Aus dem Dunkel ins Licht: „Behinderte haben sich nur Nachts auf die Strasse getraut“ – Lebenshilfe e.V. begründete vor knapp 60 Jahren die Inklusion

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MARBURG. Tom Mutters ruft im Jahr 1958 die Lebenshilfe ins Leben, um geistig behinderten Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Der Pionier wäre nun 100 Jahre alt geworden. Also wird er gefeiert, vor allem in Marburg, wo alles begann.

Einem Mann auf UN-Mission begegnet in Hessen das Elend. Gestank, Gitterfenster und festgebundene Kinder, die an die Zimmerdecke starren. Manche sind nackt oder haben kaum etwas an. Spielzeug fehlt völlig. Es sind diese Bilder in einer Anstalt in Riedstadt-Goddelau und die Aussage eines Arztes, dass man aus diesen «Idioten» keine Professoren machen könne, die Tom Mutters Anfang der 1950er Jahre zum Handeln bewegen. Sein Entschluss: Den Kindern, geistig behindert und allein gelassen, ein besseres Leben ermöglichen.

So schildert eine vor wenigen Monaten erschienene Biografie das für den gebürtigen Niederländer Mutters einschneidende Erlebnis in Goddelau. 1958 gründete er schließlich in Marburg zusammen mit Eltern und Fachleuten die Lebenshilfe. Die Selbsthilfeorganisation für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien zählt heute bundesweit rund 130 000 Mitglieder.

Mutters habe einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz von behinderten Menschen geleistet, sagt Markus Becker, Gießener Journalist und Co-Autor der Biografie über Mutters, der am kommenden Montag (23. Januar) 100 Jahre alt geworden wäre. Er starb vor fast einem Jahr im mittelhessischen Marburg.

«Es war ja damals so, dass sich die Eltern erst mit ihren Kindern nach draußen getraut haben, wenn es dunkel war», erzählt Becker. «Sich in die Öffentlichkeit zu wagen, das war im Nachkriegsdeutschland noch völlig verpönt.» Mutters habe den Eltern Mut gemacht, ihre Kinder nicht mehr zu verstecken. «Er hat ihnen aufgezeigt, dass man dafür sorgen kann, dass sie ein menschenwürdiges Leben leben können und nicht ein Schattendasein führen müssen.»

Der gemeinsame Unterricht von behinderten und Nichtbehinderten Kindern wird in Hessen schon kurz nach seiner Einführung stark kritisiert. (Foto: New Jersey State Libary/Flickr CC BY-NC 2.0)
Der gemeinsame Unterricht von behinderten und Nichtbehinderten Kindern ist der aktuellste Schritt auf einem langen Weg zur Akzeptanz von behinderten Kindern in der Öffentlichkeit. (Foto: New Jersey State Libary/Flickr CC BY-NC 2.0)

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat sich nach eigenen Angaben seit ihrer Gründung zur deutschlandweit größten Selbsthilfegruppe für geistig behinderte Menschen entwickelt, mit Landesverbänden und mehreren hundert Ortsgruppen. Zum Angebot gehören Förderprogramme, Hilfen für Familien, Werkstätten, Wohngruppen oder Kitas und Schulen.

Daran war nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht zu denken. Mutters ging 1949 im Auftrag der Vereinten Nationen (UN) nach Marburg. Er arbeitete zunächst beim Kindersuchdienst und dann für den Hohen Flüchtlingskommissar der UN. 1952 kam er nach Goddelau. In der psychiatrischen Anstalt waren geistig behinderte Kinder von KZ-Überlebenden und Flüchtlingsfamilien untergebracht, wie Becker und sein Kollege Klaus Kächler in ihrem Buch schreiben. Darin beschreiben sie auch das «Bild des Grauens», das sich Mutters geboten habe.

Dieser habe sich dann dafür eingesetzt, die Bedingungen für die Kinder in der Anstalt zu verbessern, erzählt Becker. Sein nächstes Projekt sei es gewesen, in Marburg ein modernes Wohnheim zu errichten, was zunächst ins Stocken geraten sei. Doch Schritt für Schritt sei die Idee gewachsen, mehr für geistig behinderte Kinder und deren Familien zu tun. Nach der Gründung der Lebenshilfe habe er deutschlandweit und international für die Idee geworben.

Mutters habe eine «Bürgerbewegung eingeleitet, die sich seit nahezu 60 Jahren für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien einsetzt», sagt die Lebenshilfe-Bundesvorsitzende und Vizepräsidentin des Bundestages, Ulla Schmidt (SPD). «Damit hat er entscheidenden Anteil daran, dass seit den 60er Jahren Kinder mit geistiger Behinderung in Deutschland selbstverständlich zur Schule gehen und es heute die erste Rentnergeneration geistig behinderter Menschen in Deutschland gibt.»

Nach Einschätzung des studierten Historikers Jan Stoll ist gerade für die Gründungsphase «die Bedeutung der Lebenshilfe für Menschen mit geistigen Behinderungen wahrscheinlich gar nicht zu überschätzen». Denn es habe zuvor schlicht keine Strukturen der Selbsthilfe für Eltern betroffener Kinder gegeben, sagt Stoll, der über Behinderten-Interessenorganisationen promoviert hat. Das Angebot sei innovativ gewesen. Die Organisation sei zudem recht schnell auch zu einer Expertenvereinigung geworden, die in sozialpolitischen Debatten Einfluss genommen habe.

Auch heute noch mischt sie sich ein. «Die Lebenshilfe tritt für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein, um Teilhabe als unveräußerliches Menschenrecht in allen Altersstufen sicherzustellen und Barrieren abzubauen», sagt Schmidt. Die Lebenshilfe erinnert an diesem Sonntag (22. Januar) mit einer Feier an ihren Gründer. dpa

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xxx
7 Jahre zuvor

Ich finde es sehr mutig, die Lebenshilfe mit der Umsetzung der schulischen Inklusion in Verbindung zu bringen. Erstere betreibt viele Wohnheime, letztere ist meiner Meinung nach gemessenen der Umsetzung und die Folgen eine bildungspolitische Katastrophe.