FRANKFURT. Einzelkinder sind anders als Geschwisterkinder? Ältere Geschwister sind besonders verantwortungsvoll? Sandwichkinder sind sozialer als andere? – Die Ansichten zum Einfluss der Geburtsreihenfolge in der Familie auf die Persönlichkeit von Kindern stecken voller Vorurteile. Doch können Lehrer anhand der Stellung von Kindern in der Geburtsreihenfolge bereits Rückschlüsse darauf ziehen, mit was für einer Persönlichkeit sie es zu tun haben? Eher nein, sagt bislang die psychologische Forschung. Frankfurter Wissenschaftler liefern nun neue Erkenntnisse.
Die Frage, ob und – falls ja – wie die Stellung in der Geburtenfolge von Geschwistern Einfluss auf die Persönlichkeit des Kindes und seine Beziehung zu den Eltern nimmt, beschäftigt die Psychologie seit fast 100 Jahren. Die Annahmen fallen dabei unterschiedlich aus: Mal sind es Einzelkinder und Nesthäkchen, deren Persönlichkeitsentwicklung angeblich darunter leidet, dass sie als Kind verhätschelt werden. Mal sind es die sogenannten Sandwichkinder, denen eine problematische Entwicklung vorhergesagt wird, da sie vermeintlich von ihren Eltern nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten. Auch gibt es die These, wonach Erstgeborene tendenziell konservativer, Zweitgeborene dagegen rebellischer sind.
Gegenwärtig gehen die meisten Psychologen davon aus, dass die Geburtenfolge keinen spürbaren Einfluss auf die Persönlichkeit nimmt. Wissenschaftler der Frankfurt University of Applied Sciences (UAS) kommen allerdings jetzt zu anderen Ergebnissen: Kinder mit älteren Geschwistern hättenen häufig eine weniger enge Beziehung zu ihren Eltern. Zudem seien sie emotional labiler und furchtsamer.
Das Team um Studienleiter Andreas Klocke griff für seine Analyse auf Daten der Längsschnittstudie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ zurück. Jährlich befragten die Forscher dazu rund 10.000 Schüler an rund 150 weiterführenden Schulen in 14 Bundesländern. In jeder Erhebungswelle sollten die Teilnehmenden auch angeben, wie viele jüngere und ältere Geschwister sie haben. Im Schuljahr 2016/17 (dritte Erhebungswelle) erfassten sie auch die Persönlichkeitseigenschaften von Siebtklässlern.
„Wir haben uns alle Konstellationen angeschaut, in denen die Kinder angaben, bis zu zwei Geschwister zu haben“, erläutert Sven Stadtmüller vom Frankfurter Forschungszentrum Demografischer Wandel, der die Analysen durchgeführt hat. Stadtmüller bildete zunächst vier Gruppen: erstens Einzelkinder, zweitens Kinder mit einem jüngeren und drittens Kinder mit einem älteren Geschwisterkind, viertens Kinder mit zwei Geschwistern. Hier unterschied Stadtmüller nach drei Merkmalen: Schüler mit zwei jüngeren Geschwistern, Sandwichkinder (mit einem jüngeren und einem älteren Geschwisterkind) und Nesthäkchen (Kinder mit zwei älteren Geschwistern). Alle sechs Gruppen bestehen aus mindestens 700 Kindern.
Zunächst interessierte das Forschungsteam, ob die Beziehung zu den Eltern für Kinder mit unterschiedlicher Stellung in der Geburtenfolge verschieden ausfällt. Die Eltern-Kind-Beziehung wurde dabei vereinfacht als „sehr gut“ aufgefasst, wenn das Kind angab, dass es ihm sowohl mit der Mutter (oder der Stiefmutter) als auch mit dem Vater (oder dem Stiefvater) sehr leicht falle, über wichtige persönliche Dinge zu sprechen. Insgesamt traf dies auf gut ein Fünftel der Schulkinder (21,9 Prozent) zu.
Je nach Stellung in der Geburtenfolge zeigten sich deutliche Unterschiede: Demnach fällt dieser Wert für Einzelkinder (24,9 Prozent), aber auch für die älteren bzw. ältesten Geschwisterkinder (24,0 bzw. 23,3 Prozent) besonders hoch aus. Umgekehrt verhält es sich für Kinder mit nur einem älteren Geschwisterteil (20,0 Prozent) und mit den Sandwichkindern (20,3 Prozent). Letzteres überraschte Klocke und Stadtmüller nur bedingt, wird Sandwichkindern doch häufiger nachgesagt, sie erhielten von ihren Eltern zu wenig Aufmerksamkeit, was der Beziehung natürlich abträglich wäre.
Weitaus überraschender war hingegen der Wert für die Nesthäkchen: Er fällt mit 18,2 Prozent am geringsten aus. „Das ist schon erstaunlich, wird doch gerade bei diesen Kindern davon ausgegangen, dass sie die größte elterliche Aufmerksamkeit erfahren“, so Stadtmüller. Bei den Unterschieden zwischen den Konstellationen mit und ohne ältere Geschwisterkinder handele es sich sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht um zufällige sondern systematische Unterschiede. Die Ergebnisse seien sind durchweg statistisch signifikant
Doch nimmt die Stellung in der Geburtenfolge auch Einfluss auf die Persönlichkeit der Kinder? Zur Beantwortung dieser Frage griffen die Wissenschaftler auf das sogenannte Big Five-Inventar zurück. Es geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen zentral mit fünf Merkmalen charakterisieren lässt: Neben Extraversion und Gewissenhaftigkeit sind dies Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrung und Neurotizismus.
Jedes dieser Persönlichkeitsmerkmale maßen die UAS-Forscher, indem sie die Kinder sich selbst auf der Basis von drei Aussagen einschätzen ließen. Beispielsweise gilt ein Schulkind als gewissenhaft, wenn es bei den Aussagen „Ich bin jemand, der gründlich arbeitet“ und „Ich bin jemand, der Aufgaben wirksam und effizient erledigt“ mit „trifft eher zu“ oder mit „trifft voll und ganz zu“ antwortet. Gleichzeitig muss es bei der Aussage „Ich bin jemand, der eher faul ist“ mit „trifft überhaupt nicht zu“ oder „trifft eher nicht zu“ antworten, um eine hohe Ausprägung bei dieser Persönlichkeitseigenschaft aufzuweisen.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Stellung in der Geburtenfolge tatsächlich Einfluss auf die Persönlichkeit nimmt, wenngleich ihre Prägekraft nur begrenzt ausfällt. Zudem zeigten sich Unterschiede zwischen den Konstellationen der Geburtenfolge. So wiesen Kinder mit älteren Geschwistern den Persönlichkeitszug „Verträglichkeit“ zu geringeren Anteilen auf als Einzelkinder oder Kinder mit einem oder mehreren jüngeren Geschwistern. Auch beim Wesenszug „Offenheit für Erfahrung“ zeigte sich diese Trennlinie: Einzelkinder und Kinder mit mindestens einem jüngeren Geschwisterkind hatten häufiger neue und originelle Ideen und eine lebhafte Fantasie.
Ganz besonders ragten erneut die Nesthäkchen heraus. Bei der Gewissenhaftigkeit und der Offenheit für Erfahrung verbuchten sie die geringsten Anteile, beim Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus dagegen die höchsten. Sie werden also schneller nervös, können schlechter mit Stress umgehen und machen sich häufiger Sorgen als Kinder aus allen anderen Konstellationen der Geburtenfolge.
Bei den zentralen Zielgrößen der GUS-Studie, nämlich bei Unfällen und Verletzungen im Schulalter sowie beim Gesundheitsverhalten zeigen sich dagegen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den verschiedenen Konstellationen. (zab, pm)
• Projektseite zur Längsschnittstudie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ (GUS)