Bildungsforscherin McElvany: „Bildungsungerechtigkeit ist ein hoch aktuelles Thema“

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DORTMUND. Studien wie IGLU oder PISA zeigen es immer wieder: Bildungserfolg hängt, insbesondere in Deutschland, stark von der Herkunft der Lernenden ab. Im Zuge des 5. Dortmunder Symposiums der Empirischen Bildungsforschung haben sich daher europäische Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit dieser Problematik ausführlich befasst. Professorin Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin am Institut für Schulentwicklungsforschung und Organisatorin des Symposiums, spricht im Interview mit news4teachers.de über die verschiedenen von Bildungsungerechtigkeit betroffenen Gruppen und mögliche Maßnahmen, das Bildungssystem fairer zu gestalten.

Ein Ergebnis des Symposiums: Bildungsungerechtigkeit betrifft unterschiedliche Gruppen und muss daher auf verschiedenen Ebenen angegangen werden. Foto: Wilson Dias/ABr / Wikimedia Commons (CC BY 3.0 BR)

News4teachers: Das diesjährige Dortmunder Symposium der Empirischen Bildungsforschung hat sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Bildungsgerechtigkeit befasst. Was ist Ihr abschließendes Fazit der interdisziplinären Veranstaltung?
McElvany: Die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven, die vertreten waren, haben ganz eindeutig gezeigt: Es gibt nicht den einen Weg, um gegen Bildungsungerechtigkeit wirksam anzugehen, sondern es wird immer ein Bündel von Maßnahmen nötig sein. Zum einen folgt dieser Schluss daraus, dass unterschiedliche Gruppen von Bildungsungerechtigkeit betroffen sind, zum anderen daraus, dass es sich um ein komplexes Problem handelt, das eben nicht mit einer einfachen Maßnahme gelöst werden kann.

News4teachers: Welche Gruppen sind das, die von Bildungsungerechtigkeit betroffen sind?
McElvany: Eine große Gruppe, die in Deutschland ja auch schon seit längerer Zeit thematisiert wird, ist die Gruppe der Kinder mit ungünstigem sozioökonimischem Familienhintergrund. Wir sehen immer wieder in den großen Leistungsstudien wie IGLU oder PISA, dass es zwischen mehr oder weniger privilegiert aufwachsenden Kindern große Unterschiede im Kompetenzerwerb gibt. Das gleiche gilt für Kinder mit einem familiären Migrationshintergrund: Diese sind beispielsweise im Vergleich zu ihrem Anteil am Gesamtjahrgang auf dem Gymnasium deutlich unterrepräsentiert. Aber auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die überproportional häufig keinen Schulabschluss erreichen, sind von Bildungsungerechtigkeit betroffen. Je nach Fach spielt bei der Frage nach der Bildungsgerechtigkeit auch das Geschlecht eine Rolle. Und schon allein an dieser Aufzählung wird deutlich, dass es für diese unterschiedlichen Gruppen keine einheitliche Lösung geben kann, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Das ist auch ein Ergebnis der Veranstaltung gewesen: Es geht eben nicht darum, Ungleiches gleich zu behandeln. Die Kinder kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen an die Schulen und brauchen deshalb auch unterschiedliche Unterstützungsangebote.

IFS-Leiterin Nele McElvany arbeitet mit ihrem Institut unter anderem an Konzepten, wie Schulen der Bildungsungerechtigkeit begegnen können. Foto: IFS

News4teachers: Sie sprachen davon, dass ein Bündel an Maßnahmen nötig ist, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen: Welche wären das im Speziellen?
McElvany: Es sind Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen notwendig. Professor Leonidas Kyriakides von der Universität Zypern hat im Zuge des Symposiums dafür argumentiert, dass die Schulen und Lehrkräfte eine entscheidende Rolle spielen. Sinnvolle Ansatzpunkte seien die aktive Schulentwicklung und entsprechende Förderangebote für die Schülergruppen, die von Ungerechtigkeit im Bildungssystem betroffen sind.
Ebenfalls diskutiert worden und sehr relevant ist der Befund, dass der soziale Hintergrund eines Kindes auch über die Schulformempfehlung nach der vierten Klasse mitentscheidet. Während das Kind des Professorenehepaares mit gemischten Noten im Fall der Fälle noch eine Gymnasialempfehlung bekommt, wird sie dem Arbeiterkind im selben Fall – sicher auch vielfach aus einem Schutzgedanken heraus – eher verwehrt. In diesem Punkt müssen Lehrkräfte sicher auch nochmal sensibilisiert werden.
Professorin Birgit Spinath von der Universität Heidelberg verwies als Psychologin auf die individuellen Merkmale, die unterstützt werden sollten. Ähnlich Professorin Zander aus Berlin, die im Publikum saß und auf die Rolle der sozialen Eingebundenheit hingewiesen hat. Dass es für die Kinder, für ihre Motivation wichtig ist, dass sie sich in der Schule angenommen und von den Peers sowie den Lehrkräften sozial positiv akzeptiert fühlen.
Professor Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, hat die strukturelle Perspektive von der Schule auf die Kindergärten ausgeweitet. Er hat sehr nachdrücklich dafür argumentiert, dass die Förderung bereits deutlich vor der Schule ansetzen muss, wenn man Ungleichheiten ausgleichen möchte oder ihnen zumindest begegnen will. Demnach ist es notwendig, Kindergarten anders zu denken, die Zeit neben anderem eben auch als Vorbereitung auf die Schule anzusehen – gerade für die erwähnten benachteiligten Gruppen. Dafür ist einerseits ein Umdenken bei den Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern notwendig, andererseits aber auch eine entsprechend angepasste Ausbildung. Letzten Endes ist das dann wiederum auch eine Frage für Politik und Verwaltung: Inwieweit sind diese bereit, solche Fachkräfte zu bezahlen?
Die zentralen Punkte, an denen angesetzt werden sollte, sind also: die Frühförderung, die individualisierte Förderung in den Schulen sowie strukturelle Maßnahmen rund um den Unterricht.

News4teachers: Neben dem interdisziplinären Austausch verfolgt das IFS mit dem Symposium auch das Ziel, Ansatzpunkte ausfindig zu machen, die zur Lösung der Problematik weitere Forschung benötigen. Welchen Inhalten werden Sie sich mit Ihrem Institut in Zukunft widmen?
McElvany: Wir arbeiten anhand der Erkenntnisse, die wir darüber haben, welche Faktoren zur Bildungsungerechtigkeit beitragen, an Konzepten, wie man ihnen begegnen kann. Das können beispielsweise Maßnahmen sein, die den Unterricht betreffen, wie die Lese- und Sprachförderung, von der sowohl Kinder mit Migrationshintergrund als auch Kinder mit ungünstigem familiären Hintergrund profitieren können. Und wir entwickeln Konzepte, wie sich Schulen weiterentwickeln können und weiterentwickeln müssen, um der Bildungsungerechtigkeit zu begegnen. Eine Studie, mit der wir uns verstärkt darauf konzentrieren wollen, ist die IGLU-Studie, die die Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit erfasst und damit die Voraussetzungen für das weitere Lernen. Ab 2021, wenn die nächste IGLU-Studie im Feld ist, wollen wir das erste Mal ein Schulpanel realisieren. Schulen, die 2016 schon einmal befragt worden sind, werden dann wieder teilnehmen und wir werden untersuchen, welche Entwicklungen es gab.

News4teachers: Welche Erkenntnis haben sie persönlich aus dem Symposium für sich mitgenommen?
McElvany: Dass Bildungsungerechtigkeit weiterhin ein hoch aktuelles Thema in Deutschland ist und dass es sehr viel Sinn macht, bei der Lösungssuche die verschiedenen Perspektiven einzubeziehen.

Anna Hückelheim führte das Interview.

Ausblick auf das Symposium 2020
Im kommenden Jahr findet das Dortmunder Symposium der Empirischen Bildungsforschung bereits zum sechsten Mal statt. Am 9. Juli 2020 stehen unter dem Titel „Optimierung schulischer Prozesse – What works?“ Herausforderungen und Chancen von Interventionsforschung in der Empirischen Bildungsforschung im Mittelpunkt sowie Implikationen für die Bildungspraxis. Keynote Speaker ist Professor Dr. Ulrich Trautwein von der Eberhard Karls Universität Tübingen. Eine Anmeldung ist bereits online möglich.


Das IFS im Überblick
Das interdisziplinäre Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund ist als Forschungseinrichtung an der Schnittstelle von Wissenschaft, schulischer Praxis und Politik angesiedelt. Die durch vier Professuren und rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gestalteten Forschungsbereiche des Instituts arbeiten zu aktuellen Themen im Bereich der Empirischen Bildungsforschung mit dem Ziel, schulische Lern- und Entwicklungsprozesse, Schulentwicklung und Bildungsergebnisse im Kontext ihrer individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen zu erfassen, zu erklären und zu optimieren. Das IFS trägt mit seiner Arbeit wesentlich den Profilbereich Bildung, Schule und Inklusion der TU Dortmund mit.

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1 Kommentar
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xxx
4 Jahre zuvor

Wieso habe ich den Eindruck, dass die Professorin männliche Schüler ohne Migrationshintergrund als Wurzel allen Übels ansieht?

Interessant ist übrigens ihr Mitarbeiterstab an der TU Dortmund. Eine Männerquote ist da zwingend geboten.