BERLIN. Die Notbremse des Bundes für den Kita und Schulbetrieb wirkt offenbar. Bei Jüngeren sind die Inzidenzen inzwischen deutlich gesunken. Es gebe weniger Ausbrüche in Kitas und Schulen und die, die gemeldet würden, seien kleiner, sagte RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler auf einer heutigen Pressekonferenz zum Infektionsgeschehen. Das weist auch der aktuelle RKI-Lagebericht mit der demografischen Verteilung der Inzidenzen aus. Wieler und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnen allerdings vor zu weitgehenden Lockerungsschritten. Nordrhein-Westfalen, das weite Schulöffnungen angekündigt hat, darf sich angesprochen fühlen.
In der 16. Kalenderwoche (vom 19. bis 25. April) meldete das Robert-Koch-Institut den höchsten Inzidenzwert für Deutschland in diesem Jahr – mit 175 über alle Altersgruppen hinweg. Der genaue Blick zeigte, dass Kinder und Jugendliche weit überdurchschnittlich betroffen waren: Grundschüler (fünf bis neun Jahre) bei 226, Zehn- bis 14-Jährige bei 237, 15- bis 19-Jährige bei 253 – dem Spitzenwert. Sogar die meist gut behüteten Kita-Kinder im Alter zwischen 0 und vier Jahren wiesen einen Inzidenzwert von 141 auf.
Dann, mit Beginn der 17. Kalenderwoche verabschiedete der Bundestag eine Notbremse, die Kita- und Schulschließungen bei einem Inzidenzwert oberhalb von 165 vorsieht. Geschätzt die Hälfte der Schulen in Deutschland musste daraufhin kurzfristig in den Distanzunterricht zurückkehren. Seitdem sinken die Inzidenzen für die Kinder und Jugendlichen in der Fläche stetig. Aktuell (laut Lagebericht vom 18. Mai) liegen die 15- bis 19-Jährigen bei 124, die Zehn- bis 14-Jährigen bei 122, die Fünf- bis Neunjährigen bei 109. Damit liegen die Schüler immer noch deutlich über dem Bevölkerungsschnitt von jetzt 84. Ihre Inzidenzwerte haben sich seit Einführung der – von den Kultusministern heftig kritisierten – Bundesnotbremse allerdings halbiert.
«Lassen Sie uns den Sommer nutzen, das Virus zu unterdrücken, dass wir gut durch Herbst und Winter kommen»
Die erfreuliche Entwicklung nehmen die Bundesländer zum Anlass, Schulöffnungen anzukündigen. Nicht alle beachten dabei die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, das oberhalb einer Inzidenz von 50 kleinere Lerngruppen vorsieht, Wechselunterricht also, um die Abstandsregel in den Klassenräumen einhalten zu können. Nordrhein-Westfalen etwa hat angekündigt, die Schulen am 31. Mai für den vollen Präsenzunterricht öffnen zu wollen, wenn der Inzidenzwert unterhalb von 100 liegt, wie News4teachers berichtet.
«Die Gefahr ist noch nicht gebannt», sagte nun Wieler. Rund 1300 Menschen pro Woche sterben in Deutschland weiterhin an Covid-19. «Das ist immer noch eine schrecklich hohe Zahl.» Wieler warnte: «Die Pandemie hat unsere Welt immer noch im Griff.» Er bat: «Lassen Sie uns den Sommer nutzen, das Virus zu unterdrücken, dass wir gut durch Herbst und Winter kommen.» Dafür blieben die Maßnahmen wie Abstand halten, Maske tragen, Lüften, Testen und die Warn-App benutzen, wichtig. «Bitte halten Sie diese Maßnahmen weiter durch», sagte Wieler. Ohne die Maßnahmen würde sich das Virus rasch wieder ausbreiten.
Mit weiteren Öffnungen könnte der rasante Abwärts-Trend der Infektionszahlen auch aufhören. «In unserem Modell ist es so, dass eine vollständige Öffnung aller Aktivitäten zum 5. Juni den Rückgang der Inzidenzen stoppen würde», sagte Kai Nagel, Mobilitätsforscher an der Technischen Universität Berlin. «Damit hätten wir laut Modell unseren Spielraum exakt aufgebraucht.» Das gelte selbst bei Beibehaltung der Maskenpflicht im Oberstufen-Unterricht, im öffentlichen Verkehr, beim Einkaufen sowie bei bleibendem Angebot kostenloser Schnelltests.
Ähnlich sieht es Physikerin Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. «Wir müssen aufpassen, dass wir den Immunitätsgewinn nicht weglockern», sagte sie kürzlich dem «Spiegel». Jedes kleine bisschen mehr an Infektionen, die nun zugelassen würden, könne den Rückgang auf einen Wert unter die Inzidenz von 50 deutlich verlangsamen. «Wir müssen also genau überlegen, welche Freiheiten wir schon jetzt nehmen.» Sie und andere Fachleute befürchten sonst einen Jo-Jo-Effekt. Lockerungen müssten dann gemäß der Notbremsen-Regelung wieder zurückgenommen werden.
Priesemann: «Solange die Inzidenzen niedrig sind, werden wir wahrscheinlich öffnen, öffnen, öffnen. Wir fangen bei Schulen, Restaurants und Geschäften an, dann kommen Tourismus, Veranstaltungen und Feiern mit immer größeren Gruppen. Wir werden so lange lockern, bis wir wieder an einen effektiven R-Wert von 1 herankommen, ab dann werden die Inzidenzen wieder steigen.» Auf die Frage, wann sie damit rechne, antwortet sie: Das sei im Moment schwer vorherzusagen. Das könne im Juli sein, im August oder im Oktober.
«Aber der Anstieg wird – wie auch im vergangenen Jahr – wahrscheinlich zunächst nicht ernst genommen werden, weil ja ein guter Teil der Bevölkerung geimpft ist. Wenn wir nun davon ausgehen, dass bis dahin 30 Prozent der Erwachsenen nicht geimpft sind, bleiben sehr viele Menschen, die noch schwer krank werden können. Bisher dürften sich etwa zehn Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert haben. Schon das hat gereicht, um Krankenhäuser über Wochen an die Belastungsgrenze zu bringen. Im Herbst hätten wir mit 30 Prozent ungeimpften Personen noch dreimal so viele Menschen, die potenziell noch krank werden könnten.»
Bleibt es jedoch bei Vernunft und Geduld in den kommenden Wochen, könnte später immer mehr möglich werden – erklärte nun Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Wenn die Infektionszahlen weiter herunter- und die Impfzahlen hochgingen, «dann haben wir Aussicht auf einen guten Sommer», sagte er.
«Die Lehre des letzten Sommers und Herbstes ist es, aufmerksam zu bleiben»
Welch positive Rolle allein das Verlagern des Lebens nach draußen spielt, hat Forscher Kai Nagel errechnet. «Unser Modell enthält einen Faktor 10, wenn eine Aktivität bei ansonsten gleichen Bedingungen nach draußen verlegt wird», sagt er. Das bedeutet, ein zehnmal geringeres Infektionsrisiko draußen im Vergleich zu drinnen. «Es hängt natürlich von Details ab», schränkte er ein. Windstille sei zum Beispiel problematischer als Querwind. Durch herumgereichte Flaschen oder Zigaretten könnten Coronaviren auch weitergegeben werden. «Der Beitrag ausgiebiger Umarmungen zur Begrüßung ist unklar.»
«Genießen Sie die Feiertage, genießen wir gemeinsam die Feiertage, aber bleiben wir dabei vorsichtig», appellierte Spahn. Es gelte, sich vor allem draußen zu treffen und sich regelmäßig testen zu lassen. Es gehe um behutsame Öffnungsschritte und einen weiterhin wichtigen Schutz mit Abstand und Masken. «Unsere Ungeduld darf am Ende nicht zu Übermut führen.» Zwischen Bund und Ländern sei aber vereinbart, vor möglichen nächsten Schritten zunächst zwei, drei Wochen zu warten und zu sehen, welche Folgen dies auf das Infektionsgeschehen habe. Die dritte Pandemie-Welle sei gebrochen, resümierte Spahn. Aber die Kombination aus Impfen und Vorsicht bleibe auch wichtig, um diesen Trend zu verstetigen.
Könnte sonst eine vierte schon vor dem Herbst drohen? «Die Lehre des letzten Sommers und Herbstes ist es, aufmerksam zu bleiben», sagte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie auf Anfrage. «Die indische Variante mit höherer Infektiosität hat das Potenzial, eine neue Welle auszulösen, weil derzeit das Impfprogramm noch nicht weit genug fortgeschritten ist.» Es sei gut, dass nur nach und nach Maßnahmen zurückgenommen würden. Daher erwarte er «zumindest keine große Welle». News4teachers / mit Material der dpa

