Experten: NRW-Regierung tut zu wenig für Alphabetisiserung

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DÜSSELDORF/MÜNSTER. Was den Analphabetismus betrifft ist das Schulsystem leistungsfähiger geworden, bescheinigen Experten. Die Zahl der funktionalen Analphabeten geht zurück. Dennoch leben in NRW nach Schätzungen immer noch rund 1,36 Millionen Menschen, die zwar ihren Namen schreiben können, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen.

Etwa jeder achte Erwachsene in Nordrhein-Westfalen kann nach Schätzungen nicht richtig Deutsch lesen und schreiben. Insgesamt werde die Zahl der sogenannten funktionalen Analphabeten im bevölkerungsreichsten Bundesland auf 1,36 Millionen Menschen geschätzt, sagte Tim Henning vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.

Nicht lesen zu können, schließt Menschen auch von großen Teilen der digitalen Welt weitgehend aus. Foto: Perfecto_Capucine / Pixabay (P. L.)

Der Bundesverband warf der Landesregierung vor, zu wenig für diese Menschen zu tun. Die hohe Zahl von funktionalen Analphabeten in NRW sei ein «unhaltbarer Zustand».

Die Betroffenen können zwar ihren Namen und einzelne Sätze schreiben, aber keine längeren zusammenhängenden Texte verstehen. Damit werden alltägliche Dinge wie Bedienungsanleitungen, Automaten oder Fahrpläne zu Herausforderungen.

Abgeleitet haben die Experten die Schätzungen für NRW aus der kürzlich veröffentlichten LEO-Studie, wonach bundesweit 6,2 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren nur über geringe Lese- und Schreibfähigkeiten verfügen (News4teachers berichtete). Von den Betroffenen hätten mehr als die Hälfte (52,6 Prozent) als Muttersprache Deutsch.

Insgesamt ist die Zahl der funktionalen Analphabeten in NRW aber zurückgegangen. So war die Zahl 2010 noch auf 1,63 Millionen geschätzt worden. Auch der Anteil innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung sei in den vergangenen acht Jahren von 14,5 Pozent auf 12,1 Prozent gesunken. «Dies spricht dafür, dass unser Schulsystem leistungsfähiger geworden ist als es in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war», sagt Henning.

Dennoch hätten allein 2018 noch 11 500 Schüler die Schulen in NRW ohne Hauptschulabschluss verlassen und gehörten damit zur «Hochrisikogruppe». Zudem würden lediglich an 75 der landesweit 133 Volkshochschulen Kurse für nachholende Grundbildung angeboten. Die Kurse müssten je nach Kommune noch von Teilnehmern mitfinanziert werden. «Insbesondere im ländlichen Raum finden Betroffene, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen, gar keine Angebote.»

Kritik übte Henning an der Landesregierung. Das Land müsse für flächendeckende und kostenfreie Grundbildungskurse sorgen. Die Strukturen in der Grundbildungsarbeit müssten verbessert werden. So sei etwa das Alphanetz NRW mit nur einer Person als Koordinator für das ganze Bundesland unterbesetzt. Andere Bundesländer seien mit Grundbildungszentren als ersten Anlaufstellen für Betroffene besser ausgestattet als NRW, heißt es in Expertenkreisen. Die Landesregierung NRW müsse «wesentlich mehr Mittel bereitstellen, um im Bundesländervergleich nicht den Anschluss im Bereich der nachholenden Grundbildungsarbeit zu verlieren», sagte Henning.

Das Alphanetz NRW mit rund 130 Mitgliedern will Betroffene durch neue Zugänge sowie Beratungs- und Kursangebote erreichen. Dafür sind regionale und lokale Netzwerke entstanden. Schirmherr ist Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).

Nach Angaben des Wissenschaftsministeriums bekommen Volkshochschulen und andere Einrichtungen jährlich insgesamt 3,7 Millionen Euro für zusätzliche Deutschkurse. Darin eingeschlossen seien auch Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse. Für NRW existierten «keine verlässlichen Zahlen» zum Analphabetismus, hieß es weiter.

Am heutigen Sonntag wird der Weltalphabetisierungstag begangen. Weltweit gibt es nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 750 Millionen Analphabeten. (dpa)

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Carsten60
3 Jahre zuvor

Es wird doch oft geklagt über jene 20 % Risikoschüler, die die Schule als „funktionale Analphabeten“ verlassen. Vielleicht ist es ganz interessant, dass in der Schweiz ähnliche Probleme bestehen, obwohl die Schweiz bei PISA schon lange viel besser ist als Deutschland. Ein altgedienter Lehrer berichtet:
„… der skandalöse Prozentsatz von fast einem Fünftel der Schülerinnen und Schüler, die unsere Schule als Illetristen verlassen, das heisst, dass sie kaum einen Text lesen oder schreiben können.“ Quelle (der Satz steht ganz am Schluss und bezieht sich sowohl auf deutschsprachige wie französischsprachige SuS):
https://condorcet.ch/2021/02/die-bieler-schulen-kulturelle-unterschiede-und-gemeinsame-probleme