BERLIN. Die Vorwürfe gegen den Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff schlagen Wellen. Kein Wunder: Winterhoff ist nicht nur Arzt – sondern auch Bestsellerautor, der mit pointierten Titeln polarisiert („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) und daraus bildungspolitische Forderungen ableitet. Steckt dahinter ein „ganz bestimmtes Menschenbild und der Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft, hin zu mehr autoritärem Denken im Umgang mit Kindern“, wie jetzt zu hören ist? Tatsache jedenfalls ist: So schlicht, wie Winterhoffs pädagogische Thesen klingen, ist die Realität nicht.
„Es ist ja ein Skandal passiert: Die OECD, also Menschen, die sich um Wirtschaft kümmern, haben Einfluss genommen auf die Bildungspolitik und haben Ideen entwickelt – weit an dem, was Kinder brauchen, vorbei. Nämlich die, dass Kinder autonom groß werden sollen. Die Bildungspolitik hat das, ohne überhaupt mit Lehrern zu sprechen, von oben nach unten durchgedrückt“ – das sagt Dr. med. Michael Winterhoff, Kinderpsychiater und Bestsellerautor, der mit pointierten Titeln polarisiert („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, „Deutschland verdummt“, „SOS Kinderseele“) im Deutschlandfunk Kultur. Mit „der OECD“ meint Winterhoff augenscheinlich die (von der Industrieländervereinigung organisierte) Pisa-Studie, die „Ideen“, die er anprangert, sind Kompetenzorientierung, offene Unterrichtsformen und eine Lehrerrolle, die weg vom Alleinunterhalter hin zum Classroom-Manager führt.
„Lehrer sind jetzt nur noch ‚Lernbegleiter‘, decken eine Lerntheke, an der sich die Kinder bedienen sollen”
Damit offenbart Winterhoff seine schulpolitische Agenda, die auf einer recht einfachen Weltsicht beruht. Im Wortlaut eines weiteren Deutschlandfunk-Interviews klingt das bei ihm so: „Die meisten Kinder kommen heute mit sechs Jahren in die Schule und sind nicht mehr lern- und wissbegierig. Sie sind lustorientiert, auf der Stufe eines Kleinkindes. In der Schule haben sie nur dann eine Chance, wenn sie sich entwickeln können – am Gegenüber, in der Beziehung zu den Lehrern. Die Politik will aber seit der Jahrtausendwende autonomes Lernen, das heißt, die Lehrer sind nicht mehr direkte Bezugspersonen, sondern nur noch Lernbegleiter. Doch Bindung und die Orientierung am Lehrer sind wichtig, damit Kinder eine Chance haben, ihre Psyche zu entwickeln und lernen zu wollen.“
Oder so (im „Fokus“): „Lehrer sind jetzt nur noch ‚Lernbegleiter‘, decken eine Lerntheke, an der sich die Kinder bedienen sollen. Für die Ausführung ist das Kind verantwortlich. Es gibt Grundschulen, an denen Schulverträge mit den Kindern abgeschlossen werden, in den Pausen gibt es Viertklässler als Streitschlichter. Viele Kinder müssen Schallschutzkopfhörer tragen, um in Ruhe arbeiten zu können. Wir haben jetzt in vielen Bundesländern die Verbundschreibschrift und die Rechtschreibung abgeschafft.“
Winterhoffs Prophezeiung: „Wenn wir nicht gegensteuern, gerät unsere Gesellschaft in eine katastrophale Schieflage. Unsere Kinder wachsen zu Narzissten und Egozentrikern heran, die nicht auf Andere achten, sich nur um sich selbst drehen und lustorientiert in den Tag leben. Wertschätzung ist ihnen kein Begriff mehr. In einem Sozialstaat müssen die Menschen aber füreinander da sein. Doch Menschen, die sich wie kleine Kinder aufführen, nicht fähig sind zu arbeiten, die sprengen dieses System.“
Mit solchen Aussagen spricht Winterhoff insbesondere vielen konservativen Pädagoginnen und Pädagogen aus der Seele. Und mit manchem hat er sicher auch recht: Dass „verhaltensoriginelle“ Kinder den Unterricht sprengen und Lehrkräfte an ihre Belastungsgrenze bringen können – wer wollte dem widersprechen? Die Frage ist allerdings, ob sich daraus eine Gesellschaftsanalyse mit weitreichenden bildungspolitischen Konsequenzen drechseln lässt. Und welche.
Zeit-Redakteur Martin Spiewak nennt Winterhoff den „Thilo Sarrazin der Erziehung“ – und beschreibt in einem 2019 erschienenen Beitrag einen „düsteren pädagogischen Pessimismus, der das ganze Werk des Autors durchzieht“, eine „Pädagogik zum Gruseln“. Kinder und Jugendliche seien demnach rein lustbetonte Wesen, die eine kurze Leine benötigen. „Deutschlands Eltern haben es demnach verlernt zu erziehen. Statt ihrem Nachwuchs Grenzen zu setzen, behandeln sie ihn als Freund und Partner. Im Extremfall, der für Winterhoff meist die Regel ist, verbindet Erwachsene und Kinder eine Art ‚symbiotischer Beziehung‘. Die Folge: Die Sprösslinge haben keine Chance, sich zu entwickeln, ihre Psyche verkümmert auf dem Stand eines Säuglings. Wenn diese Kinder erwachsen werden, gefährden sie unseren Wohlstand, ja die ganze Gesellschaft“, so beschreibt Spiewak den Winterhoff’schen Ansatz.
Winterhoff – das legen aktuelle Berichte des WDR und der „Süddeutschen Zeitung“ jedenfalls nahe – hat seinen schlichten gesellschafts- und bildungspolitische Befund auch auf seine jungen Patientinnen und Patienten übertragen. Er stelle immer dieselbe, unwissenschaftliche Diagnose „frühkindlicher Narzissmus“, anstatt etwa zu bemerken, wenn ein Kind unter den Folgen eines Asperger-Syndroms leide. Ehemalige Patientinnen und Patienten, darunter auch frühere Heimkinder, werfen ihm vor, dass er ihnen zum Teil ohne Indikation über Jahre ruhigstellende Neuroleptika verschrieb, vor allem das Mittel Pipamperon. Eine erste Anzeige gegen Winterhoff sei bereits erfolgt; weitere würden derzeit vorbereitet, so heißt es. Zudem soll er Jungen an ihren Genitalien untersucht haben. Es sei umstritten, ob das medizinisch tatsächlich notwendig war.
Winterhoff bestreitet die Vorwürfe vehement. Auf seiner Homepage hat er ein Statement dazu veröffentlicht. „Das Ziel des Einsatzes von Pipamperon ist in unserer Praxis bewusst keine Sedierung“, schreibt er dort. Und: „Vor einer medikamentösen Behandlung erfolgt immer eine körperliche und neurologische Untersuchung, um diese Faktoren als Ursachen von Verhaltensstörungen auszuschließen.“ Diese Untersuchung überlasse er bereits seit fünf Jahren einem Kinderarzt. Das Jugendamt Sankt Augustin kündigte trotzdem die Zusammenarbeit mit dem Kinderpsychiater. Man sehe aufgrund der Berichterstattung „ernstzunehmende Hinweise auf eine fachlich nicht vertretbare, schadenverursachende Arbeitsweise“, so heißt es.
Auch von Fachkolleginnen und -kollegen kommt scharfe Kritik am „System Winterhoff“ – und das schließt ausdrücklich seine Gesellschaftsanalyse mit ein. „Die Vorwürfe gegen Dr. Winterhoff waren uns in Bonn und Umgebung schon lange bekannt. Die Schweigepflicht gegenüber Patientinnen und Patienten verbot uns Bonner Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, gegen Dr. Winterhoff vorzugehen“, so schreibt der ebenfalls in Bonn ansässige Psychologe und Psychotherapeut Dieter Adler im Newsletter des Deutschen Psychotherapeuten Netzwerks. „Was wir von ehemaligen Patientinnen und Patienten zu hören bekamen, zeigt für mich deutlich sadistische Züge auf, die ich auch in seinen Büchern wiederfinden kann. Kindes-Missbrauch findet nicht nur im sexuellen Bereich statt. Vielleicht wird der Fokus der Öffentlichkeit jetzt auch einmal auf die anderen Bereiche des Machtmissbrauchs gerichtet. Kinder und Jugendliche brauchen auch hier unseren Schutz.“
“Statt elterliche Verantwortung und Kompetenz zu fördern, forderte Winterhoff Drill und kasernenähnliche Zustände”
Warum war Winterhoff so erfolgreich? Seine Bücher verkaufen sich hervorragend, er selbst tingelte durch die Fernseh-Talkshows und hielt zahlreiche Vorträge, auch vor Lehrkräften und Erzieherinnen. Adler: „Zum einen hat er Eltern quasi die Erlaubnis gegeben, aus ihrer Ohnmacht und erzieherischen Lethargie heraus zu dürfen. Eltern dürfen nicht nur ‚auf den Tisch hauen‘, sie müssen es sogar. Dass er dabei gleichzeitig Kanäle zur Abfuhr elterlicher Frustrationswut gegeben hat, ist vielen nicht entgangen. Und sie haben es auch ‚genutzt‘. Dies wurde untermauert durch eine Ideologie, in der Kinder zu den Schuldigen der Erziehungsmisere gemacht wurden. Statt elterliche Verantwortung und Kompetenz zu fördern, forderte Winterhoff Drill und kasernenähnliche Zustände.“
Tatsächlich erfährt Winterhoff für seine Thesen breite Zustimmung – bis in die Politik hinein. „Die einseitige Bevorzugung von freien Unterrichtsmethoden in einigen Bundesländern muss beendet werden“, forderten die bildungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Landtagsfraktionen in einem Beschluss schon 2015 – nachdem Winterhoff vor ihnen referiert hatte. „Das ganz freie ‘Mach, was Du willst’ ist aus unserer Sicht eine Katastrophe“, sagte die rheinland-pfälzische CDU-Abgeordnete Bettina Dickes seinerzeit. Das Ziel müsse sein: „Der Lehrer bestimmt, was gemacht wird. Die fehlende Bildungsreife vieler junger Leute ist auch auf eine Fehlentwicklung in Schulen zurückzuführen.“
So eingängig Winterhoffs Thesen sind – empirisch gesichert sind sie keineswegs. Rolf Göppel, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Hochschule in Heidelberg, wies schon vor fünf Jahren darauf hin, dass die Forschungslage ein anderes Bild zeige, als Winterhoff postuliere, wie News4teachers berichtete.
Demnach haben 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychische Probleme – ein Wert, der (vor Corona, d. Red.) stabil sei. Dass Eltern nicht mehr über ihre Kinder bestimmen, sondern ihnen auch Mitspracherechte einräumen, sei gut so. Allerdings müsse das an der richtigen Stelle passieren: „Dabei darf es nicht um Fragen gehen wie: ‚Muss ich meinen Fahrradhelm anziehen oder nicht.‘“ Große Studien zeigten außerdem, dass Kinder, deren Meinung zu Hause gehört wird, sich eher als selbstwirksam empfinden. Dass sie also überzeugt davon sind, bestimmte Aufgaben erledigen und schwierige Dinge selbstständig bewältigen zu können. „Es gibt keinen Niedergang der Erziehungskompetenz auf breiter Front“, ist sich Göppel sicher.
Dass zudem die Probleme vielfältiger sind, als es die schlichte Analyse von Winterhoff vermuten lässt, lässt sich Aussagen entnehmen, die der langjährige Berliner Schulpsychologe Klaus Seifried in einem Interview mit der Zeitschrift „Grundschule“ bereits 2017 zu Protokoll gab. Angesprochen auf Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern erklärte er: „Das ist ein ganzes Spektrum. Einige leiden unter massiven Angstsymptomen, etwa durch Mobbingerfahrung. Sie trauen sich nicht, allein über den Schulhof zu gehen oder auch nur einen Satz im Unterricht zu sagen. Dann gibt es hoch aggressive Kinder, die andere in den Pausen schlagen und drangsalieren. Zum Teil mischt sich das: Ehemalige Opfer werden zu Mitläufern, die sich am Mobbing beteiligen. Viele haben erhebliche Lern- und Leistungsschwierigkeiten.“
Die Lern- und Verhaltensprobleme von Kindern aus wohlbehüteten, bildungsnahen Familien und von Kindern in sozialen Brennpunktschulen seien „völlig verschieden“, so Seifried. „Im letzteren Fall fehlt oft der Kontakt zur Schule, die Hilfe bei den Hausaufgaben, das Frühstück am Morgen oder das Interesse der Eltern für schulische Probleme des Kindes. Zu Hause wird kein Deutsch gesprochen. Sie kommen nicht zu Elternabenden. Viele Kinder gehen zu spät ins Bett, sind im Unterricht unruhig und unkonzentriert.“
Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern dagegen seien oft mit dem Erwartungsdruck der Eltern überfordert, so sagt der erfahrene Schulpsychologe. „Manche Eltern kümmern sich zu viel und es fällt ihnen schwer, ihr Kind loszulassen. Aber Kinder müssen altersentsprechend lernen, selbst Verantwortung für sich zu übernehmen. Andere Kinder sind es gewohnt, immer im Mittelpunkt zu stehen. Jeder Wunsch wird ihnen erfüllt. Sie müssen lernen, auf andere Kinder Rücksicht zu nehmen.“
“Er bezeichnet Kinder teilweise als Monster, spricht ihnen bis zum achten Lebensjahr eine eigene Persönlichkeitsentwicklung ab”
Angesichts dieser Befunde aus der Praxis wirkt die Gesellschaftsbeschreibung von Winterhoff arg eindimensional. Ist womöglich Ideologie im Spiel? Konkret auf die aktuelle Causa bezogen, sagt der Hannoveraner Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Dierssen gegenüber dem „Spiegel“: „Hinter Winterhoffs Vorgehen steht augenscheinlich ein ganz bestimmtes Menschenbild und der Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft, hin zu mehr autoritärem Denken im Umgang mit Kindern. Winterhoffs Bücher sind zu hart geschrieben, als wolle er damit nur glänzen: Er bezeichnet Kinder teilweise als Monster, spricht ihnen bis zum achten Lebensjahr eine eigene Persönlichkeitsentwicklung ab. Er stellt die Gefühle von Kindern infrage.“
Dierssen betont hingegen: „Ich lebe in einer ganz anderen Welt. In einer, in der Kinder noch immer wahnsinnige Ungerechtigkeiten erfahren. Zudem besteht der heutige therapeutische Konsens nicht mehr darin, in Kindern oder Eltern Schuldige zu suchen. Das führt zu Verhärtungen, nicht zu Lösungen.“ News4teachers
Immer mehr „Tyrannenkinder“: Warum viele Eltern bei der Erziehung versagen – eine Streitschrift
