PISA-Experte: Deutscher Bildungs-Reformschwung hat nachgelassen – und Chancengerechtigkeit weiter ein Problemfeld

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BERLIN/PARIS. Dieses Jahr hält der Nikolaus auch eine Überraschung für die deutsche Bildungslandschaft bereit, denn am 6. Dezember 2016 veröffentlicht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre sechste PISA-Bildungsstudie. Experten vermuten für Deutschland eine solide Note 3 als Ergebnis. Der Koordinator für die PISA-Studien, Andreas Schleicher, warnt die deutschen Bildungspolitiker, bei ihrem Reformeifer für die Schulen nachzulassen.

Bildungsinvestitionen rechnen sich: PISA-Koordinator Andreas Schleicher. Foto: TED Conference / flickr (CC BY-NC 2.0)
PISA-Koordinator Andreas Schleicher mahnt die deutschen Bildungspolitiker, sich nicht auf den verbesserten Ergebnissen der vergangenen Jahre auszuruhen. Foto: TED Conference / flickr (CC BY-NC 2.0)

Am 6. Dezember werden die Ergebnisse der sechsten internationalen PISA-Bildungsstudie präsentiert. In Deutschland beteiligten sich rund 10.000 Schüler im Alter von 15 Jahren im Mai 2015 an dem Vergleichstest, weltweit richtete er sich an mehr als 500.000 Schüler in gut 70 Ländern. Inhaltlich war der Test so breit aufgestellt wie nie zuvor. Zusätzlich umfasste er Kompetenzfelder wie Problemlösen im Team und Wohlbefinden der Schüler – wohl auch um Kritik vorzubeugen, die OECD orientiere sich zu sehr am „Nutzwert“ von Schule für den Arbeitsmarkt.

Verbesserte Leistungen
Nach dem „PISA-Schock“ vor 15 Jahren – mit miserablen Testergebnissen in Mathematik, Naturwissenschaften, Lese- sowie Textverständnis – und diversen Bildungsreformen verbesserte sich die Kompetenz deutscher Schüler stetig: 2003, 2006, 2009 und 2012, ohne dass es zu Spitzenrängen reichte. In Mathematik steigerte sich Deutschland von 490 auf 514 Punkte, näherte sich dem europäischen PISA-Vorbild Finnland (519) an, war von asiatischen Ländern wie Japan (536) aber noch weit entfernt. In Lesekompetenz stieg die Formkurve von 484 auf 508 Punkte (Finnland 524, Japan 538), in Naturwissenschaften ging es von 487 auf 524 Punkte hoch (Finnland 545, Japan 547). „Die verbesserten Leistungen Deutschlands bei den PISA-Tests der Nuller-Jahre sollten Ansporn sein, so weiterzumachen“, sagt Schleicher. Allerdings erkennt der Experte der OECD gewisse Bremsspuren: „Insgesamt hat diese Dynamik das Land wirklich nach vorn gebracht. Man muss aber leider sagen, dass der Schwung in den vergangenen Jahren wieder abgeflaut ist – und das ist langfristig sehr schade.“ Aus Schleichers Sicht existiert kein Grund, „warum Deutschland sich nicht an den leistungsstärksten Bildungssystemen orientieren sollte“.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Bremens Senatorin für Kinder und Bildung Claudia Bogedan (SPD), schränkt jedoch ein, dass einige PISA-Spitzenreiter sich nicht als Vorbild eignen: „Selbst wenn die OECD immer wieder auf deutlich bessere Ergebnisse in Asien hinweist: Der Vergleich mit autoritär regierten Ländern kann für uns nicht sinnvoll sein, die dortigen Bildungssysteme sind für Deutschland insofern auch kein Maßstab.“

Fehlende Chancengerechtigkeit
Als weiterhin bestehendes Problemfeld des Bildungssystems in Deutschland identifiziert Schleicher die mangelnde Chancengerechtigkeit: So zeigten PISA-Studien der vergangenen Jahre, dass „hierzulande weiterhin der Bildungserfolg zu stark vom sozialen Kontext abhängig“ sei. Der Experte betont: „Die Gruppe der leistungsschwachen Schüler ist für ein Land wie Deutschland immer noch zu groß.“ Es gehe dabei „nicht nur um die Frage, ob diese Jugendlichen später alle einen Beruf finden“. Schleicher sagt: „Wie wir mit den schwierigsten Schülern, den Schülern mit den schlechtesten Ausgangsbedingungen umgehen – das sagt etwas über uns selbst aus.“ Zudem würden in der heutigen Zeit wirklich alle Menschen in einer Gesellschaft gebraucht. „Es gibt auch immer weniger Raum für Menschen ohne gute Bildung, sich einzubringen. Daher ist der Ansatz der Inklusion aller kein Luxus, sondern pure Notwendigkeit geworden – und eine Kernaufgabe von Bildungspolitik.“

Die Vorschläge des Aktionsrates Bildung zur Eingliederung von Kindern aus Einwandererfamilien sind umstritten. Foto: Rakib Hasan Sumon / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Die gestiegene Zahl geflüchteter Schüler sei laut Schleicher zu klein, um PISA-Ergebnisse zu beeinflussen. Foto: Rakib Hasan Sumon / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Bei der Flüchtlingsintegration ins Bildungssystem sei Deutschland „auf dem richtigen Weg, auch wenn man langfristig noch viel mehr machen muss“. Dass sich eine Art negativer Flüchtlingseffekt auf künftige PISA-Resultate auswirke, sei „statistisch gar nicht möglich. Da ist der Anteil von Geflüchteten viel zu klein, um für ein Land wie Deutschland signifikante Veränderungen im Gesamtergebnis zu bewirken.“

Außerdem solle man doch nicht davon ausgehen, dass die zuletzt neu ins Land Gekommenen allesamt nichts können, so Schleicher. „Wenn man unter vergleichbarem sozialen Kontext nachschaut, finden wir unter Flüchtlingen genauso viele Hochbegabte wie bei Schülern ohne Migrationshintergrund.“ (dpa)

Hintergrund: Die Bildungsstudien PISA und TIMSS
Die vier Buchstaben PISA stehen für den weltweit größten Schulvergleichstest. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris organisiert das „Programme for International Student Assessment“ (PISA) seit 2000 alle drei Jahre. Die OECD handelt im Auftrag der Regierungen – beziehungsweise in Deutschland für die Kultusministerkonferenz der 16 Bundesländer (KMK). Ergebnisse veröffentlicht die Organisation erst nach gründlicher Auswertung im Jahr nach dem Test. Im Fokus stehen die Leistungen von 15-Jährigen in den sich wechselnden Schwerpunktbereichen: Mathematik, Naturwissenschaften sowie Lesen und Textverständnis.

Eine Woche vor der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse, am 29. November, erscheinen in diesem Jahr zudem die TIMSS-Resultate. Die Abkürzung steht für „Trends in International Mathematics and Science Study“. Alle vier Jahre erfasst TIMSS das Grundverständnis von Schülern in Mathematik und Naturwissenschaften. In Deutschland testeten Wissenschaftler unter Leitung des Bildungsforschers Wilfried Bos, Professor an der Technischen Universität Dortmund, etwa 4000 Kinder der vierten Jahrgangsstufe an 200 Grund- und Förderschulen. 2007 und 2011 rangierten deutsche Grundschüler bei TIMSS international im vorderen Drittel. Aber: Auffällig wenige Kinder erreichten hierzulande die oberste Kompetenzstufe und die Zahl der „Risikoschüler“ war mit etwa einem Fünftel hoch. (dpa)

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U. B.
7 Jahre zuvor

Mir fällt ständig auf, dass Herr Schleicher unter dem Deckmantel „Pisa-Studie“ sich immer wieder als Gerechtigkeitsfachmann nach rot-rot-grünem Verständnis aufspielt.
Gerechtigkeit ist nun aber mal kein geeichter und feststehender Begriff und kann sehr verschieden ausgelegt werden.
Für welches Ziel Herr Schleicher den inflationären und dennoch immer wieder schön klingenden Begriff „Chancengerechtigkeit“ benutzt, ist nach wie vor nicht zu übersehen.

Küstenfuchs
7 Jahre zuvor

Wenn der Herr Schleicher den Mund auf macht, höre ich immer nur: „Bla bla, bla bla bla, bla bla“.

GriasDi
7 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Soweit ich gelesen habe, stand Herr Schleicher noch nie (länger) vor einer Klasse. So lassen sich Forderungen leicht aussprechen.

GriasDi
7 Jahre zuvor

Ist nicht als ein Punkt für den Erfolg Schleswig-Holsteins bei der letzten IQB-Studie genannt worden, dass man die Schulen mal in Ruhe hat arbeiten lassen?

drd
7 Jahre zuvor

Wen interessiert dieser ganze PISA Scheiß eigentlich noch? Dieser Messwahnsinn hat die Bildung aus der Schule vertrieben und inhalts- sowie erkenntnisleere Procedere von Lernen geschaffen. Es geht niucht mehr darum, was jemand kann, sondern nur noch darum, wie er das präsentiert, was er gerade noch zusammenkratzen konnte.

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  drd

Und in welchen Statistiken der Staat, das Bundesland, die Stadt, die Schule im Vergleich möglichst gut dastehen kann.