Tag der Handschrift: „Es muss mehr Motorik geübt werden“

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HEROLDSBERG. Am heutigen 23. Januar ist der Tag der Handschrift – ein guter Anlass, um die zunehmenden Probleme beim Handschreiben in den Fokus zu rücken. Wie lernen Kinder am besten das Schreiben mit der Hand? Diese Frage beschäftigt das  Schreibmotorik Institut, Heroldsberg, das gerade gemeinsam mit dem Deutschen Lehrerverband eine Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern zum Thema durchführt. Dr. Christian Marquardt ist einer der wissenschaftlichen Beiräte der Einrichtung. Er forscht seit mehr als 25 Jahren zum Thema. Seine Erkenntnis:  Es könnte viel besser gehen. News4teachers sprach mit ihm.

"Es könnte viel besser gehen": Motorikforscher Marquardt und Schülerin. Foto: SMI
„Es könnte viel besser gehen“: Motorikforscher Marquardt und Schülerin. Foto: SMI

Was ist eine gute Handschrift?

Marquardt: Da muss man unterscheiden zwischen dem Ergebnis – also was man auf dem Papier sieht – und den motorischen Aktionen, die dafür notwendig sind. Den Lehrplänen für die Grundschule zufolge ist das Ziel des Schreibunterrichts in der Grundschule eine flüssige und gut lesbare Handschrift. Wenn alle Schüler an diesem Punkt ankommen würden, dann hätten wir kein Problem.

Das tun viele aber nicht …

Marquardt: In der Schule sagen alle, es gibt Probleme mit dem Schreiben, und das schon seit langem. Die Lehrer beklagen, dass Kinder ungenügende motorische Kompetenzen mitbringen und es an der Aufmerksamkeit hapert, die Eltern sind hilflos und die Schüler frustriert. Das Ergebnis ist allzu häufig eine Handschrift, die schwer lesbar ist, viele Fehler enthält und beim längeren Schreiben auch noch Schmerzen bereitet.

Was lässt sich dagegen tun – eine einfachere Schrift einführen, wie es zum Beispiel der Grundschulverband fordert?

Marquardt: Die Diskussion um die beste Schrift führen wir doch schon seit mehreren Jahrzehnten. Das Sütterlin wurde abgelöst durch die Lateinische Ausgangsschrift, und die wiederum durch die Vereinfachte Ausgangsschrift. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es zusätzlich die Schulausgangsschrift. Jetzt gibt es eine neue Diskussion um die so genannte Grundschrift – doch die Reformen haben die Probleme nicht gelöst. Warum redet man immer über die Schrift und nie über das Schreiben? Anders gefragt: Verstehen wir überhaupt, wie das Schreiben funktioniert?

Sie haben, um das Schreiben besser zu verstehen, eine Langzeituntersuchung in einer Grundschule durchgeführt.

Marquardt: Wir haben uns über vier Jahre in einer Grundschule die Schrift der Kinder und ihre Entwicklung kontinuierlich angeschaut. Wir haben immer wieder mit einem besonderen Instrument – einem graphischen Tablett, das die Schreibbewegungen aufzeichnet – gemessen, um die Systematik zu verstehen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Erwachsene überhaupt nicht so schreiben, wie sie es als Kinder in der Schule gelernt haben. Die Erwachsenenschrift sieht völlig anders aus; sie ist individualisiert – optimiert. Die Kinder lernen in der Schule nicht das Schreiben. Sie lernen nur ein Grundkonstrukt, das zeigt, wie eine Schrift aussehen könnte. Ihre eigene Schrift müssen sie erst entwickeln. Und das dauert lange. Ein mühsamer Weg.

Auf dem viele Kinder verloren gehen.

Marquardt: Richtig. Denn in der Schule gilt die Prämisse: Je ordentlicher ein Kind in den ersten Schuljahren die Buchstaben malt, desto besser wird es später schreiben. Aber diese Prämisse ist falsch. Es gibt kaum einen Transfer vom langsamen Malen auf das schnelle Schreiben. Kleinkinder, die laufen lernen, fangen auch nicht mit perfekten Schritten in Zeitlupe an. Sie probieren vielmehr aus, laufen los – und fallen auch mal hin. Ruckzuck haben sie dann raus, wie’s geht. Auch die Gehirnforschung hat bewiesen, dass zum motorischen Lernen das Ausprobieren notwendig ist. Beim Schreibenlernen sollte die gute Schrift das Ergebnis sein und nicht schon am Anfang stehen. Es muss also deutlich mehr Schreibmotorik geübt werden und nicht nur die genaue Schriftform.

Wie soll das praktisch funktionieren?

Marquardt: Ein Erstklässler, der ein „O“ schreiben soll, benötigt dafür ein bis zwei Sekunden. Dabei ist ein „O“ nichts anderes als eine Art Kreis, und den kann ein Erstklässler auch schon viel schneller schreiben – wenn man ihm die Freiheit lässt, sich auf seine Art der Form zu nähern. Ohne diese engen Vorgaben und mit mehr Unterstützung in der Motorik können Kinder viel schneller und besser eine gute Handschrift entwickeln. Wir haben Pilotstudien durchgeführt, bei denen Kinder Schreibstrategien üben sollten und nicht so sehr darauf achten mussten, Formen exakt nachzuvollziehen. Statt beispielsweise den Buchstaben „H“ abzumalen, sollten sie beim Schreiben an so etwas wie eine Leiter denken. Innerhalb von kürzester Zeit haben die Kinder ihre Schreibgeschwindigkeit deutlich erhöht und große Fortschritte gemacht.

Info: Am 23. Januar wird in den USA der National Handwriting Day, der Tag der Handschrift, gefeiert. Der 23. Januar ist der Geburtstag von John Hancock (1737 –1793), dem Erstunterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Seine handschriftliche Signatur auf dem Dokument ist aufgrund ihrer Größe besonders markant.

Das Schreibmotorik Institut e. V., Heroldsberg, ist eine bundesweit einzigartige Einrichtung. Es beschäftigt sich mit der Forschung auf den Gebieten der Schreibmotorik und der Schreibergonomie, vernetzt relevante Institutionen im Bereich des Handschreibens und versammelt Experten, die sich seit Jahren in Theorie und Praxis mit effizientem Schreiben beschäftigen. Es hat Lehrmaterialien für den Schreibunterricht entwickelt und bietet Seminare für Pädagogen an.

Zum Bericht: Finnland streicht die Schreibschrift aus dem Lehrplan – Kinder sollen mit Tastatur lernen

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