HAMBURG. Der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe, als Sprecher der SPD-geführten Kultusminister in Deutschland nicht ohne Einfluss, tingelt seit Wochen mit einer steilen These durch die Republik: 85 bis 90 Prozent der Infektionen von Schülerinnen und Schüler erfolgten zu Hause oder in der Freizeit – nicht in der Schule. Das habe eine Erhebung seiner Bildungsbehörde ergeben. Jetzt kommt allerdings heraus, dass ihr eine wissenschaftliche Studie zu einem großen Ausbruch an einer Hamburger Schule vorliegt, die zum gegenteiligen Ergebnis kommt. Hat Rabe das Ergebnis der Untersuchung vertuscht, um die Öffentlichkeit zu täuschen?
Am 19. November – unmittelbar vor dem Bund-Länder-Gipfel, auf dem über die Schulen entschieden werden sollte – trat Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) mit einer bemerkenswerten Botschaft vor die Presse, die er zuvor auch schon in einem Schreiben an die Schulleitungen der Hansestadt verkündet hatte. Recherchen der Gesundheitsämter, der Schulleitungen und der Schulbehörde hätten ergeben, „dass 85 bis 90 Prozent der Infektionen von Schülerinnen und Schüler zu Hause oder in der Freizeit erfolgten – und eben nicht in der Schule. Das Risiko, sich außerhalb der Schule zu infizieren, ist rund acht Mal höher als eine Infektion in der Schule. Forderungen, die Ferien zu verlängern oder die Schulen zu schließen, sind angesichts dieser Zahlen nicht nur pädagogisch, sondern auch aus gesundheitlichen Gründen kontraproduktiv und nicht nachzuvollziehen.“
Die Daten waren Rabes Angaben zufolge in den acht Wochen zwischen den Sommer- und Herbstferien erhoben worden. In der Zeit seien Infektionen von 372 Mädchen und Jungen bekannt geworden. „Von ihnen haben 292 sich vermutlich gar nicht in der Schule infiziert“, sagte Rabe dazu. Das habe die genaue Prüfung eines jeden Falles ergeben. „Sehr sehr häufig haben wir einzelne Infektionen vorgefunden in Schulen, in denen es gar keine weitere Infektion gab. Dann muss man ganz nüchtern sagen: Dann kann man sich eigentlich in der Schule gar nicht infiziert haben. Dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Einzelfall.“ Bei den Lehrkräften ergebe sich ein ähnliches Bild.
“Schule und Unterricht sind wesentlich sicherer als die Freizeit und das Zuhause” – behauptet Rabe
In dem Brief an die Schulleitungen schrieb Rabe: „Die klaren Zahlen überraschen auf den ersten Blick. Denn in den Schulen lernen und arbeiten Kinder und Jugendliche mit Abständen von unter 1,5 Metern. Auch Lehrkräfte und Schulbeschäftigte können den Mindestabstand zu ihren Schülerinnen und Schülern nicht in allen Situationen wahren. Und dennoch sind die Infektionszahlen in den Schulen um ein Vielfaches geringer als außerhalb der Schulen.“
Über die Ursachen könne nur spekuliert werden. Das machte Rabe dann auch: „Möglicherweise liegt es daran, dass sich alle Beteiligten innerhalb der Schulen letztlich doch wesentlich disziplinierter und bewusster verhalten als außerhalb. Das Regelwerk der Schulen, die pädagogischen und sozialen Anleitungen und Kontrollen, die Umsicht der Schulbeschäftigten und auch die im Vergleich zur Freizeit disziplinierteren Verhaltensweisen aller Beteiligten tragen vermutlich erheblich dazu bei. Doch auch wenn die Ursachen noch nicht vollständig ermittelt sind, wird die gute Nachricht nicht zu einer schlechten Nachricht: Schule und Unterricht sind wesentlich sicherer als die Freizeit und das Zuhause – das gilt für Schülerinnen und Schüler genauso wie für die Schulbeschäftigten.“
Die Behauptungen des Bildungssenators stießen frühzeitig auf Skepsis, weil Rabe die Herkunft der Daten nicht transparent machte. Auf der Pressekonferenz der Bundeskanzlerin zum „Lockdown light“ am 28. Oktober war erklärt worden, dass 75 Prozent der Infektionen von den Gesundheitsämtern in Deutschland nicht nachvollzogen werden können – wieso konnte das in der Hansestadt angeblich so viel besser gelingen? News4teachers wollte von der Bildungsbehörde wissen: Wie kommen die Hamburger Daten zustande? Die antwortete: „In Hamburg kooperieren die Schulleitungen sehr eng mit den regionalen Gesundheitsämtern bei der Kontaktnachverfolgung. Insofern verfügen wir, im Rahmen dessen was aktuell überhaupt möglich ist, über eine sehr gute Datenbasis zum Infektionsgeschehen an Schulen.“
Nachfrage der Redaktion: „Werden denn bei einem Infektionsgeschehen in einer Schule alle Schüler und Lehrer der Schule getestet, sodass Sie zumindest bei Einzelinfektionen ausschließen können, dass die Infektion in der Schule oder auf der Fahrt dahin stattfand? Und wie erklären Sie sich die Ausbrüche an Hamburger Schulen?“ Immerhin hatten an mehreren Hamburger Schulen große Ausbrüche stattgefunden. In der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg-Winterhude etwa waren im September zunächst 36 Schüler und drei Schulbeschäftigte ausgemacht worden, die sich mit dem Corona-Virus infiziert hatten. Es handelte sich um den bis dato größten dokumentierten Corona-Ausbruch an einer deutschen Schule. Die Nachfrage von News4teachers blieb unbeantwortet. Der „Tagesspiegel“ schrieb daraufhin von „Hamburger Zahlenspielen, um die Schulen offen zu halten“.
“Wenn ich nur die infizierten Kinder anschaue, kann ich keine Aussage machen, woher das Virus stammt”
Auch aus der Wissenschaft wurden Zweifel laut. Der österreichische Mikrobiologe Prof. Michael Wagner von der Universität Wien, der eine groß angelegte „Schul-Sars-CoV-2-Monitoringstudie“ in Österreich leitet, erklärte gegenüber der ARD-Sendung „Panorama“ zu Rabes Thesen: „Wenn ich nur die infizierten Kinder anschaue, kann ich keine Aussage machen, woher das Virus stammt. Also, wenn der Franz infiziert war, hat man dann die ganze Klasse getestet oder hat man nur gesagt, gibt es noch andere nachweislich Infizierte in der Klasse vom Franz? Eine Aussage kann ich nur machen, wenn ich zumindest die ganze Klasse von den infizierten Schülern getestet habe, und zwar nicht nur einmal.“ Solche Reihentests waren aber offenbar nicht die Grundlage der von Rabe vorgetragenen Zahlen.
Die „Zeit“ recherchierte ebenfalls Rabes Behauptungen hinterher – und stieß auf die Ankündigung einer Studie, die im Zusammenhang mit dem Infektionsgeschehen an der Heinrich-Hertz-Schule in Auftrag gegeben worden war. Gibt es mittlerweile Ergebnisse, wollte die Redaktion von der Bildungsverwaltung wissen – wurde aber von einem Ansprechpartner zum nächsten verwiesen, ohne dass die Anfrage beantwortet wurde. Das berichtete das Blatt, was ein Bürger zum Anlass nahm, seinerseits unter Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz offiziell bei der Bildungsbehörde anzufragen – mit bemerkenswertem Ergebnis.
Das Ergebnis der Studie ist eindeutig: “Infektionen/Übertragungen haben in der Schule stattgefunden”
Die auf den 22. Dezember datierte Antwort, zu der die Behörde nun gesetzlich verpflichtet war, lautet: „Das Heinrich-Pette-Institut (HPI) und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben im September in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt Hamburg-Nord den von Ihnen erwähnten Schulausbruch an der Heinrich Hertz Schule untersucht und dadurch die folgenden Erkenntnisse gewonnen: Infektionen/Übertragungen haben in der Schule stattgefunden. Von den untersuchten und verwertbaren Proben ist eine hohe Anzahl von identischen Genomsequenzen identifiziert worden. Daher ist die überwiegende Mehrzahl der Übertragungen höchstwahrscheinlich auf eine einzige Infektionsquelle zurückzuführen. Die Möglichkeit, dass der Ausbruch aus unabhängigen Einträgen resultiert, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.“
Jetzt stellt sich die Frage: Seit wann weiß Rabe von dem Ergebnis der Studie? Noch am 9. Dezember vertrat der Bildungssenator seine Thesen vor einem Millionenpublikum in der Sendung „Markus Lanz“. Auf Initiative der „Hamburger Morgenpost“ hin nahm die Bildungsbehörde Stellung – ohne die Frage zu beantworten: Die von Rabe angeführte Erhebung behalte ihre Richtigkeit, weil sie sich ja auf rund 170 Schulen beziehe. Dabei „kann die Lage an einer einzelnen Schule davon durchaus abweichen“. News4teachers
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung der Leserinnen und Leser von News4teachers realisiert.
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