„30 Prozent der Jugendlichen sind digital abgehängt“: Warum Schulen jetzt Konzepte entwickeln müssen, wie sie das ändern wollen – ein Interview

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DÜSSELDORF. Digitale Bildung – was ist das überhaupt? Im vergangenen Jahr hat die KMK ihre Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ vorgelegt, die den Ländern einen gemeinsamen Kompetenzrahmen vorgibt. Ziel ist es, Schülern die notwendigen Schlüsselkompetenzen im Umgang mit Medien zu vermitteln. Die Konkretisierung dieses Plans erfolgt in den Ländern. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Das Land hat unlängst den „Medienkompetenzrahmen NRW“ herausgegeben – eine verbindliche Vorgabe für alle Schulen, ihre Curricula zu überarbeiten sowie eigene Medienkonzepte zu entwickeln. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Dies erläutert Prof. Birgit Eickelmann, Schulforscherin an der Universität Paderborn (und renommierte Digitalexpertin) im Interview.

„Die Idee, dass Kinder und Jugendliche, die in einer digitalen Welt aufwachsen, automatisch kompetent sind, hat sich leider nicht bewahrheitet.“ Foto: Shutterstock

Ein sicherer, kreativer und verantwortlicher Umgang mit Medien, das sind die wichtigen Ziele des Medienkompetenzrahmens NRW. Wozu brauchen Kinder und Jugendliche einen sicheren und kreativen Umgang mit digitalen Medien? Sie verbringen doch ohnehin schon viele Stunden am Tag damit.

EICKELMANN: Die Idee der digital natives, also die Idee, dass Kinder und Jugendliche, die in einer digitalen Welt aufwachsen, automatisch kompetent sind, hat sich leider nicht bewahrheitet. Das können wir in Studien, wie etwa der ICILS-2013-Studie (International Computer and Information Literacy Study) sehr gut aufzeigen: Nur sehr wenige Jugendliche (1,5 Prozent) können selbstständig, kreativ und verantwortungsvoll mit Technologie und digitaler Information umgehen.

Wir können auch zeigen, dass auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft etwa 30 Prozent der Jugendlichen digital abgehängt sind. Sie sind allenfalls in der Lage, einen Link oder eine E-Mail anzuklicken, den Kontrast eines Bildes zu verändern oder unter Anleitung und mit Hilfestellungen sehr einfache Veränderungen an Textdokumenten vorzunehmen. Schauen wir genauer hin, betrifft das vor allem Jugendliche aus Familien, die sozioökonomisch schlechter gestellt sind, vielfach auch Jugendliche mit Migrationshintergrund. Oft zeigt sich allerdings erst im Beruf, dass Jugendlichen die erforderlichen Medienkompetenzen fehlen. Das ist nicht nur für die Einzelnen ein Problem, sondern auch für eine Gesellschaft, in der der reflektierte Umgang mit Informationen immer wichtiger wird.

Wie kann nun der Medienkompetenzrahmen NRW dazu beitragen, Schülerinnen und Schüler angesichts zunehmender Kriminalität im Internet zu schützen?

EICKELMANN:Das ist eine interessante Frage und einer von den neuen Teilaspekten, die mit dem Medienkompetenzrahmen NRW aufgegriffen werden und die sicherlich von zunehmender Relevanz sind. Der Aspekt, den Sie ansprechen, ist hier im Bereich „Kommunizieren und Kooperieren“ als vierter Teilaspekt ‚Cybergewalt und Cyberkriminalität‘ direkt adressiert. Das klingt zunächst abstrakt, aber für viele Schulen ist beispielsweise ‚Cybermobbing‘ ein Thema, das sie konkret aufgreifen. Der von Ihnen angesprochene Bereich ist zudem einer, bei dem es wichtig ist, auch außerschulische Partner einzubeziehen. Experten der Polizei oder der Landeskriminalämter können in die Schule eingeladen werden, um mit Schülerinnen oder Schülern oder bei Elternabenden über Cyberkriminalität und Cybergewalt aufzuklären. Sie können aber auch im Rahmen des Politikunterrichts mit Schülerinnen und Schülern über Gefahren der gezielten Anbahnung von sexuellen Kontakten über das Internet (Cybergrooming) sprechen und deutlich machen, dass Cybergrooming oder Cybermobbing gar nicht so weit weg von ihrer Lebenswelt sind.

Auch in anderen Bereichen bietet sich die die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe oder mit Volkshochschulen an. Auch der Ganztag ist eine gute Gelegenheit, über Unterrichtsfächer hinweg, Themen projektartig aufzugreifen und Kooperationspartner hinzuzuziehen.

Für alle Bereiche gibt es von der Grundschule an Unterrichtseinheiten zu entwerfen, die Medienkompetenzförderung und fachliche Inhalte miteinander verbinden. Einige der im Medienkompetenzrahmen NRW angesprochenen Bereiche scheinen einfacher an Fächer anzubinden zu sein als andere. Eine Zukunftsaufgabe ist es, dass Schulen Konzepte entwickeln, Kompetenzen auch in den Bereichen systematisch zu fördern, die die Bereiche, wie sie auch schon im Medienpass NRW beschrieben waren, ergänzen. Hierzu gehört nicht nur der Bereich Cyberkriminalität, sondern auch die selbstregulierte Mediennutzug mit Beispielen zu unterfüttern, damit Lehrkräfte konkrete Ansatzpunkte haben. Die Medienberatung NRW hat dazu ein Online-Portal mit Unterrichtsbeispielen für alle Bereiche des Medienkompetenzrahmens entwickelt.

Wie lässt sich der Medienkompetenzrahmen zur Schulentwicklung einsetzen?

EICKELMANN:Hierfür liegt seit Juni 2018 eine klare Zielperspektive vor. Über eine E-Mail vom Ministerium wurden alle Schulen der Primarstufe und Sekundarstufe I informiert und auch verpflichtet, den Medienkompetenzrahmen NRW bis zum Schuljahr 2019/2020 in ein schulisches Medienkonzept zu überführen. Auf der Ebene der Einzelschule ist ein Konzept zu entwickeln, wie die 24 Teilkompetenzen konkret unterstützt werden können  ̶  und wie das Lernen mit digitalen Medien in den Unterrichtsalltag aller Fächer integriert und zur Selbstverständlichkeit werden kann. Schulen sind daher aufgefordert, Konzepte zu entwickeln, den Medienkompetenzrahmen NRW mit ihrem pädagogischen Leitbild zu verbinden. Eine Frage ist auch, was die neuen Entwicklungen für die Personal- und Fortbildungsplanung einer Schule bedeuten. Diese Prozesse sind genau genommen Schulentwicklungsprozesse. Hierbei benötigen die Schulen in den nächsten Jahren Unterstützung.

Und wie kann der Kompetenzrahmen zur Unterrichtsentwicklung beitragen?

EICKELMANN:Wichtig ist, dass man nicht nur eine einfache Zuordnung vornimmt und einen Teilbereich des Medienkompetenzrahmens NRW nur an ein einziges Fach anbindet. Das erscheint auf den ersten Blick verlockend. Wichtig ist die Multiperspektivität auf die einzelne Teilkompetenzen. Informieren und Recherchieren ist beispielsweise in vielen Fächern wichtig, es gibt aber unterschiedliche Perspektiven auf das Thema, beispielsweise was Informationsauswertung bedeutet. Erst aus der Summe der unterschiedlichen Blickwinkel auf die Kompetenzbereiche des Medienkompetenzrahmens NRW sowie den spiralförmigen Kompetenzaufbau über die Jahrgänge hinweg ergibt sich für die Schülerinnen und Schülern das Gesamtbild, das sie tatsächlich für das Lernen und Leben in einer digitalen Welt befähigt.

Welchen Stellenwert hat der Medienkompetenzrahmen NRW im Schulsystem?

EICKELMANN:Ich schätze seine Relevanz sowohl als pädagogische Orientierung als auch als Steuerungsinstrument sehr hoch ein. Er knüpft zunächst mit seinen Inhalten unmittelbar an die Vorarbeiten der Schulen und vor allem aber auch an die KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ an. Im Zuge der KMK-Strategie haben sich alle Bundesländer verpflichtet, Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Pflichtschulzeit, aber von der Primarstufe an kontinuierlich und systematisch durch die Institution im Bereich der Medienkompetenz zu fördern. Hier liegt mit dem Medienkompetenzrahmen NRW also die pädagogische und inhaltliche Orientierung für Schulen im Land vor.

Zudem kommt dem Medienkompetenzrahmen NRW eine Steuerungsfunktion im Schulsystem zu: Viele daran anknüpfende Entwicklungen sind oder werden derzeit auf den Weg gebracht. In diesem Jahr wird beispielsweise ein Lehrerkompetenzrahmen entwickelt. Dieser stellt, anknüpfend an den Medienkompetenzrahmen NRW, der ja zunächst die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler beschreibt, heraus, über welche Kompetenzen Lehrkräfte verfügen müssen, um einerseits Schule und Unterricht zukunftsfähig zu gestalten und andererseits die Kompetenzen aller Schülerinnen und Schüler zu fördern. Hieraus ergeben sich neue Aufgaben für die Lehreraus- und -fortbildung. Zudem bildet er die Grundlage für die Überarbeitung der Kernlehrpläne aller Fächer und Schulstufen bis zum Ende der Sekundarstufe I. Für die Berufskollegs nimmt er zudem die Funktion der Eingangsdiagnostik im Bereich Medienkompetenz ein, die dann in den Bereichen Medienkompetenz, Anwendungs-Know-how und informatische Grundbildung dort mit einem eigenen, für diese Schulform passenden Konzept vertieft und konkretisiert werden.

Die Digitalisierung geht rasant vor sich. Hat die Digitalisierung die Medienkompetenzentwicklung in Schulen nicht schon längst abgehängt?

EICKELMANN:Das ist eine wichtige Frage, die ich kürzlich auch im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestages erläutert habe. Wir befinden uns in einer Dilemma-Situation. Eigentlich bleibt das Schulsystem in der Entwicklung immer hinter der Entwicklung in der digitalen Welt zurück. Es gelingt uns kaum, Schritt zu halten. Man kann es mit der Metapher von Hase und Igel umschreiben: Man kommt an einem bestimmten Punkt an und stellt fest, dass die Entwicklung in der digitalen Welt schon darüber hinausgegangen ist. Das ist ein Problem, das sich mit der Digitalisierung originär verbindet.

Umso wichtiger ist es, dass ein Instrument wie der Medienkompetenzrahmen NRW über technologische Entwicklungen hinaus eine Zielperspektive formuliert, die zeitunabhängig nicht an bestimmte Unterrichtsbeispiele angebunden sind. Die Lernarrangements werden sich sicherlich in den nächsten Jahren ändern. Die Inhalte des Kompetenzrahmens werden aber noch in einigen Jahren bestehen bleiben. Das schließt nicht aus, dass diese nach einiger Zeit darauf hin überprüft werden müssen, ob sie noch zeitgemäß und umfassend genug sind. Deutlich wird aber auch: Die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung erfordern stärker als bisher eine lebenslange, berufsbegleitende Professionalisierung von Lehrkräften. Hier zeigt noch viel Entwicklungsbedarf, zumal wir wissen, dass sich Lehrkräfte in anderen Ländern deutlich häufiger fortbilden  ̶  und diese dann auch im Bereich der Kompetenzförderung erfolgreicher sind. So weit sind wir im Moment in Deutschland noch nicht. Hier müssen wir neue, attraktive und vor allem auch nützliche Fortbildungsangebote schaffen. Arnd Zickgraf führte das Interview / Klett-Themendienst

Hintergrund

Dr. Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung, Einsatz neuer Technologien in Lehr- und Lernprozessen und die Entwicklung von Schulsystemen und Lehrerbildung im 21. Jahrhundert. Neben mehreren nationalen Forschungsprojekten leitet sie für Deutschland die internationalen Vergleichsstudien ICILS 2013 und aktuell die Studie ICILS 2018, deren Ergebnisse im nächsten Jahr veröffentlicht werden.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

 

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2 Kommentare
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PeterPan314
5 Jahre zuvor

Ein sehr netter Artikel, der den hohlen Charakter der digitalen Bildung deutlich macht:
1. Auch wenn mal wieder vordergründig über Unterrichtsentwicklung und Zukunftsperspektiven gesprochen wird, geht es doch nur um rudimentäre Fähigkeiten und Fertigkeiten, die mit Unterricht nicht wirklich viel zu tun haben. Was für eine Art von Mehrwert für die Kinder im schulischen Sinne zu erwarten ist, bleibt offen. Der Unterricht wird nicht attraktiver oder effizienter, sondern nur überfrachteter.
2. Im Endeffekt soll der Unterricht mit weiteren Kompetenzen ge- oder besser überfüllt werden, die man unter zwei Aspekten zusammenfassen kann: Erziehung und Softwareumgang.
3. Schulen sollen Kooperationen eingehen und Projekte machen, damit die Kinder vor dem Einfluss und den schädlichen Möglichkeiten des Internets geschützt werden. Neben Verkehrserziehung, Mobbingprävention, Inklusion, sozialer Förderung, Berufsberatung und und und … soll eigentlich alles von den Schulen geleistet werden – das bisschen Unterricht und Bildung kommt so nebenbei.
3. Das Lernen von Bewerbungsanschreiben reicht ja heute auch nicht mehr. Da müssen die Kinder Internetrecherche (angemessenes „Googlen“), Text- und Datenverarbeitung (Word und Excel) und Präsentationstechniken (PowerPoint) lernen. Digitale Kompetenzen zur „Anwendung“ sollen den Unterricht prägen, was toll klingt, aber doch nur die Verwendung von Office und Google meint.
Wie das geschehen soll? Da gibt es Tipps und Hinweise zu.
4. Die Arbeit bleibt mal wieder an den Schulen und den Lehrkräften hängen. Diese erstellen die Konzepte, überarbeiten die Lehrpläne und bilden sich fort. Man lässt also wieder viel Papier beschriften und hofft aufs Beste. Die Verantwortung tragendie Menschen am Ende der Hackordnung: Die Lehrkräfte.
5. Wer PROFITiert ist auch klar: Neben den Anbietern von Hard- und Software freuen sich „Forscher“, die sich mit der Materie auseinandergesetzt haben – gefördert von Stiftungen und Organisationen (den Anbietern von Hard- und Software).
6. Natürlich kann man immer argumentieren, dass es zum Wohle der Jugendlichen ist, aber das reicht als Rechtfertigung für immer weitere Veränderungen am System Schule nicht aus. Dies gilt besonders, wenn deren Erfolg nicht zu erwarten ist und im Nachhinein nicht wirklich hinterfragt wird – oder wie sieht es bei der Inklusion aus, die immernoch finanziell und personell unterversorgt ist.
7. Die 30%, von denen in der Überschrift gesprochen wird, sind wohl nicht nur digital abgehängt. Bei mannigfaltigen Problemen, die bei Jugendlichen, die aus sozial schwachen und/oder bildungsfernen Elternhäusern stammen, bewirkt die Art von digitaler Bildung, wie sie im Interview dargestellt wird, nur symptomatische Änderungen – wenn überhaupt. Was bringt denn der Umgang mit Kontrasteinstellung oder Textgestaltung, wenn Noten oder Umgangsformen mangelhaft sind? Was bringt eine ausgezeichnete Internetrecherche, wenn man unpünktlich oder unzuverlässig ist? Was bringen Präsentationstechniken, wenn man dem eigentlichen Unterrichtsinhalt nicht folgen kann oder möchte? Den besagten 30% ist nicht mit digitaler Bildung geholfen, wenn der Bildungserfolg der Eltern und deren Bildungsnähe immernoch über die Zukunft der Kinder entscheidet. Das möchten die Verantwortlichen aber nicht hören.
8. Im Endeffekt ist die Digitalisierung die neueste Version der eierlegenden Wollmilchsau für das deutsche Schulsystem. Sie liegt im Trend und bringt den Beteiligten (Forschern und Unternehmen) Geld, aber sowohl für Schüler als auch für Lehrkräfte ist sie leider bisher nur mit Mehraufwand, aber nicht mit Mehrwert ausgestattet.

xxx
5 Jahre zuvor
Antwortet  PeterPan314

Für die Schüler ist es tendenziell höchstens gleich viel Arbeit, weil der „Digitalunterricht“ unabhängig vom Fach weitere Stunden ohne tiefgehende Hausaufgaben sind. Ansonsten gebe ich Ihnen recht. Mir sind noch keine echt digitalen Unterrichtsinhalte, -methoden und -medien bekannt, die nennenswert über oberflächliches Googlen, Trainingsaufgaben zur Reproduktion, Multimedia um der Multimedia wegen und Spaß hinausgehen. Ja, Schule muss nicht unbedingt Spaß machen, Freude vielleicht, aber nicht zwingend.