprache. Seine Schützlinge nennt er im Gespräch auch mal «Klappstuhl», auf der Fußmatte vor seinem Büro steht «Jeder Dritte, der kommt, wird erschossen. Zwei waren schon da».

Joensson hat die Stuntschule aufgebaut und betreibt sie nun im siebten Jahr. «Wer zu uns kommt, lebte vorher mehr in der Nacht und schlief tagsüber. Die meisten sind sehr Ich-bezogen. Das Wichtigste ist, Struktur in den Tag zu bekommen und Respekt vor anderen zu lernen», sagt Joensson, der selbst rund 20 Jahre lang als Stuntman gearbeitet hat. Danach wollte er sich ehrenamtlich engagieren. Irgendwann verband sich beides.

Stunts sind zuallererst Schindereien

«Sport ist hier ganz wichtig. Er hilft, sie zu motivieren. Manchmal hören sie danach auch eher zu, weil sie müde sind. Und wer irgendwann einen Trainingsanzug von uns tragen darf, fühlt sich als etwas Besonderes», erzählt Joensson. In das Training fließen Bewegungsabläufe aus verschiedenen Sportarten ein, vieles kommt aus dem Kampfsport. Rund 1000 bis 1200 Euro pro Monat kostet ein Platz für einen Jugendlichen in diesem Programm, rechnet Joensson vor. Das Geld kommt vom Europäischen Sozialfonds, den Jugendämtern und der Justiz. 20 Plätze gibt es.  Stuntman – das klingt cool. Doch Stunts sind erstmal auch: Schinderei. Der 17-Jährige Axel hat sich dem Training von Momo und Dragisa Stefanovic angeschlossen und muss jetzt Kniebeugen machen. «Nicht so schnell, wieder von vorne!» sagt Stefanovic mit strengem Tonfall. Also wieder von vorne. Widerspruch bleibt aus. «Die Kraftübungen tun gut», meint Axel. Er trainiert nur mit, die Ausbildung zum Stuntman wird er nicht machen. Axel wurde vom Jobcenter geschickt, um in Berufe reinzuschnuppern.

Auch das bietet die Einrichtung: Schreinerei, Malerei, Autowerkstatt. Joensson und sein Team haben alles auf wenigen Quadratmetern errichtet, um aus dem von außen eher abweisenden Bau im Industriegebiet Klein-Hollywood zu zimmern. In der Schreinerei kann Axel Kulissen bauen, in der Werkstatt schraubt er an Autos. Später sollen diese mal nur auf zwei Reifen fahren können. Arbeitslose Jugendliche sind die zweite Gruppe, die in der Stuntschule eine Chance bekommen. Vielleicht bleibt Axel bei einem der Jobs hängen – das wäre das Ziel.

Jugendliche lernen hier die Kontrolle über sich selbst

Besucher betreten die Stuntschule über eine schmale Holzbrücke wie in einem Abenteuer-Film, ein paar Meter weiter ist hingegen alles auf Mittelalter dekoriert. An einem Raum für Schulunterricht hängt ein Schild mit der Aufschrift «Folterkammer». Früher war in dem Gebäude mal eine Disco mit zweifelhaftem Ruf – für «Leute mit Einstichstellen und weiten Nasenlöchern», wie Joensson es beschreibt. Als er beim Umbau die Wand aufbrach, kamen Plastikbeutel mit weißem Pulver zum Vorschein, erzählt er.

«Natürlich ist das auch immer ein Spagat», sagt Joensson, wenn er gefragt wird, ob es sinnvoll ist, straffällig gewordenen Jugendlichen Kampf- und Waffentechniken beizubringen. Aber er müsse nur eine kleine Gruppe im Blick behalten und könne daher jeden Einzelnen auch gut einschätzen. Der Umgang mit Schwertern oder Schauspiel-Revolvern würde wenn überhaupt erst zum Schluss gelehrt, betont Joensson. Unterstützt wird der bullige Joensson von einer Sozialpädagogin und einer Psychologin.

«Die Jugendlichen lernen hier die Kontrolle über sich selbst», sagt Joensson. Ein Stuntman müsse sehr exakt arbeiten, um sich nicht zu verletzen. Technik und Kontrolle geht bei einer Schau-Prügelei vor Emotionen. «Zudem bekommen sie ein anderes Selbstwertgefühl, wenn sie eine Sache perfekt beherrschen. Sie haben es dann gar nicht mehr nötig, ihre Fähigkeiten auch nach außen zu zeigen.» Darauf vertraut er auch ein wenig. Ein geregelter Alltag und respektvoller Umgang sind für Joensson sowieso wichtiger als die konkrete Ausbildung. Sie ist nur der Anreiz und die Aussicht, mit denen er an die Jugendlichen rankommt. Dennoch: Der 63-Jährige weiß zumindest von zwei Absolventen, die später mit eigenen Shows oder Stunttruppen unterwegs waren. Insgesamt hätten rund 15 die komplette Ausbildung absolviert.

Stefanovic ist der Bruce Lee von Lüneburg

Einer, der das alles auch erlebt hat, ist heute selbst Lehrer an der Stuntschule – Dragisa Stefanovic. Nach der Lektion mit den Tritten zeigt er Momo nun, wie er sein Gegenüber an den Haaren ziehen kann, ohne ihm wehzutun. Unter seinem grauen Oberteil wölben sich die Muskeln. «Der Richter sagte: Entweder Knast oder Stuntschule», erzählt Stefanovic. Es ging um Körperverletzung. Stefanovic entschied sich dann für die Stuntschule. Und ist seit 2009 nun eine Art Bruce Lee für Lüneburg. Jonas-Erik Schmidt/dpa

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