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SPD-Bildungsminister konferieren mit Ärzte-Lobbyisten. Ergebnis: “Corona für Kinder ungefährlicher als Grippe” – Abstand im Unterricht unnötig

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HAMBURG. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) will die Grundschulen in der Hansestadt nach den Sommerferien wieder normal öffnen. Auch die Klassenstufen 5 und 6 könnten wieder regulären Unterricht erhalten. „Führende“ Wissenschaftler hätten ihm und anderen Bildungsministern in einer dreistündigen Videokonferenz versichert, dass das Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen „deutlich geringer und ungefährlicher“ sei als bei Erwachsenen. Und wer sind diese „führenden Wissenschaftler“, die plötzlich genau wissen wollen, was seit Monaten Forscher weltweit zu ergründen versuchen? Recherchen von News4teachers zeigen: Es sind Vertreter von Ärzteverbänden, die schon vor drei Wochen versucht haben, mit einer politischen Stellungnahme Druck hin zu schnellen und weitgehenden Schulöffnungen zu machen.

Plötzlich überzeugt: Ties Rabe ist Hamburger Bildungssenator und Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland. Foto: Senatskanzlei Hamburg / Michael Zapf

„Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden“ – und zwar ohne massive Einschränkungen. Es müssten keine kleinen Gruppen gebildet werden. Auch bräuchten die Kinder weder Abstand wahren noch Masken tragen, so hatten in einer gemeinsamen Stellungnahme die Deutsche Gesellschaft für
Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland am 18. Mai erklärt.

„Entscheidender als die individuelle Gruppengröße ist die Frage der nachhaltigen Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmischungen“, hieß es in dem Papier. Soll heißen: Es könnte durchaus eine komplette Klasse unterrichtet werden, solange man etwa in den Pausen darauf achtet, dass sich die Schüler in der Pause dann nicht mit anderen Klassen treffen. Sachsen war das erste Bundesland, das diesem Papier entsprach. Andere wie Nordrhein-Westfalen folgen in den nächsten Tagen.

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Drosten: Keine wissenschaftliche Grundlage für Schulöffnungen

Widerspruch kam allerdings prompt – von Deutschlands renommiertesten Virologen. Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité etwa stellte klar: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für weitere Öffnungen von Kitas und Schulen (News4teachers berichtete ausführlich darüber – hier geht es hin). Die Interpretation der wissenschaftlichen Daten der vier medizinischen Gesellschaften teile er nicht, betonte Drosten. So hätten die Autoren der Stellungnahme wichtige Elemente der von ihnen zum Beleg zitierten Arbeiten nicht erwähnt. Er selbst legte unlängst noch eine Neufassung einer eigenen Studie zum Thema vor. Ergebnis: Es gebe keine Hinweise darauf, dass Kinder in Bezug auf Sars-CoV-2 nicht genauso ansteckend seien wie Erwachsene.

Auch der Bundesgesundheitsminister mag keine Entwarnung geben. „Die Wahrheit ist, dass wir aktuell eine Studienlage haben, die keine echten Schlüsse zulässt, inwieweit Kinder zur Verbreitung des Virus beitragen“, erklärte Jens Spahn (CDU) am 27. Mai gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“. „Da gibt es sehr unterschiedliche Bewertungen – und das macht es besonders schwer, politische Entscheidungen zu treffen.“

Ärzte-Verbände: Ansteckungen in der Schule unwahrscheinlich

Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) ist es aber offenbar nun leichtgefallen (wie vor ihm schon einigen anderen Bildungsministern), Schulöffnungen ohne Abstandsregel anzukündigen. „Die Wissenschaftler haben überzeugend deutlich gemacht, dass insbesondere Kinder von der Pandemie kaum betroffen sind und es an der Zeit ist, die Schulen für Kinder wieder zu öffnen. Nach diesem Gespräch bin ich sehr sicher, dass Hamburg nach den Ferien an allen Grundschulen zum Regelunterricht zurückkehren wird“, sagte Rabe nach der Konferenz.

News4teachers liegt die Teilnehmerliste der Videokonferenz vor. Namhafte Virologen sind darauf nicht zu finden. Mediziner schon – und zwar genau die Verbandsvertreter, die schon vor drei Wochen versucht hatten, politisch Stimmung für schnelle Schulöffnungen zu machen: Prof. Dr. Martin Exner und Dr. med. Peter Walger (Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene), Dr. Thomas Fischbach (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte), Prof. Dr. Jonas Schmidt-Chanasit (Arbeitsgruppenleiter Molekularbiologie und Immunologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin) und Prof. Dr. med. Johannes Hübner (Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie). Wissenschaftler, die ihrer Position widersprochen hatten, waren nicht eingeladen worden.

Die ohne eigene Forschung gewonnenen Erkenntnisse der Ärzte-Lobbyisten lauten einer Zusammenfassung der Hamburger Schulbehörde zufolge: „Im Vergleich zu Erwachsenen infizieren sich jüngere Menschen seltener. Entscheidend aber ist, dass sie die Krankheit kaum auf andere übertragen würden. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, weil die Schließung der Schulen vor allem damit begründet wurde, dass Kinder sich über ihre Schulkontakte infizieren und dann die Krankheit an ihre Eltern und Verwandten zu Hause übertragen könnten. Das Gegenteil scheint der Fall: Die Wissenschaftler verwiesen darauf, dass sich viele Kinder eher bei Erwachsenen in der Familie anstecken als umgekehrt. Auch eine Ansteckung bei anderen Kindern sei eher unwahrscheinlich.“

Und: „Aus Sicht der Wissenschaftler gab es keine Hinweise darauf, dass Schulen und der Unterricht Szenarien mit erhöhter Ansteckungsgefahr – sogenannte Hyperspreader Events – darstellten.“ Auch über den Krankheitsverlauf nach einer Infektion wissen die Mediziner offenbar auch schon genau Bescheid, obwohl dazu fast täglich neue wissenschaftliche Befunde veröffentlicht werden (wie hier berichtet): „Corona ist für Kinder und Jugendliche ungefährlicher als die Grippe“, so wusste Rabe zu berichten, der seine sozialdemokratischen (und einen Linken) Amtskollegen zu der Videokonferenz gebeten hatte.

Lauterbach: Das Beispiel Israel zeigt, was Schulen droht

Pikant: Noch in dieser Woche, in der Sendung „Markus Lanz“, hatte der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Karl Lauterbach, selbst Epidemiologe von Beruf, das Papier der Ärzteverbände als „gut gemeint“, aber wissenschaftlich nicht haltbar bezeichnet (News4teachers berichtete groß über die bemerkenswerte Sendung – hier geht’s hin.

Lauterbach machte deutlich: Dass derzeit kein gefährliches Infektionsgeschehen in den Schulen zu beobachten sei, sei eine Folge des gesellschaftlichen Lockdowns in den vergangenen Monaten. Weil die Lage außerhalb der Schulen weitgehend ruhig sei, gelte das auch innerhalb der Schulen. Wenn die Lockerungen aber dazu führten, dass in den nächsten Wochen und Monaten sich wieder vermehrt Menschen mit dem Coronavirus ansteckten, dann werde das auch in die Schulen hineingetragen – und dort ungebremst weiterverbreitet, wenn es dort keinen ausreichenden Schutz gebe. Und der werde ja gerade abgebaut.

Was dann passiere, lasse sich aktuell in Israel beobachten. Am vergangenen Wochenende verzeichnete das Land den höchsten Stand der Neuinfektionen seit den umfangreichen Lockerungen vor gut einem Monat. Infektionsherde: die Kitas und Schulen, die dort nun – nachdem sie ähnlich wie derzeit in Deutschland plötzlich wieder ohne Beschränkungen geöffnet worden waren – reihenweise wieder schließen müssen.

Diese Position war auf dem Treffen der SPD-Bildungsminister allerdings nicht zu hören. Der Gesundheitsexperte aus den eigenen Reihen war offenbar zu der Videokonferenz nicht eingeladen worden. News4teachers

Hintergrund

An der Videokonferenz mit den Ärzteverbänden nahmen vor allem Vertreter der SPD-geführten Bildungsministerien teil – mit einer bemerkenswerten Ausnahme:

  • Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD)
  • Stefanie Hubig (SPD, Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz und KMK-Präsidentin)
  • Britta Ernst (SPD, Bildungsministerin von Brandenburg),
  • Sandra Scheeres (SPD, Bildungssenatorin von Berlin),
  • Claudia Bogedan (SPD, Bildungssenatorin von Bremen),
  • Grant Hendrik Tonne (SPD, Kultusminister von Niedersachsen),
  • Christine Streichert-Clivot (SPD, Bildungsministerin des Saarlandes),
  • Steffen Freiberg (SPD, Bildungsstaatsekretär von Mecklenburg-Vorpommern),
  • Helmut Holter (Linke, Bildungsminister von Thüringen).

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Faktencheck: Kinder als Überträger des Coronavirus – Stand der Forschung

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