BERLIN. Zunehmend deutlich wird: Die immer wieder von den Kultusministern hervorgebrachte Behauptung, „Kitas und Schulen sind keine Treiber der Pandemie“, ist nicht länger haltbar. Virologen beklagen: Die Politik hat sich mit dem Verzicht auf wirksame Schutzmaßnahmen für Kita-Kinder, Erzieher, Schüler und Lehrer von der Wissenschaft verabschiedet. Auch Politiker selbst äußern mittlerweile Zweifel, ob das so bleiben kann. „Wer die Schulen nicht schließen will, der muss sie auch besser schützen“, meinte in dieser Woche etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im Bundestag.
Die Kultusminister haben sich in ihrer Position eingemauert. „Viele Kinder und Jugendliche leiden unter der Pandemiesituation. Damit die Folgen nicht dauerhaft ihr Leben begleiten, liegt die Priorität der Kultusministerinnen und Kultusminister darauf, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten“, so heißt es – einmal mehr – im jüngsten Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. März. Und weiter: „Die Kultusministerinnen und Kultusminister betrachten die Auswirkungen der im Zuge der Eindämmung der SARS-CoV-Pandemie getroffenen Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit großer Sorge. Sie weisen auf die negativen Folgen der sozialen Isolation sowie des Wegfalls von Kontakten zu Gleichaltrigen außerhalb der Familien hin, die durch Schulschließungen und Kontakteinschränkungen entstehen.“
Passt gut auf Euch und Eure Kinder auf – die Regierung macht das nicht…
— Jana Schroeder (@DrJanaSchroeder) March 23, 2021
Zu den direkten Gesundheitsgefahren für Schüler und Lehrer durch Infektionen – kein Wort. Im Gegenteil. Wer auf die Ansteckungsgefahr hinweist, wird von der KMK in die Ecke von Kinderhassern geschoben. „In diesem Zusammenhang betonen die Kultusministerinnen und Kultusminister nachdrücklich, dass Kinder und Jugendliche nicht als Gefahr für alle an der Schule Beteiligten stigmatisiert werden sollen.“
Seit fast einem Jahr beten die Kultusminister immer die gleiche Behauptung herunter.
- Er warne davor, Kindertageseinrichtungen „als Pandemietreiber zu inszenieren“ und damit Ängste zu schüren, erklärte NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) am 18. März.
- „Meine Aussage hat Bestand: Schulen sind keine Treiber der Pandemie.“ (Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne, SPD, am 20. Januar 2021.)
- „Wir Kultusministerinnen und Kultusminister sagen alle, dass Schulen keine Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ (KMK-Präsidentin Britta Ernst, SPD, am 8. Januar 2021.)
- „Die Entwicklung in den Schulen in den vergangenen Monaten hat gezeigt, dass Schulen nicht die Treiber des Infektionsgeschehens sind.“ (Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) am 7. Januar 2021.)
Angefeuert werden die Kultusminister dabei immer wieder von Kinderärzten. „Kitas und Schulen sind ganz sicher nicht die Treiber der Pandemie“, erklärte etwa Prof. Dr. med. Fred Zepp, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Mainz, noch im Februar. „Auch nach dem Auftreten von Virusmutationen bleibt es dabei, dass Kinder und Jugendliche keine Treiber der Pandemie sind“, sagte auch der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Dr. med. Thomas Fischbach, am 28. Februar.
„Der Begriff ‚Treiber der Pandemie‘ ist ja gar nicht definiert. Was ist denn ein ‚Treiber‘?“
Selbst das Robert-Koch-Institut (RKI) mischte mit – wenn auch deutlich vorsichtiger: Eine Analyse von Meldedaten und Studien lege nahe, dass Schülerinnen und Schüler „eher nicht als ‚Motor‘ eine größere Rolle spielen“, so heißt es in einem Ende Februar veröffentlichten RKI-Bericht (News4teachers berichtete ausführlich über das Papier). Allerdings wird konstatiert, dass es auch bei Kindern und Jugendlichen zu Übertragungen komme – und Ausbrüche in Kitas und Schulen verhindert werden müssten.
Der Ball wurde von der Politik sofort aufgenommen. „Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sieht, genauso wie die Expert*innen des Robert-Koch-Instituts (RKI), Kinder und Jugendliche nicht als Treiber der Pandemie“, so schrieb die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) noch vor wenigen Tagen in einem Elternbrief.
Prof. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig, hält das für Unsinn: „Der Begriff ‚Treiber‘ ist ja gar nicht definiert. Was ist denn ein ‚Treiber‘? Das bedeutet wohl, dass das irgendwie die einzige Ursache für die Pandemie ist. Das sind Schulen und Kitas sicherlich nicht. Aber sie sind ein wesentlicher Faktor – und die Datenlage dafür ist nach meinem Dafürhalten international überwältigend. Große Meta-Analysen belegen inzwischen, dass Schulschließungen einen wesentlichen bremsenden Effekt auf die Pandemie haben.“
Das Problem: Die Datenlage in Deutschland war lange Zeit überaus dürftig. Kinder, die sich infizieren, zeigen meistens keine Symptome. Kinder werden deshalb auch nur selten getestet, weshalb sie in den ohnehin löcherigen Daten der Gesundheitsämter unterrepräsentiert sind. Studien, die lediglich auf deren Meldungen beruhen (aber immer wieder von Kinderärzten hervorgebracht und dann von den Kultusministerien zitiert werden), sind deshalb kaum aussagefähig.
Wissenschaftliche Stichproben auf der Grundlage von Reihenuntersuchungen gab es nur in der Frühphase der Pandemie, unmittelbar nach den ersten Kita- und Schulschließungen also. Die Schließungen waren allerdings so erfolgreich, dass bei den Studien zu diesem Zeitpunkt praktisch keine infizierten Schüler ausgemacht wurden. So kam das Märchen von den nicht-infektiösen Kindern in die Welt. Das lieferte den Kultusministern das Alibi, den Bildungsbetrieb ohne besonderen Infektionsschutz wieder aufzunehmen. Sich häufende Meldungen über Ausbrüche an Kitas und Schulen änderten an diesem Kurs nichts.
„Die Politik hat sich komplett von der Wissenschaft abgekoppelt“
Davon gibt es mittlerweile allerdings so viele (News4teachers berichtet über die aktuellen RKI-Daten) – und mit dem Aufkommen der Virusvariante B.1.1.7 in immer kürzeren Abständen und mit größerer Ausbreitung –, dass aus Sicht der Wissenschaft überhaupt keine Rede davon sein kann, Entwarnung für die Bildungseinrichtungen zu geben. Im Gegenteil. „Wenn wir bei hohen Inzidenzen Grundschule, Hort und Kita öffnen, ohne dass wirklich konsequent getestet wird“, sagt Prof. Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Institut in Braunschweig laut einem „Spiegel“-Bericht, „ist es nicht verwunderlich, dass die Infektionszahlen in die Höhe schnellen.“
Dr. med. Jana Schroeder, Virologin und Infektiologin bei der Stiftung Mathias-Spital, einem Klinikverbund, twittert gar: „Passt gut auf euch und eure Kinder auf – die Regierung macht das nicht.“ Sie sagt mit Blick insbesondere auf die offenen Kitas und Schulen: „Die Politik hat sich komplett von der Wissenschaft abgekoppelt.“
Die Floskel „Kinder sind keine Treiber der Pandemie“ hat tatsächlich keine wissenschaftliche Grundlage – es ist ein PR-Slogan, mehr nicht. So sagt Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Charité, nun laut „Spiegel“: Diskussionen darüber, welche Gruppen gerade nicht Treiber der Pandemie seien, seien „manchmal auch ein bisschen interessengeleitet“. „Weil auch gesagt werden sollte, wo man vielleicht weniger Maßnahmen anwenden kann“, so Drosten. Dies sei jedoch kein wissenschaftlicher Angang. „Wir haben weiterhin den Eindruck, dass eigentlich alle Altersgruppen gleich viel Virus ausscheiden“, betont er.
Manche Daten wiesen zwar darauf hin, dass Kinder „einen Tick“ weniger Viren bildeten. Diese Unterschiede seien jedoch so gering, dass sie sich womöglich schlicht mit der Testmethodik erklären ließen, so Drosten: Die Abstrichtupfer bei Kindern sind deutlich kleiner. (Auch schon zuvor hatte Drosten erklärt, dass der Begriff “Treiber der Pandemie” in Bezug auf Corona keinen Sinn ergibt – wie News4teachers berichtete.)
„Man kann Treiber nicht einer bestimmten Altersgruppe oder Bevölkerungsgruppe zuordnen, sondern eigentlich nur Situationen“, so zitiert das Magazin auch Prof. Thomas Stamminger, Virologe am Universitätsklinikum Ulm. „Immer dann, wenn Leute schlampig mit Hygienemaßnahmen umgehen und keine Masken tragen, muss man mit Übertragungen dieses Virus rechnen. Das ist letztendlich vollkommen unabhängig davon, ob das ältere Menschen sind oder Kinder.“
Die Erkenntnis setzt sich zunehmend in der Politik durch. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt meldete sich in dieser Woche im Bundestag zu Wort – und forderte einen besseren Corona-Schutz ein, wenn die Schulen nicht nach Ostern bald wieder geschlossen werden sollen. „Fast 20.000 Neuinfektionen ist eindeutig zu viel. Ein dynamisch steigendes Inzidenzwachstum, das ist eindeutig zu schnell. Eine Virusvariante, die besonders in jüngeren Bevölkerungsgruppen aktiv ist, das ist eindeutig die falsche Entwicklung“, sagte Dobrindt mit Blick auf aktuelle RKI-Daten.
„Das Infektionsgeschehen wird aus der Schule, aus den jungen Menschen heraus getrieben“
In Teilen Österreichs sei zu sehen, was auch in Deutschland drohe. Die 5- bis 40-Jährigen würden dort mittlerweile eine Inzidenz von 500 aufweisen. „Das Infektionsgeschehen wird aus der Schule, aus den jungen Menschen heraus getrieben“, sagte Dobrindt. Mit Blick auf Deutschland befand er: „Nach Ostern brauchen wir auch entsprechende Konzepte in den Schulen, sie sind noch nicht ausreichend. Es geht um die fehlenden Luftfilter, es geht um die Tests, die noch nicht stattfinden.“
Die Menschen brauchen ein Signal, aber nicht das falsche. Das falsche Signal ist „wir können jetzt lockern“. Das richtige wäre: Lockerungen sind jetzt kein Thema, es stehen hunderttausende Covid Erkrankungen bevor, unsere Kinder und die Menschen aller Altersgruppen sind in Gefahr https://t.co/54VUq5bwhe
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) March 26, 2021
Auch in Medien, die lange Zeit die „Keine-Treiber“-Behauptung der Kultusminister unkritisch weitertransportiert haben, scheint sich die Erkenntnis langsam durchzusetzen – wie im „Spiegel“. So kommentierte das Magazin (das noch im November titelte „Vier von fünf infizierten Schülern haben sich außerhalb der Schule angesteckt“) in dieser Woche: „Wenn dereinst die Geschichte der Coronapandemie geschrieben wird, geht als eines der schlimmsten Versäumnisse in die Annalen ein, was die Regierenden den Kindern – und ihren Eltern – angetan haben: als sie es versäumten, Schulen und Kitas zu sicheren Orten zu machen.“ News4teachers
