Lernen mit Virtual-Reality-Brille: Wie viel Potenzial steckt in der Technik?

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FULDA. Ob das Kuppeln von Waggons oder das Anfahren einer Kreiselpumpe – viele Arbeitsschritte werden Azubis heutzutage mit Virtual-Reality-Brillen vermittelt. Das Üben in der Realität ersetzt das aber dennoch nicht.

Für den Unterricht bieten digitale Medien breite Anwendungsmöglichkeiten – bis hin zur „augmented reality“, der erweiterten Realität. Foto: Shutterstock

Die Digital-Technik macht’s möglich: Stephan Schmöle soll üben, Güterwaggons aneinander zu kuppeln. Normalerweise müsste sich der 29 Jahre alte Neueinsteiger bei der Deutschen Bahn (DB) aufs Gleis begeben. Doch stattdessen setzt Schmöle im neu eröffneten Trainingszentrum der Bahn im hessischen Fulda eine Virtual-Reality-Brille auf und nimmt zwei Controller in die Hand, mit denen er das Geschehen steuert. Sein Lernbegleiter Christian Dorn von DB Training startet am Computer das Szenario und verfolgt am Bildschirm jeden Handgriff in der virtuellen Welt.

Der Einsatz von VR-Brillen ist nicht nur im Sektor der Unterhaltungsmedien, vor allem in der Gaming-Szene, ein Riesenthema. Auch in der Aus- und Weiterbildung werden sie vermehrt eingesetzt, immer häufiger auch von Unternehmen in Rheinland-Pfalz wie dem Ludwigshafener Chemieriesen BASF. Konkret kommen hier VR-Brillen seit vergangenem Jahr in der Chemikanten-Ausbildung zum Einsatz.

Es muss nicht immer an echten Ausbildungsanlagen trainiert werden

Geübt wird beispielsweise das Anfahren einer Kreiselpumpe. Die Azubis sehen mit der Brille ein virtuelles Abbild der Pumpe, so wird der innere Aufbau der Gerätschaft verständlicher, und es muss nicht immer an echten Ausbildungsanlagen trainiert werden. Ein nächster Schritt soll laut BASF für die zentrale Ausbildung im Konzern die Realisierung einer kompletten Produktionsanlage in der virtuellen Welt sein.

BASF bezeichnet VR- und Hololens-Brillen als ergänzende und unterstützende Elemente. «Der Einsatz in den Technika und in den Werkstätten sind weiterhin ein wesentlicher Teil in der Ausbildung der jungen Menschen.» Hololens-Brillen sind Brillen für die sogenannte Mixed Reality. Über die Einblendung virtueller Dinge in die reale Umgebung soll sich das Brillenmodell von Microsoft in Unternehmen außer in der Ausbildung auch in der Fertigung sowie im Service bewähren.

BASF setzt die Hololens-Technologie seit 2018 in der Industriemechaniker-Ausbildung ein – Montage, Demontage und Instandsetzung einer Pumpe sollen noch besser vermittelt werden. Der Pumpenaufbau, Erklärungen zu einzelnen Arbeitsschritten oder auch Hintergrundinfos etwa zu Dichtungen oder Lagern werden in das Blickfeld der Azubis eingeblendet, gearbeitet wird an realen Pumpen.

„Die Technologie hat großes Zukunftspotenzial“

IT-Fachmann Ludger Schmidt sagt zu VR-Brillen: «Die Technologie hat großes Zukunftspotenzial und wird sicher in den kommenden Jahren ein immer bedeutenderes Thema. » Der Universitätsprofessor leitet in Kassel das Fachgebiet Mensch-Maschine-Systemtechnik. Derzeit befänden sich Anwendungen mit VR-Brillen in der Berufswelt «noch eher am Anfang der Entwicklung». Die Brillen seien zwar bezahlbar und kosteten unter 1000 Euro in höchster Qualität. Aber die am Computer erschaffenen Szenarien seien noch recht kostspielig. Die Einsatzmöglichkeiten sind ihm zufolge vielfältig. Handwerker können virtuell üben und Fachkräfte im Produktionsbereich angelernt werden.

Die VR-Technik ermöglicht, sich jederzeit virtuell an einen anderen Ort zu bringen – so wie DB-Mitarbeiter Schmöle. Er sieht durch die VR-Brille seine Aufgabe an den Güterwaggons. Nun heißt es: einhaken, ankurbeln, Bremsschläuche verbinden und belüften. Dabei hört er über seine Kopfhörer auch, wie der Luftdruck zischend entweicht. Als er fertig ist und die Brille abgezogen hat, sagt er: «Das war echter als gedacht. Es hat sich sehr real angefühlt.»

Christian Dorn, Projekt-Manager für digitale Lernmedien der DB in Frankfurt, sagt: «Der Einsatz von VR-Technik ist ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis. Wir wollen dadurch noch mehr Handlungssicherheit herstellen.» In den Trainingszentren kann auch geübt werden, wie Weichen zu stellen sind oder wie die Reparatur eines ICE-Stromabnehmers funktioniert. Das Üben mit VR-Technik kommt für einige Bahn-Berufe infrage, für Fahrdienstleiter, Wagenmeister, Triebfahrzeugführer und Elektroniker der Betriebstechnik.

Seit drei Jahren sammele die Bahn Erfahrungen mit der VR-Technik im Schulungsbetrieb, erklärt Dorn. Bis Mitte Februar sollen bundesweit 14 Standorte mit mobiler VR-Technik ausgestattet werden, wie Projekt-Manager Dorn erklärte. Im kommenden Jahr sollen einige hundert Mitarbeiter mit VR-Szenarien trainiert werden. Die VR-Technik ist ein Baustein für ein größeres Projekt. DB-Personalvorstand Martin Seiler sagte dazu vor kurzem: «Die DB erhöht gerade ihre Kapazitäten in der Aus- und Weiterbildung massiv.» Im Zuge der Zukunftsstrategie «Starke Schiene» will die Bahn in den nächsten Jahren 100 000 Mitarbeiter einstellen. Die wollen auch qualifiziert werden.

Interaktive Reise durch den menschlichen Körper

Auch viele andere Branchen und Firmen nutzen die Techniken VR und AR (Augmented Reality, sprich: erweiterte Realität) mittlerweile rege, Unternehmen von Weltrang haben sie für sich entdeckt. Siemens nutzt die Technik zur Entwicklung von Automobilbestandteilen, Daimler bei der Brandschutzausbildung und Thyssenkrupp bei Wartungsanleitungen.

Bei Boehringer Ingelheim werden VR und AR ebenfalls an vielen Ecken benutzt. Das Spektrum reicht von virtuellen Meetings bis hin zu Recruiting-Maßnahmen zur Personalgewinnung. Auf Jobmessen können sich Interessierte mit VR-Brillen ein Video anschauen samt interaktiver Reise durch den menschlichen Körper. Erklärt wird beispielsweise, was ein forschendes Pharmaunternehmen macht, wie Medikamente im Körper wirken, was Diabetes ist und welche Folgen diese habe kann. Auch die Planung einer neuen Produktionsstätte am Heimatstandort Ingelheim, in der zum Beispiel Krebsmedikamente in kleinsten Größen individuell für den Patienten entstehen sollen, geschieht mit Hilfe von VR-Brillen.

Im medizinischen Bereich berichtet die Uni Gießen von Kursen für Studierende zu rheumatischen und osteologischen Erkrankungen. Die Teilnehmer tragen VR-Brillen und erkunden dabei die gesunde Anatomie und entzündliche Erkrankungen, indem sie virtuelle Rundgänge durch die Knochen machen. Katharina Rönick, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt, nennt weitere Anwendungen in der Medizin. Mit VR-Brillen könnten Operationen geübt werden. Auch sie sieht «großes Potenzial» für die Technik. Doch bei einer Studie sei auch herausgekommen, dass es bei längerer Tragezeit zu Belastungen und Augenschmerzen kommen könne. Darüber hätten einige Probanden geklagt. Technik und Tragekomfort seien noch ausbaubar. Von Jörn Perske und Christian Schultz, dpa

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