BERLIN. Die Inzidenzwerte bei Kindern steigen und Schul- sowie Kitaschließungen rücken erneut in den Fokus. Kinderärzte-Verbände behaupten nun, die Zahlen hätten nur damit zu tun, dass mehr getestet werde – und fordern deshalb, die Bildungseinrichtungen weiter geöffnet zu lassen. Richtig daran ist: Die Zahl der wöchentlichen PCR-Tests unter Kinder- und Jugendlichen ist in den vergangenen Wochen deutlich gestiegen. Das Problem: Der Anteil der positiven Befunde bei den Testergebnissen von Kita-Kindern und Schülern steigt ebenfalls.
Die dritte Corona-Welle rollt über Deutschland. Das Land diskutiert über verschärfte Lockdown-Regelungen – auch mit Blick auf Kitas und Schulen. Am Freitag enden in vielen Bundesländern die Osterferien. Und dann? Schulen auf oder zu? Mit Blick auf die nackten Fallzahlen gibt es Forderungen, keinen weiteren Präsenzunterricht anzubieten. Am morgigen Donnerstag wollen auch die Kultusminister der Länder über das Thema beraten. Dabei rückt die Rolle der Kinder in der Pandemie mal wieder in den Fokus.
Zunächst sind da die vom Robert Koch-Institut (RKI) gemeldeten Zahlen. Ein Vergleich der erfassten Corona-Fälle zwischen der letzten Februar-Woche und genau einen Monat später zeigt: Bei den Unter-Vierjährigen lag die 7-Tage-Inzidenz (Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche) Ende März um 162 Prozent höher. Bei den Fünf- bis Neunjährigen waren es sogar 228 Prozent, bei den Zehn- bis 14-Jährigen knapp 200 Prozent. Zum Vergleich: Auf alle Altersklassen bezogen lag der Anstieg der 7-Tage-Inzidenz bei 103 Prozent.
Heißt das jetzt, dass sich das Virus unter Kindern und Jugendlichen besonders rasant ausbreitet? Kinderärzte-Verbände, die seit Beginn der Pandemie die Infektiosität von Kindern abgestritten haben, bestreiten auch das. Laut Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) tragen Kinder aktuell nicht überproportional zum Infektionsgeschehen bei. In einer gemeinsamen Stellungnahme geben DGKJ und BVKJ als Grund für die höheren Inzidenz-Werte bei Kindern und Jugendlichen die mittlerweile gestiegene Testzahl in diesen Gruppen an. Ein Vergleich zu anderen Altersklassen anhand der Inzidenzen sei daher nicht aussagekräftig.
„Die COVID-19-Fallzahlen stiegen in den letzten Wochen bei Kindern und Jugendlichen besonders stark an“
Tatsächlich stieg zwischen etwa Ende Februar und Ende März die Zahl der PCR-Getesteten pro Woche bei den Unter-Vierjährigen von etwa 15.000 auf knapp 30.000, bei den Fünf- bis 14-Jährigen von 20.000 auf 40.000, also jeweils um rund 100 Prozent. Die Steigerungsraten bei den gemessenen Inzidenzen in diesen Altersgruppen würde sich damit zwar nicht ganz, aber immerhin zu einem Gutteil erklären lassen – jedenfalls dann, wenn die Quote der positiven Befunde sinken oder zumindest gleich bleiben würde. Das tut sie aber nicht. Im Gegenteil: Bei den Kita-Kindern stieg die Positiv-Quote zwischen der 10. und der 13. Kalenderwoche von 5 auf 7 Prozent, bei den Schülern im selben Zeitraum von 8 auf 12 Prozent.
Das Robert-Koch-Institut, dessen Leiter Prof. Lothar Wieler schon vor Wochen von steigenden Infektionszahlen unter Kita-Kindern berichtet hatte (und dabei verneinte, dass allein mehr Tests die Ursache für den Anstieg sein könnten), stellt in seinem aktuellen Lagebericht (6. April) deshalb fest: „Die COVID-19-Fallzahlen stiegen in den letzten Wochen in allen Altersgruppen wieder an, besonders stark jedoch bei Kindern und Jugendlichen, von denen auch zunehmend Übertragungen und Ausbruchsgeschehen ausgehen.“
Weiter heißt es: „Aktuell scheint sich die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu ändern. Die Meldeinzidenzen stiegen vor Ostern bei Kindern und Jugendlichen in allen Altersgruppen an. Dies zeigte sich besonders frühzeitig in der Altersgruppe 0-5 Jahre und betraf auch die Daten zu Ausbrüchen in Kitas, die sehr rasch anstiegen und über den Werten von Ende letzten Jahres liegen. Eine ähnliche Entwicklung deutet sich mit zeitlicher Verzögerung (aufgrund der erst kürzlich erfolgten Öffnung) auch für die Schulen an. Auch hier zeigt sich der Anstieg zuerst in der jüngsten Altersgruppe von 6-10 Jahren. Bei dieser Entwicklung spielt die Ausbreitung leichter übertragbaren, besorgniserregenden Varianten nach den uns vorliegenden Hinweisen eine Rolle.“ Heißt also unmissverständlich: Kitas und Schulen sind durchaus Orte mit einem relevanten Infektionsgeschehen.
„Seitdem die Schulen geöffnet sind, steigen im Alterssegment der Schüler die Zahlen rapide”
Das bestätigt auch Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig, der mit einem Wissenschaftler-Team im Auftrag der sächsischen Landesregierung die Lage im Freistaat beobachtet. „Das ist eine wirklich erschreckende Entwicklung, die wir dort sehen. Seit dem 15. Februar sind die Grundschulen in Sachsen geöffnet – ohne Masken im Klassenzimmer, ohne Luftfilter in den Klassenräumen und ohne Testkonzepte, also praktisch im gleichen Modus wie im Sommer, als wir eine ganz niedrige Inzidenzlage hatten. Und seitdem die Schulen geöffnet sind, steigen dort im Alterssegment der Schüler die Zahlen rapide. Wir hatten dort innerhalb von nur 3 Wochen eine Verdreifachung der Inzidenz, während alle anderen Altersgruppen nicht oder nur minimal stiegen. Das betrifft auch den Kita-Bereich. Auch bei den Kleinkindern steigen die Infektionszahlen massiv an“, sagt er (gegenüber News4teachers am 20. März).
„Ums nochmal zu betonen: Die anderen Altersgruppen blieben fast gleich und steigen erst seit Kurzem wieder deutlich. Das ist ein klares Zeichen, dass es Infektionen unter Kindern gibt und nicht nur Übertragungen von Erwachsenen auf Kindern, wie immer wieder behauptet wird, denn dann müssten die Zahlen auch bei den Erwachsenen eher steigen. Es ist offenbar umgekehrt: Die Zahlen steigen zuerst bei den Kindern – und jetzt steigen sie in der Folge davon auch langsam bei den Erwachsenen. Bei den Schulschließungen gab es übrigens den umgekehrten Effekt. Seinerzeit war es so, dass zuerst im Kinderbereich die Infektionszahlen zurückgingen und dann bei den Erwachsenen. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es Infektionen in den Schulen gibt, denn zu Hause haben die Schüler nicht weniger Kontakte gehabt. Der Lockdown lief ja bereits. Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass viele Infektionen aus den Kitas und Schulen kommen müssen. Wir sind sehr überzeugt davon, dass das ein wesentlicher Faktor in der Pandemie ist.“
Auch er hält die Behauptung, dass die Infektionszahlen unter Kindern nur deshalb steigen, weil die nun mehr getestet werden, für falsch. Denn: Bislang wurden Kinder und Jugendliche eher zu wenig getestet, weil sie bei Corona-Infektionen nur selten Symptome zeigen. Scholz: „Es ist nicht ganz klar, wie groß die Dunkelziffer ist. Aber wir wissen, dass die bei Kindern sehr viel höher ist als bei Erwachsenen. Eine Studie aus München hat die Dunkelziffer auf etwa Faktor 6 geschätzt, während wir bei Erwachsenen von etwa 2-3 ausgehen. Und wenn man das mit draufrechnet, dann sind Kinder und Jugendliche zurzeit die am stärksten von Covid-19 betroffene Altersgruppe.“
“Jüngere Altersgruppen sind wahrscheinlich etwas schwächer repräsentiert”
So stellt auch das Robert-Koch-Institut in seinem Wochenbericht zur “Laborbasierten Surveillance von SARS-CoV-2” vom 6. April fest: “Bei der Interpretation der Inzidenzen ist zu beachten, dass die Daten keine Vollerfassung darstellen und wahrscheinlich jüngere Altersgruppen etwas schwächer und ältere Altersgruppen etwas stärker repräsentiert sind.” Das heißt also, dass der Beitrag von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie bislang unterschätzt wurde – und nun eben realistischer gesehen wird. News4teachers / mit Material der dpa
Kinderärzte klagen über Einnahmeausfälle – und fordern: Schulen umgehend weit öffnen
