Philologen-Chef Meidinger sieht den Befund steigender Abbrecherquoten unter Migrantenkindern als „Alarmzeichen“

1

BERLIN. Der Deutsche Philologenverband rechnet mit starken Integrationsproblemen in den Schulen. Der «Chancenspiegel 2017» der Bertelsmann-Stiftung sei ein «Alarmzeichen», sagte Verbandschef Heinz-Peter Meidinger der «Neuen Osnabrücker Zeitung». «Die Studie hat gezeigt, dass die Schulabbruchquoten bei Kindern mit Migrationshintergrund wieder steigen», sagte Meidinger, der 90.000 Gymnasiallehrer vertritt. Er rief Bund und Länder dazu auf, diesem «besorgniserregenden Trend» entgegenzuwirken. Andere konservative Lehrerverbände kritisierten hingegen die Studie als „einseitig“ und „unseriös“.

Fordert die Politik auf, zu handeln: Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Foto: Deutscher Philologenverband
Fordert die Politik auf, zu handeln: Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Foto: Deutscher Philologenverband

Fünfzehn Jahre nach dem «PISA-Schock» hat Deutschland zwar die Chancen vieler Jugendlicher auf eine gute Schulbildung deutlich verbessert. Jugendliche mit Migrationshintergrund und Ausländer profitieren allerdings noch zu wenig von Fortschritten in den Bundesländern – so das Fazit des am Mittwoch in Berlin vorgestellten «Chancenspiegels». Während der Anteil aller Schüler ohne Abschluss seit 2011 von 6,2 auf 5,8 Prozent (2014) sank, stieg die Quote bei jungen Ausländern laut Studie im gleichen Zeitraum von 12,1 auf 12,9 Prozent. Nicht einbezogen wurde in die Erhebung, deren Daten aus den Jahren 2002 bis 2014 stammt, die große Zahl von Flüchtlingskindern, die seit 2015 in die Schulen kam.

Anzeige

Wann, wenn nicht jetzt? Gebt Lehrern endlich die Unterstützung, die sie brauchen!

«Die Politik glaubt, mit der Neubildung von Tausenden von Klassen und der Einstellung von 13.000 Lehrkräften ihre Hausaufgaben gemacht zu haben, und auch in der Öffentlichkeit spielt das Thema nicht mehr die Rolle wie vor einem Jahr», kritisierte der Vorsitzende des Philologenverbands. Vor Ort zeige sich aber, dass jetzt bei der zweiten Stufe der Integration, der Überführung der Kinder aus Willkommens-, Sprachlern- und Übergangsklassen in Regelschulen, massive Probleme und Defizite zu verzeichnen seien. dpa

50.000 Jugendliche pro Jahr scheitern an der Schule – und landen in der Arbeitslosigkeit. Können wir uns das leisten?

Hintergrund: Kritik vom VDR und vom Deutschen Lehrerverband

Zum Teil im Widerspruch zu Meidingers Aussagen liegt ein Statement des Verbands Deutscher Realschullehrer (VDR) zum „Chancenspiegel“. „Wer (..) Deutschland eine Benachteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund unterstellt, der ignoriert die Vielzahl der strukturellen und organisatorischen Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen wurden, um jungen Menschen, die in unser Land kommen, beste Chancen der Integration und Bildung zu bieten“, erklärte VDR-Vorsitzender Jürgen Böhm. „Ebenfalls ignoriert wird die hervorragende geleistete Arbeit der Pädagogen in unserem Land. Diese bewältigen sämtliche Herausforderungen hoch kompetent und mit größtem Engagement – und müssen hierbei mit verbesserten Rahmenbedingungen wie pädagogischem Freiraum, integrierten Lehrerreserven und besseren Differenzierungsmöglichkeiten zur individuellen Förderung unterstützt werden.“

Der Chancenspiegel beanspruche für sich, so Böhm, die gesellschaftliche Debatte über ein gerechtes und leistungsstarkes Schulsystem in Deutschland sach- und lösungsorientiert zu vertiefen, mit dem Ziel alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu fördern. „Dies muss grundsätzlich im Interesse der schulischen Bildung in Deutschland stehen. Jedoch reicht es nicht, hierbei auf einige wenige vermeintlich ausschlaggebende Faktoren einzugehen. So ist beispielsweise die Ganztagsschule ebenso wenig ein ‚Allheilmittel’ wie das Abitur für sich beanspruchen kann, alleiniger Qualitätsindex oder Erfolgsgarant einer späteren Karriere zu sein“, sagte Böhm. Es sei an der Zeit, dass man die vielfältigen, „nachweislich erfolgreichen“ Wege des differenzierten Bildungswesens in Deutschland anerkenne und sich von „überholten, ideologisch abgenutzten Vorstellungen eines Einheitsschulsystems mit einem ‚Abitur für alle‘“ verabschiede, so Böhm.

„Wenn man die Messlatte an das föderale, differenzierte Bildungswesen in Deutschland anlegt, zeigt sich die eigentliche Stärke dieses Systems“, stellt Böhm fest. Der erfolgreiche Übergang ins Berufsleben gelinge in Deutschland wesentlich besser als in anderen OECD-Ländern. Indikatoren seien beispielsweise die extrem geringe Quote der Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu vergleichbaren Industrieländern.

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband

In die gleiche Kerbe schlägt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Er sagt: „Was die Bertelsmann Stiftung jetzt zum wiederholten Male hier publiziert, hat mit sorgfältiger Analyse nichts zu tun. Zum Beispiel erfasst die Bertelsmann-Studie bei der Analyse der sozialen Hintergründe von Schülern nicht, dass sich das deutsche Bildungswesen durch eine ausgesprochene vertikale Durchlässigkeit auszeichnet. Auf jeden Abschluss gibt es hier einen Anschluss. Die Studie dagegen legt Schulleistungsstudien zugrunde, in denen sich die ausgeprägte vertikale Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems zum Beispiel über zweite Bildungswege nicht abbildet. Die tatsächlichen Bildungsbiographien erheblicher Schüleranteile kommen somit nicht zum Tragen.“

Weiter erklärt Kraus: „Rund die Hälfte aller Studierberechtigten hat kein Gymnasium besucht, sondern eine Studierberechtigung auf anderen Wegen erworben. Unter diesen jungen Leuten sind Kinder aus nicht-akademischen Haushalten sogar stark vertreten. Außerdem ist ein wichtiges sozialpolitisches Kriterium, ob ein Bildungswesen junge Leute in Lohn und Brot bringt. Hier steht Deutschland im internationalen Vergleich mit rund sechs Prozent Jugendarbeitslosigkeit gut da. Dagegen hilft es wenig, wenn alle jungen Leute eine Studierberechtigung haben, die Quote an arbeitslosen Jugendlichen aber über 20 Prozent wie in Finnland oder bei über 50 Prozent in südeuropäischen Ländern liegt.“ N4t

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

1 Kommentar
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
dickebank
7 Jahre zuvor

Das Problem dürfte die Mitglieder des DPhV auch ganz massiv treffen. Wieder einnal ein Beitrag von Blinden zum Thema Farbe.