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Warum Montessori-Pädagogik aufzeigt, wie die Zukunft des Lernens aussieht – ein Interview

DÜSSELDORF. Im Fernunterricht kommt es darauf an, die Schülerinnen und Schüler zum selbsttätigen Lernen anzuleiten – ein Ansatz, der eine entscheidende Rolle in der Montessori-Pädagogik spielt. Dr. Jörg Boysen ist seit 16 Jahren ehrenamtlich im Vorstand des Montessori Dachverbands Deutschland (MDD) tätig, seit sechs Jahren engagiert er sich als Vorsitzender. Im Interview mit News4teachers spricht er über mögliche Vorteile der Montessori-Pädagogik beim Lernen auf Distanz, über deren grundsätzliche Pluspunkte – und über die Initiative, einen neuen Montessori-Bundesverband zu gründen.

Selbstständiges entdeckendes Lernen steht bei der Montessori-Pädagogik im Mittelpunkt. Foto: Shutterstock

News4teachers: Im Fokus der Montessori-Pädagogik steht ja das selbstbestimmte Lernen der Kinder. Mit Blick auf den aktuell eingeschränkten Schulbetrieb in Deutschland und den damit verbundenen Fernunterricht: Glauben Sie, dass die Montessori-Pädagogik eine bessere Ausgangslage bietet, um auch auf Distanz erfolgreich lehren und lernen zu können?

Jörg Boysen (lacht): Jein, also ich denke, die Frage kann man in zwei Richtungen beantworten. Es ist natürlich erfreulich, wenn Lehrer, die gefragt werden, wie sie Fernunterricht organisieren, antworten, dass sie auf einmal „Montessori machen“, dass sie also die Unterstützung zum Selbstlernen damit in Verbindung bringen. Da lässt sich lediglich streiten, ob das wirklich Montessori ist. Wenn wir nun aber dahin kommen, dass das Distanzlernen auch in naher Zukunft bestehen bleibt, dann ist das natürlich eine Herausforderung.

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Zunächst sind Montessori-Schüler und -Schülerinnen selbstständiges Lernen gewohnt, und die Lehrkräfte flexibel in der Reaktion auf Schülerbedürfnisse. Das hilft schon enorm. Trotzdem beruht die Montessori-Pädagogik im Alltag unter anderem auf dem Kontakt zwischen Lehrkraft und Kind und zwischen den Kindern. Wenn das nur eingeschränkt möglich ist, dann müssen wir natürlich konzentriert überlegen, was das für die Umsetzung der Montessori-Pädagogik bedeutet. Das gilt natürlich nicht nur für Montessori-Einrichtungen, aber auch. Uns hilft das Konzept der vorbereiteten Lernumgebung, die ja nicht nur das Klassenzimmer oder die Schule umfasst. Man muss einfach kreativ sein.

News4teachers: Sehen Sie denn Montessori-Pädagoginnen und -Pädagoge im Vorteil, ihre Schülerinnen und Schüler über die Distanz zum selbständigen Lernen anzuleiten?

Nienhuis Montessori

Maria Montessori. Foto: Nienhuis Montessori

Kennen Sie Albert Nienhuis? Der niederländische Zimmermann stellte in enger Zusammenarbeit mit Maria Montessori Lernmittel her, die ihrer pädagogischen Vision entsprachen. 1929 gründete er Nienhuis Montessori, den weltweit führenden Anbieter von Montessori-Materialien.

Seit über 85 Jahren vereint das Unternehmen Handwerkskunst mit technischer Finesse. Die Produktwelt von Nienhuis Montessori ermöglicht es Kindern heute so gut wie zu Albert Nienhuis Zeiten, ihre Welt eigenständig zu erkunden. Wir nutzen nur beste Materialien, verarbeitet mit Sorgfalt, Hingabe, dem Blick fürs Detail – und einer tiefen Verbundenheit mit der Pädagogik Maria Montessoris. Seit Jahrzehnten bereits ist Nienhuis Montessori offiziell von der Association Montessori Internationale anerkannt.

Hier bekommen Sie weitere Informationen über Nienhuis Montessori.

Boysen: Ich bekomme ja nicht mit, wie andere Lehrkräfte reagieren, insofern fehlt mir der Vergleich. Was wir aber gemacht haben: Wir haben bereits im März begonnen, wöchentlich Videokonferenzen zu organisieren – bundesweit für alle interessierten Montessori-Erzieher, -Erzieherinnen sowie Lehrkräfte an Grundschulen und Sekundarschulen. Da waren manchmal zwanzig, dreißig, vierzig Teilnehmer dabei aus allen Teilen der Republik, die sich ausgetauscht haben. Auch gab es global angelegte virtuelle Treffen mit hunderten von Montessori-Pädagogen, um Erfahrungen auszutauschen.

Mein Eindruck ist, dass jemand, der eine Montessori-Qualifikation hat, der versteht, wie Montessori-Pädagogik umzusetzen ist und auf welchen Lerngrundlagen von Kindern die Methoden basieren, kreativer mit der Situation umgehen kann. Es geht ja um mehr als nur ums Rechnen- und Schreibenlernen – man kann den Kindern vielfältige Vorschläge machen, wie sie auch zu Hause die Welt entdecken können.

Damit sie solche Aufgaben aber auch voranbringen, ist es notwendig zu wissen: Wo steht das Kind? Und das ist wieder ein Attribut von Montessori-Pädagogen. Und je mehr man über das Kind weiß und wo es steht, desto leichter ist es dann, in so einer Situation wie jetzt, es individuell zu unterstützen. Insofern glaube ich, dass das Distanzlernen für Montessori-Pädagogen zwar eine Herausforderung ist, weil man sich ja an seinen Alltag gewöhnt hat, aber dass sie eine ganz gute Grundlage haben. Technisch gesehen, würde ich sagen, läuft es wie an den meisten Schulen: Die technischen Voraussetzungen sind zunächst nicht immer gegeben, sei es nun, um Videokonferenzen durchzuführen oder individuelle Aufgaben irgendwo einzustellen.

Montessori-Bundesverband ab 2021

News4teachers: Neben dieser herausfordernden Lehrsituation, die der Dachverband unterstützend begleitet, durchläuft dieser gerade auch einen Umstrukturierungsprozess. Ab 2021 soll der Dachverband durch einen Bundesverband ersetzt werden. Wie kam es zu dieser Entscheidung und was wird sich dadurch verändern?

Boysen: Den Dachverband gibt es seit 2004, dessen Mitglieder sind die Landesverbände, soweit vorhanden, und Ausbildungsorganisationen, die die Montessori-Qualifikation, das heißt Zusatzausbildung, anbieten. Die einzelnen Einrichtungen sind jedoch nicht Mitglied im Dachverband, sondern im jeweiligen Landesverband. Das wird sich mit Einführung des Bundesverbands ändern. Außerdem sind die Landesverbände weitgehend ehrenamtlich organisiert, wodurch deren Unterstützung der einzelnen Bildungseinrichtungen recht unterschiedlich ist.

Hinzu kommt, dass wir auch im Dachverband ehrenamtlich arbeiten. Wir machen daher leider keine ausreichend kontinuierliche, aktive Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung, weil wir keine zentralen, hauptamtlichen Ressourcen haben, um Projekte zu stemmen, extern oder intern. Die derzeitigen ehrenamtlichen Strukturen, egal ob auf lokaler, regionaler oder überregionaler Ebene, sind nicht zukunftssicher. Wenn wir an sich geeignete und interessierte Personen anziehen wollen, die ehrenamtlich bereit sind, Verbandsarbeit zu übernehmen, dann muss man ihnen die Möglichkeit bieten, Akzente zu setzen. Das geht nur, wenn wesentliche operative Aufgaben bereits abgedeckt sind.

Aus diesen Gründen haben wir schon 2014 das Zukunftsprojekt „Montessori 2020“ ausgerufen, mit dem Ziel, uns besser aufzustellen. Im Laufe der vergangenen sechs Jahre haben wir dafür eine Struktur entworfen, die wir mit dem Bundesverband verwirklichen, und parallel dazu auch einen Qualitätsrahmen mit Qualitätskriterien für Montessori-Bildungseinrichtungen und Montessori-Kurse entwickelt.

In bundesweiten Videokonferenzen konnten sich Montessori-Lehrkräfte während der Schulschließungen miteinander austauschen. (c) shutterstock/Pixel-Shot

News4teachers: Was erhoffen Sie sich von diesem Qualitätsrahmen?

Boysen: Mit dem Qualitätsrahmen verfolgen wir drei Ziele. Zum einen wollen wir den Einrichtungen, sowohl Schulen als auch Kitas, ein Instrument anbieten, ihren Status quo zu erheben und Ziele zu setzen. Zweitens können sie ihre Arbeit im Sinne der Montessori-Pädagogik nach außen anerkennen lassen. Das hat verschiedene Vorteile, zum Beispiel wenn Eltern oder Lehrkräfte sich für eine Einrichtung entscheiden. Schließlich wollen wir mit dem Qualitätsrahmen deutlich machen, was Montessori-Pädagogik ist.

Es ist ja so, die Montessori Pädagogik fußt auf dem Verständnis, dass Kinder unterschiedlich sind und dass sie sich auch unterschiedlich entwickeln. Alle, die dieses Verständnis haben, dass man Kinder individuell betrachten sollte, sie individuell fördern sollte, sind im Grunde Verbündete. Und es gibt viele Wege, dieses Verständnis pädagogisch umzusetzen, – wir haben keinen Alleinvertretungsanspruch. Jede Veränderung gegenüber dem traditionellen Schulsystem – wie das Aufbrechen der Jahrgangsklassen, die Abkehr von Ziffernnoten zugunsten entwicklungsorientierter Methoden zur Dokumentation, Reflexion und Bewertung des Lernprozesses, die Flexibilisierungen der Schulalltagsstruktur, das selbstbestimmte Lernen – ist zu begrüßen. Montessori-Pädagogik ist jedoch kein Bauchwarenladen, aus dem man sich ein bisschen was aussuchen kann, sondern ein Konzept mit zusammenwirkenden Komponenten.

Entscheidende Charakteristika der Montessori-Pädagogik

News4teachers: Was gehört alles zu diesem Konzept?

Boysen: Es fängt bei den Prinzipien der Organisationsgestaltung an: Das klassische Schulsystem wurde als „Lehrbetrieb“ entwickelt, das Organisieren des Lehrens steht im Vordergrund, nicht die Optimierung des Lernens. Maria Montessori hat das auf den Kopf gestellt: Die Gestaltung der Einrichtungen geht von den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen aus. Die Pädagogik ist darauf fokussiert, wie diese sich entwickeln, welche Förderung sie individuell brauchen. Die Pädagogen sind daher „Lernbegleiter“, die die Kinder unterstützen, selbsttätig zu lernen. Dafür bieten sie ihnen eine altersstufenspezifisch vorbereitete Lernumgebung, die den Rahmenbedingungen entspricht, die die Montessori-Pädagogik vorgibt. Darin gibt es jahrgangsgemischte Gruppen, die die Kinder jeweils in ihrem Tempo durchlaufen können.

Entsprechend gibt es beispielsweise keine einheitlichen Hausaufgaben. Ziffernnotenfreiheit ist ein weiteres Merkmal, wenn auch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich umsetzbar. Meistens verzichten die Schulen bis zu einer bestimmten Klasse auf Ziffernnoten; irgendwann geht das aber nicht mehr, weil dann zum Beispiel die Abschlüsse wie Mittlere Reife anstehen. Ganz einfach gesagt: Ich glaube nicht, dass das auf Dauer motivierend und zielführend ist, wenn es nach einer Klassenarbeit eine Durchschnittszensur gibt und die Hälfte der Klasse unter dem Durchschnittswert liegt. Deswegen muss man von solchen Strukturen wegkommen. Das ist auch etwas, das die Montessori-Pädagoginnen und -Pädagogen ausmacht: Sie wollen auf jeden Fall jedem Kind die Chance geben, sein Potenzial zu entfalten, und es dabei unterstützen. Ich bin sicher, dass das Bildungs- und Erziehungswesen in Deutschland da noch viel Nachholbedarf hat, um Kindern und Jugendlichen diese Chance wirklich überall zu bieten.

News4teachers: Gibt es denn für Lehrkräfte, die nicht an einer Montessori-Schule tätig sind, sich aber für diese Art der Pädagogik interessieren, Möglichkeiten, sich entsprechend weiterzubilden?

Boysen: Ja, es gibt viele Lehrkräfte, die eine Montessori-Zusatzausbildung durchlaufen haben, aber nicht an Montessori-Schulen arbeiten. Sie haben sich in ihrem Einflussbereich Freiräume geschaffen, um wesentliche Elemente der Montessori-Pädagogik umzusetzen. Also das geht. Die Zusatzausbildung dauert meistens eineinhalb bis zwei Jahre und findet berufsbegleitend statt. Es gibt auch kürzere Kurse, die einen in die Grundlagen einführen, aber um die Pädagogik zu verstehen und wie man sie umsetzt, bedarf es eigentlich schon dieser Zusatzausbildung. Wie gesagt, jede Bemühung, sich pädagogisch in die Richtung zu bewegen, Kinder individuell zu fördern und in ihrer Entwicklung zu unterstützen, ist gut. Es gilt immer zu überlegen: Was kann ich tun, um den Kindern und Jugendlichen zu helfen, wie kann ich entsprechende Methoden im Rahmen meiner Möglichkeiten umsetzen? Und dabei nicht zu vergessen, was im Idealfall umzusetzen wäre. Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Gespräch. 

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Gleichzeitig die Schulen zu öffnen und Fernunterricht zu geben, verlangt Lehrern viel ab

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