Arbeit von Erzieherinnen: „Das sind tatsächlich extreme Belastungen“

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BERLIN. Im Interview: Prof. Susanne Viernickel ist eine der beiden Projektleiterinnen der Studie „Stege“, die die Belastung von Erzieherinnen untersucht. Die Prorektorin der Alice Salomon Hochschule Berlin ist dort Professorin für die Pädagogik der frühen Kindheit.

Ab sofort gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder, die älter als ein Jahr sind. Foto: Belzie / Flickr (CC BY-ND 2.0)
Ab sofort gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder, die älter als ein Jahr sind. Foto: Belzie / Flickr (CC BY-ND 2.0)

Macht der Erzieherberuf krank?

Susanne Viernickel: „Unserer Studie nach ja. Die Wahrscheinlichkeit für eine Erzieherin, im Laufe ihres Berufslebens zum Beispiel eine Muskel-Skelett-Erkrankung zu bekommen, ist 2,8-mal höher als für eine Durchschnittsdeutsche. Die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen klagen über einen hohen Lärmpegel, über fehlende Pausen- und Rückzugsmöglichkeiten, über die starke körperliche Anstrengung durch das Herumtragen der jüngeren Kinder und über das Sitzen auf zu kleinen Stühlen – und das sind tatsächlich extreme Belastungen. Uns hat betroffen gemacht, wie eindeutig der Zusammenhang zwischen den beruflichen Rahmenbedingungen – dazu gehören Faktoren wie die Qualifikation der Beschäftigten, der Zustand der Räumlichkeiten oder die finanzielle Ausstattung der Einrichtung – und dem gesundheitlichen Empfinden ist. Wir haben erstmals zeigen können, dass schlechte Rahmenbedingungen in den Kitas zu einer schlechten Gesundheit der Beschäftigten dort und damit zu einer geringeren Arbeitsfähigkeit führen.“

Das bedeutet, dass durch Mittelkürzungen oder Standardabsenkungen, etwa beim Personalschlüssel, nur wenig gespart werden kann.

Viernickel: „Richtig. Ich denke, es wäre schon aus Gründen der Gesundheitsvorsorge für die Beschäftigten ökonomisch, in die Kitas zu investieren. Dafür ließe sich sicher eine Rendite berechnen.“

Sind die Kindertagesstätten aus Ihrer Sicht auf die zusätzlichen Aufgaben durch den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Ein- und Zweijährige ab dem 1. August vorbereitet?

Viernickel: „Ich glaube, nein. Es gibt nicht überall genügend Personal, und die Fachkräfte, die wir haben, sind – zumindest in Westdeutschland – nicht für die neue Altersgruppe ausgebildet. Im Osten waren immer schon sehr kleine Kinder in den Kitas.“

Hat es in den letzten Jahren nicht schon viele Veränderungen in den Kitas gegeben?

Viernickel: „Es hat tatsächlich in den vergangenen Jahren große Veränderungen in den Kindertageseinrichtungen gegeben. Dafür sind zwei Dinge ursächlich: Zum einen verbringen immer mehr Kinder immer mehr Zeit in der Kita. Mittlerweile besuchen 94 Prozent, also fast alle, der Drei- bis Sechsjährigen eine Einrichtung, und es kommen zunehmend jüngere. Darüber hinaus bleiben die Kinder über den Tag auch länger – früher meist nur bis mittags, heute bis weit in den Nachmittag hinein. Die Kita macht also heute für die meisten Kinder einen Großteil ihres Alltags aus. Zum anderen sind die Ansprüche gestiegen. Spätestens seit PISA haben die Kindertageseinrichtungen nicht nur einen Betreuungs-, sondern auch einen Bildungsauftrag. Die Erzieherinnen sollen die Kinder beobachten und Lernfortschritte dokumentieren, sie sollen mit den Eltern zusammenarbeiten und auch den Kinderschutz im Blick haben, also Anzeichen von Misshandlung und Verwahrlosung erkennen. Das alles wirkt sich aus.“

Sind für die zusätzlichen Aufgaben genügend Ressourcen bereitgestellt worden?

Viernickel: „Ich bin der Meinung, dass das nicht im notwendigen Maß erfolgt ist. Zwar hat sich das Rollenverständnis der Fachkräfte geändert – sie intervenieren weniger und achten mehr darauf, den Rahmen zu setzen. Wenn die Erzieherinnen also früher mit allen Kindern oder sogar für die Kinder Papierblumen ausgeschnitten haben, dann bieten sie heute das Material an und lassen die Kinder nach ihren eigenen Ideen basteln. Das mag die Fachkräfte rein zeitlich betrachtet entlasten, heißt aber nicht, dass sie sich weniger zu kümmern brauchen. Das einzelne Kind in den Blick zu nehmen, das ist anspruchsvoll. Als größter Belastungsfaktor wird von den Fachkräften Zeitmangel genannt. Es gibt aus ihrer Sicht zu viele Kinder für zu wenige Erzieherinnen. Viele wissen nicht, wie sie die Fülle der Anforderungen bewältigen sollen.“

Sie beziehen sich in Ihrer Studie auf die Situation in Nordrhein-Westfalen. Sind die Ergebnisse übertragbar auf die anderen Bundesländer?

Viernickel: „Die Zusammenhänge sind sicher übertragbar. Aus unserer Studie lassen sich Schlüsse für ganz Deutschland ziehen.“

 Zum Bericht: „Studie: Zu viel Zeitdruck macht Erzieherinnen krank“

 

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Angelika Mauel
1 Jahr zuvor

Damals gab es die Kommentarfunktion noch nicht, aber auch in der Rückschau lässt sich selbstverständlich auch noch eine Menge zu den aktuellen Extrembelasrungen sagen. Es ist eindeutig vieles schlimmer geworden!

Als ich 1993 begonnen habe, im Kindergarten zu arbeiten, habe ich auch sehr unter der Lärmbelastung gelitten. Da ich als Kind keinen Kindergarten besucht habe, kannte ich diesen Geräuschpegel nicht. Auch für die damals meist erst ab vier aufgenommenen Kinder war „die normale Lautstärke eines Kindergartens“ ein Problem. Mütter berichteten, dass viele nach einem halben Tag Kindergarten total erschöpft waren und nachmittags freiwillig und zum Teil auch sehr lange Mittagsschlaf gehalten haben. Nach der damals noch üblichen Schließzeit wurden kaum noch Kinder gebracht. Die Kinder spielten daheim und weil sich meist ein Familienmitglied um das Kind kümmerte, wurden wesentlich weniger Kinder krank in die Einrichtungen gebracht. – Ohne dass wir dokumentiert hätten, bekamen die Eltern mehr von der Entwicklung ihrer Kinder mit.