Lehrerverbände beklagen «Abordnungskarussell»

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HANNOVER. Die Landesregierung hatte eigentlich versprochen, Lehrer nicht mehr so oft auf Reisen zu schicken, um Löcher zu stopfen. Doch es herrscht weiter Pädagogenmangel. Auch im neuen Schuljahr wird es wohl wieder viele Abordnungen in Niedersachsen geben.

Das neue Schuljahr in Niedersachsen startet. Und wieder müssen Lehrer an anderen Schulformen aushelfen. Wie schon im vergangenen Jahr werden viele Gymnasiallehrer an Haupt-, Real-, Ober- und Grundschulen abgeordnet. Sie sollen verhindern, dass Unterricht ausfällt. Das Land kann wohl nicht alle 2000 ausgeschriebenen Lehrerstellen besetzen. Bis zum 2. August gab es laut Kultusministerium 1850 Neueinstellungen. Das Verfahren laufe aber noch bis Ende August.

Wie viele Lehrer werden im neuen Schuljahr abgeordnet?

Für das beginnende Schuljahr besteht ein Bedarf an Abordnungen von 23 310 Unterrichtsstunden – darunter insgesamt 1949 Stunden von den Gymnasien direkt an Grundschulen. Vor allem in den dritten und vierten Jahrgängen gibt es demnach Bedarf. Die Zahlen stammen vom 28. Juni. Bis zu Beginn des Schuljahres kann es noch Abweichungen geben. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) hatte eigentlich nach Amtsantritt gesagt, er wolle die «Abordnungskarawanen» stoppen.

Viele Gymnasiallehrer in Niedersachsen werden auch im neuen Schuljahr zumindest einen Teil ihres Dienstes an Grundschulen absolvieren müssen (Symbolbild). Foto: DALIBRI / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Viele Gymnasiallehrer in Niedersachsen werden auch im neuen Schuljahr zumindest einen Teil ihres Dienstes an Grundschulen absolvieren müssen (Symbolbild). Foto: DALIBRI / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Wie sieht eine Abordnung praktisch aus?

Für einzelne Lehrer bedeutet das, dass sie im kommenden Schuljahr zeitweise in anderen Schulen eingesetzt werden. Ein Beispiel: Ein Studienrat sollte ursprünglich einen Politik-Leistungskurs in der Oberstufe übernehmen. Stattdessen wird er für zehn Stunden an eine Oberschule abgeordnet. Dort unterrichtet der Gymnasiallehrer hauptsächlich Werte und Normen – ein Fach, das er gar nicht studiert hat. Lehrer können auch in einem größeren Umfang abgeordnet werden.

Wie erfahren die Schulen davon, wie viel Stunden sie abgeben müssen?

«In der Regel ist für uns zunächst der Schulleiter der Ansprechpartner», sagt die Sprecherin der Landesschulbehörde Bianca Schöneich. Der Schulchef entscheide dann, wen er für jeweils wie viele Stunden an eine andere Schule schickt. Einige Schulen führen Listen, in die sich die Lehrer vorher eintragen können. «Es ist immer zu begrüßen, wenn Kollegen das freiwillig machen», sagte Schöneich. An Ende müssten noch die Stundenpläne der Kollegen an beiden Schulen miteinander abgestimmt werden. Lehrkräfte sind dann etwa für einen Tag pro Woche oder an verschiedenen Tagen immer die ersten beiden Stunden an einer Schule und den Rest der Zeit unterrichten sie an ihrer Stamm-Schule.

Vor allem Gymnasien müssen Stunden abgeben. Welche Folgen hat das?

«Ich weiß von Gymnasien, die wegen der Abordnungen Klassen zusammenlegen müssen», sagte Horst Audritz, Vorsitzender des Philologenverbandes. Zudem werde es wieder dazu kommen, dass außerschulische Angebote wie etwa Musik-AGs ausfallen müssten. Das kritisiert auch die Geschäftsführerin des niedersächsischen Verbands der Elternräte der Gymnasien: «Man hat das Gefühl, hier wird mit Bildung jongliert», sagte Petra Wiedenroth. Gespart werden müsse an den Gymnasien wegen der Abordnungen auch beim Ganztagsangebot, der Inklusion und dem Förderunterricht. Auch der Schulleitungsverband Niedersachsen (SLVN) hält die Anforderungen für «kaum zumutbar», zumal die Schulleiter sich auch darum kümmern müssten, erzeugte Löcher durch Vertretungslehrer oder Streichen von Fächern zu stopfen, sagte SLVN-Geschäftsführerin Katharina Badenhop.

Verbessert sich denn die Versorgung an den anderen Schultypen?

Das ist umstritten. Torsten Neumann vom Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL/VDR) spricht von einem «Abordnungskarussell». «Die Haupt-, Real- und Oberschulen bekommen zwar Gymnasiallehrer, müssen dafür aber eigene Lehrer an Grundschulen abgeben.» Zudem komme ein abgeordneter Kollege oft nur an einem Tag in der Woche. «Er kann dann kein vier- oder fünfstündiges Hauptfach wie Mathematik unterrichten, selbst wenn er Mathelehrer ist», kritisierte Neumann. Hauptfächer werden dem Verbandschef zufolge an Haupt-, Real- und Oberstufen deshalb oft fachfremd unterrichtet, Nebenfächer wie Geschichte, Politik und Erdkunde fallen aus. «Die Unterrichtsversorgung an den Haupt-, Real- und Oberschulen ist definitiv schlechter geworden.»

Können Quereinsteiger das Problem verringern?

Zum Teil. Fakt ist: Der Seiteneinstieg als Lehrer wird immer beliebter. Im vergangenen Schuljahr fingen nach Angaben des Kultusministeriums 369 Quereinsteiger an niedersächsischen Schulen an. Zum Vergleich: Fünf Jahre zuvor waren nur 25 Lehrer aus anderen Berufen in Schulen gewechselt. Am Quereinstieg gibt es aber auch Kritik, weil die Kandidaten vorher kein Lehramtsstudium absolviert haben. Die Qualität des Lehrpersonals müsse dringend bewahrt werden, fordert etwa der VNL.

Wird die Lage sich in Zukunft verbessern?

Einige Verbände sind da skeptisch. «Die Zahl der Absolventen und die Zahl der Bewerber lässt nicht darauf hoffen, dass noch alle Stellen besetzt werden können», sagte Philologenchef Audritz. Zudem wird sich die Anzahl der Schüler ballen: «Wir erwarten ein Problem für 2020, weil es dann einen doppelten Abiturjahrgang gibt und noch mehr Lehrkräfte benötigt werden», erklärte die GEW-Landesvorsitzende Laura Pooth. Ihr zufolge gibt es an Gymnasien genügend Lehrer, an anderen Schulformen dagegen nicht. Ein Grund: Gymnasiallehrer werden besser bezahlt. «Das Problem lässt sich so lange nicht lösen, bis die Lehrer an allen Schulformen dieselbe Gehaltsstufe haben», betonte Pooth. (Christina Sticht und Kristina Wienand, dpa)

Auch im neuen Schuljahr wohl wieder viele Abordnungen in Niedersachsen

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